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Leo&Ludwig. Dominique Anne Schuetz
Читать онлайн.Название Leo&Ludwig
Год выпуска 0
isbn 9783943941401
Автор произведения Dominique Anne Schuetz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Bitte … ick, ick brauche«, hauchte die junge Frau und fasste sich an den Bauch, »ick brauche ’ne Hebamme. Ick habe det Jefühl, es zerreißt mir.« Ihr Atem ging unregelmäßig, und regennasse Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn.
Die Schwester schaute sie mit einem warmen Lächeln an. »Ihr Name?«
»Luise. Luise Emilie Hartwich.«
Luise hatte einen Traum. Sie sah eine karge Landschaft. Ein Knabe, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, schwebte über den dunklen Erdschollen. Langsam kam er näher, doch seine Silhouette verschwamm beinahe im Nebel, der jetzt aus dem feuchten Erdreich aufstieg. Dann teilte er sich entzwei, und aus jeder Hälfte bildete sich ein neuer Knabe. Während der eine sanft lächelte, setzte der andere ein kaltes Grinsen auf.
Luise schreckte hoch und fröstelte, obwohl es in dieser Augustnacht warm war in der Schlafkammer unter dem Dach. Leise stieg sie aus dem Bett, in dem ihre drei Schwestern immer noch fest schliefen. Sie kleidete sich an, lautlos wie ein Gespenst, und flocht ihr Haar hastig zu einem Zopf. Vorsichtig zog sie ein großes Tuch unter dem Strohsack hervor. Eine ihrer Schwestern seufzte kurz auf, während ihre Brüder, die sich auf dem Schlaflager an der Wand gegenüber drängten, schnarchten. Selbst der Jüngste. Wenn er nicht wisse, wie man richtig schnarche, würde aus ihm nie ein richtiger Mann, hatten ihm die älteren Brüder prophezeit.
Auf Zehenspitzen suchte Luise ihre wenigen Kleidungsstücke zusammen, auch die Jacke, den Umhang und die Strümpfe für kalte Tage, nahm den Kamm, der kaum noch Zähne hatte, und das kleine Stück Seife, legte alles in das Tuch, band es zusammen und schlich aus dem Dachzimmer. In der Vorratskammer wickelte sie einen Laib Brot, etwas vom geräucherten Speck sowie ein paar Handvoll Dörrobst in einen Jutebeutel, erbärmlich wenig Proviant, um ihr Überleben für mehr als zwei oder drei Tage zu sichern.
Ohne Wissen ihrer Eltern hatte sie ein paar Mark zusammengespart. Wann immer sie sich vom Hof wegstehlen konnte, war sie hinübergegangen zu der wohlhabenden Witwe, die zurückgezogen auf ihrem Gut lebte. Luise las ihr oft aus Büchern vor, denn das Augenlicht der Witwe war nahe dem Erlöschen. Manchmal hatte ihr die gute Frau ein paar Pfennige in die Hand gedrückt, die das Mädchen unter einer losen Diele versteckte. Nun nahm sie die Barschaft hervor, schob sie in die Tasche ihres Kleides und verließ den Bauernhof ihrer Eltern, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Hinter dem Horizont wartete Berlin, die Stadt der Hoffnung.
Der Bauernhof der Hartwichs lag in der Provinz Brandenburg, in der Uckermark, ein Landkeil in Form eines spitzen Hexenhutes, der zwischen Mecklenburg und Pommern steckte und dessen Spitze das Stettiner Haff berührte. Eine dünn besiedelte Gegend mit Wäldern und Seen, mit Steppenrasen, Trockenheiden und Mooren. Schreiadler kreisten über der Ebene oder pirschten auf der Suche nach Fröschen durch die Feuchtgebiete, und Biber zersägten mit ihren Vorderzähnen so manchen Baum, um ihre Holzburgen in einen der zahlreichen Flüsse zu setzen. Luise kannte die Sibirische Glockenblume und das Federgras, die dunkelbraunen, zuweilen blauen Flusskrebse. Und sie hatte auch schon einmal den Blocksberg gesehen, diesen nicht einmal hundertfünfzig Meter hohen Hügel, der sich aus dem weiten Flachland erhob wie ein riesiges Muttermal. Als Kind glaubte sie, dass dort, wo Himmel und Ebene zusammenwuchsen, die Welt zu Ende sei.
Luises Vater war Bauer, ein Mann mit breiten Händen und schwerem Schritt. Johann Hartwich wusste mit dem Pflug umzugehen, mit den sandigen Böden und mit den Jahreszeiten, auf dem Feld war er zu Hause, in der Stube fühlte er sich eingeengt, sprach kaum ein Wort. Die Mutter, einst ein fröhliches, junges Mädchen, war durch die Härte des Lebens zu einer hageren, verbitterten Frau geworden. Ihre eigentliche Familie waren nunmehr die Heiligen, die Märtyrer und die Erzengel, die Cherubim, die etwas tiefer klassierten Seraphim und was sonst noch so alles im Himmel verkehrte. An den Abenden wurde stets aus der Bibel vorgelesen (was vor allem Luises Brüder ganz spannend fanden, denn da ging es nicht selten um Mord und Totschlag), und an den Sonntagen wurde in der kleinen, katholischen Kirche ausgiebig gebetet, bis sich die Knie taub anfühlten. Die Hartwichs waren eine der wenigen katholischen Familien im beinahe gänzlich protestantischen Norden, was sie zu eigentlichen Außenseitern machte.
