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bannten Paraden, Springbrunnen und ganze Berge auf ihre Glasplatten. Auch der Amerikaner Wilson A. Bentley war stets auf der Suche nach dem perfekten Sujet gewesen und hatte im Januar 1885 als Erster eine Schneeflocke fotografiert.

      Zille gehörte nicht zu diesen Motivjägern. Er brauchte nur im Schatten der Stadt spazierenzugehen, im Dickicht der Hinterhöfe wurde er stets fündig. Zille war Stunden unterwegs gewesen. Gegen Abend zog es ihn in den Nussbaum. Die Gaststube war gerammelt voll. Die Wirtin stand hinter dem Tresen wie jeden Abend, lamentierte und gab Anweisungen wie eine Dompteuse, die Ziegen und Schafen ein Kunststück beibringen wollte. Zille bestellte ein Schultheiss. In der Flasche.

      »Wo is de Luise?«, fragte er, als ihm Minna das Bier an den Tisch brachte.

      »Weg.«

      »Wat heeßt hier weg?«

      »Weg halt. Keenen Dunst, wo se jetzt is. Konnt nich länger arbeit’n mit em dicken Bauch.«

      Zille wollte etwas sagen, schüttelte aber dann nur den Kopf. Nein, nach Motiven musste man wirklich nie suchen. Sie waren überall.

      Er kam später nach Hause, als er wollte, doch er war nicht müde. Er ging in die Küche und setzte sich an den Tisch, der aus dem veritablen Chaos aufragte wie eine Insel aus einem tobenden Ozean. Er zog eines seiner Skizzenbücher aus der Truhe neben der Kochstelle und begann im schwachen Schein der Lampe zu zeichnen. Strich für Strich ließ er den Stift über den weißen Grund gleiten. Er zeichnete eine schwangere Frau, das Haar strähnig und die ausgelatschten Schuhe zwei Nummern zu groß. Das Fräulein starrte in ein Schaufenster, in dem sich die Auslagen in bestem Licht präsentierten. Wunderschöne Kleider, und noch wunderschönere Hüte, und allerwunderschönste Pelze, und erst die Schuhe. Wunderwunderschönste Schuhe mit Knopfleisten, von denen die arme Frau nur träumen konnte. Nach und nach vervollständigte sich das Bild. Zille war zufrieden. Etwas Farbe noch und der Text. Seine Zeichnungen hatten immer Text. Die Worte sprudelten aus dem Mund der Schwangeren, die ein angeregtes Gespräch mit der Schaufensterscheibe führte: »Da sajen se imma, Berlin is ’ne Weltstadt, in der du allet koofen kannst, wat de dir nur so vorstellen tust. Aber ick hab nu wirklich überall in de Auslajen von de Jeschäfte rinjeschaut. Nirjendwo verkoofen se ooch nur een Vater für meen Kind.«

      D I E G E B U R T

       Die Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1886

      Luise hatte lange in ihrem Bett gelegen, dem letzten Zufluchtsort, den ihr diese Stadt geboten hatte. Gegen Abend setzten die ersten Wehen ein, aber die Kontraktionen lagen noch weit auseinander. Ihre Mitbewohnerinnen rieten ihr, die Klinik früh genug aufzusuchen. Es sei gescheiter dort zu gebären als hier. Sie hätten noch nicht mal Wasser im Zimmer, nur draußen bei den Latrinen, und kalt sei es auch, und frische Tücher könne sie glatt vergessen. Es sei ein einziger Dreck hier, kein Ort für eine Geburt. Und erst der Platzmangel, und überhaupt sei keine von ihnen Hebamme.

      Es war schon nach zehn und hatte zu nieseln begonnen, als Luise das Hinterhaus verließ. Das feuchte Kopfsteinpflaster glänzte im Schein der Straßenlaternen wie riesige Fischschuppen. Sie lenkte ihre Schritte nicht in Richtung Entbindungsanstalt, sondern machte einen Umweg. Sie mochte Berlin in der Nacht, das Glitzern der Lichter. Heute waren es jedoch weniger die Schönheiten der Stadt, die sie in die falsche Richtung trieben. Es war die Angst vor dem, was kommen würde. Sie wollte es so lange hinausschieben wie nur möglich.

      Sie erreichte die Jannowitzbrücke, die mit ihren schmiedeeisernen Bogen die Spree überspannte. Trotz der späten Stunde strömte noch reichlich Verkehr von einem Ufer zum anderen. Luise ging in die Mitte der Brücke und starrte mit leerem Blick auf das Wasser, ein dunkler öliger Streifen, der sich im Schatten der Stützpfeiler verlor. Die Fußgänger nahmen sie nicht zur Kenntnis, nur ein Betrunkener wollte nach ihr grapschen, aber als er ihren gewölbten Bauch sah, ließ er von ihr ab. Krampfhaft klammerte sie sich an das Geländer, während ihr der Schmerz in immer kürzeren Abständen in den Unterleib stach. Wieder sah sie in die Fluten, aber dann wandte sie sich ab. Sie würde bald Mutter sein und diese Frucht ihrer einzigen Liebe nicht daran hindern, leben zu dürfen.

      Die Schmerzen begannen nun mit der Wucht von Wogen an- und abzuschwellen. Sie musste endlich in die Entbindungsanstalt, wollte sie nicht wie eine Hündin mitten auf der Straße gebären. Sie schleppte sich am Polizeipräsidium vorbei und an der Nikolaikirche, am Königlichen Schloss und am Zeughaus. Und wie sie sich mit letzter Kraft durch die Innenstadt schob, begann es immer heftiger zu regnen, und als sie endlich vor dem alten Kasten stand, erschien er ihr wie eine bedrohliche Klippe in der Brandung. Nur die Lichter beim Portal hatten etwas Warmes an sich, rettende Signale eines Leuchtturms im nächtlichen Sturm.

      Luise zog die Tür auf und betrat das ehemalige Pockenhaus. Ihre durchnässte Kleidung zeichnete eine Spur auf den glatten Boden. Die leeren Gänge verliefen sich in einem Dunst aus Düsternis. Nur hinter einem Schreibtisch saß im Lichtkegel eines Petroleumlämpchens eine Nachtschwester und machte eifrig Notizen. An der Wand hinter ihr hing ein zerzauster Kalender. Er zeigte das Jahr 1886. Doch es war nicht der neunte Juni, wie das Kalenderblatt behauptete, sondern bereits der zehnte, denn Mitternacht war schon seit über einer Stunde vorbei.

      Luise ging auf die Frau zu. »Bitte, helfen Se mir. Ick brauche«, sie stockte, »ick brauche ’ne Hebamme. Ick habe det Jefühl, es zerreißt mir.« Ihr Atem ging unregelmäßig, und feuchte Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn.

      Die Nachtschwester schaute sie mit einem warmen Lächeln an. »Ihr Name? Geburtsdatum? Zivilstand? Wohnadresse? Angehörige?« Sie notierte: Luise Emilie Hartwich, geboren am 23. Februar 1867, katholisch, ledig, wohnhaft in einer Schlafstube, Dresdener Straße 97, Eingang Hofseite, Berlin Mitte. Keine Angehörigen.

      »Und der Name des Kindsvaters?«, fragte sie weiter.

      Luise hielt kurz inne. Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf und brach zusammen.

      Die Nachtschwester rief nach der Hebamme, und die Frauen verbrachten die Schwangere in einen kahlen Raum mit einem Schragen, zwei Stühlen, einem Waschtisch, einer Stehlampe und einer Ablage mit medizinischem Gerät. Ein Kreuz hing an der Wand, aber im dämmrigen Licht war es kaum zu sehen. Jesus hielt sich im Hintergrund. Sie legten Luise, die wieder zu Bewusstsein gekommen war, auf das Krankenbett, und die erfahrene Hebamme tastete die Schwangere ab, um sich ein Bild über den Stand der Geburt zu verschaffen. Sie brauchte nicht lange, um zu merken, dass etwas nicht stimmte. Aufgeregt stürmte sie aus dem Zimmer und suchte den Arzt, während Luises Wehklagen durch die Gewölbe hallte.

      Beinahe vier Jahrhunderte nach Jakob Nufers erfolgreichem Eingriff war die moderne Medizin nun in der Lage, die Sectio caesarea so durchzuführen, dass auch die Mutter eine Überlebenschance hatte. Aber der junge Arzt hatte noch nie einen Kaiserschnitt gemacht, und er wusste nur zu gut, dass auch bei guten Chirurgen lediglich etwa die Hälfte der Mütter überlebte. In den frühen Morgenstunden setzte er das Skalpell an. Luise starb kurz danach. Und die Hebamme hielt etwas in den Händen, was sie noch nie zuvor in den Händen gehalten hatte: siamesische Zwillinge.

      ~ T e i l 2 ~

      W A I S E N

      P A P I E R E

       Formulare und Sensationen

      Die Preußen liebten Dokumente in jeglicher Form, schrieben fleißig Manifeste, Berichte, Verträge und Erlasse, Beschlüsse, Programme, Reden, Proklamationen, Verordnungen, Denkschriften, Ultimaten und Kriegserklärungen. Der Staat erstickte unter dem Haufen von Papier, kein Handeln ohne Formular, kein Denken ohne Vorgedrucktes. Jedes Detail wurde handschriftlich erfasst und in Listen eingetragen, schön unter- und nebeneinander. Selbst Kriege und Schlachten verkamen zu Tabellen und Übersichten: die Lebenden,

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