Luise war die Zweitälteste, geboren an einem trüben Tag im Februar 1867, in jenem Jahr, als die Amerikaner dem russischen Zaren Alexander II. Alaska für lächerliche sieben Millionen Dollar abkauften, als Alfred Nobel das Dynamit patentieren ließ und Johann Strauß’ Walzer An der schönen blauen Donau uraufgeführt wurde. Doch von all dem konnte und wollte man in Luises Familie nichts wissen. Walzer war des Teufels, Dynamit unnützes Teufelszeug, und in Alaska wohnten nur ungläubige Teufel. Und so drehte man sich bei den Hartwichs nicht im Dreivierteltakt, sondern lediglich um die eigene Achse. Alltägliches wie Saatkartoffeln und Kartoffelkäfer, Pflug und Hacke, Winterfrost und Sommerglut bestimmten den Lauf der Dinge.
Luise musste früh zum Lebensunterhalt beitragen, in der Küche, manchmal auch auf dem Feld helfen und die jüngeren Geschwister versorgen. Daneben ging sie zur Schule, ging gern, war wissbegierig und fleißig. Um die sechzig Schüler zählte die Klasse. Wie viel genau es waren, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, denn immer wieder fehlten Kinder, weil sie bei der Ernte gebraucht wurden oder beim Vieh, und immer wieder starben Kinder an grässlichen Krankheiten, die das Land heimsuchten. Der Lehrer, ein knochendürrer Mann, seine Nase ein kleines Gebirge im Gesicht, sah auf einen aschgrauen Haufen von Schülern, die mehrheitlich holperig buchstabierten und mehrheitlich falsch rechneten. Rotznäsige Knaben mit Dreck in den Ohren, mit schiefen Zähnen und mit löchrigen Sohlen unter ihren Schuhen. Mädchen mit fleckigen Schleifen im Haar oder um ihre Zöpfe, in geflickten Schürzenkleidern und mit ausgeleierten Wollstrümpfen. Luise war gescheit, das fiel sogar dem Lehrer auf, was in diesem Dickicht von Kinderköpfen nicht selbstverständlich war. Nur dass sie Linkshänderin war, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Mit dem vierzehnten Lebensjahr war alles vorbei. Die überaus wichtigen Herren Politiker mit ihren bauschigen Schnurrbärten und in ihren schwarzen Totengräber-Anzügen schlugen den Mädchen die Türen zur weiteren Bildung zu.
Luises Mutter fand, es reiche, wenn ihre Tochter die Bibel lesen könne. Wenn die Zeit reif sei, würde sie einen Bauernburschen heiraten, einen katholischen natürlich, und im Haus den Rücken krumm machen und in der Kammer die Beine breit, um sich zu mehren, wie es in der Bibel heißt, und sie würde Gott loben und preisen und in seinem Namen sterben. Amen.
An Luise Hartwich gingen die Jahre vorbei, sie kam in die Pubertät, ohne dass sie darauf vorbereitet gewesen wäre, und wurde zur jungen Frau, ohne dass jemand Notiz davon genommen hätte. Nicht einmal sie selbst. Als sie sechzehn war, nahm sie ihr Vater mit auf die Wochenmärkte. Früh am Morgen, der Hahn schlief noch im Hühnergehege, wurde der altersschwache Ackergaul – ausgemergelt wie ein hungriger Wolf im sibirischen Winter und auf einem Auge blind – vor den Karren gespannt, dessen eisenbeschlagene Räder einen wüsten Lärm veranstalteten und seit langem nicht mehr rund liefen. Nur langsam, holpernd und scheppernd, ging es vorwärts, und es war ein Wunder, dass sie jedes Mal heil mit ihrer Ware am Ziel ankamen. Zum Glück war die Uckermark flach wie eine aufgefaltete Landkarte, sonst hätten Wagen und Gaul bald schlappgemacht.
Die Wochenmärkte waren unorganisierte Knäuel aus abgetakelten Fuhrwerken und improvisierten Verkaufsständen, Flechtware, Bottiche und Kisten türmten sich, das Federvieh gackerte und die Schindmähren schnaubten. Ein umtriebiges Völkchen versammelte sich dort, und als Krönung pries der Herr Kurpfuscher in seinem schmutzigen Kittel, mit dem fettigen Haar und dem schmierigen Gehabe, das weltbeste aller Wunderelixiere an, euphorisch, als wär’s die letzte Jungfrau auf Gottes Erden. Ein Allheilmittel, das allerdings nicht einmal gegen Wanzenbisse half.
Bei jedem Wetter stand Luise mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln am Marktstand ihres Vaters. Sie war zu einer Schönheit herangewachsen, was ihr