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trafen, war nur karg möbliert. Aus der Mitte erhob sich ein Tisch, speckig glänzende Holzstühle standen etwas verloren da, und in einer Ecke verstaubte ein Sessel, dessen Polster von einem ausgelaugten Grün war. Auf der Tapete hatte die Feuchtigkeit ihre Spuren gezogen und zwei Rundbogenfenster öffneten den Blick auf eine parkähnliche Anlage, hinter der die scharfkantigen Umrisse der Artillerie-Kaserne am Kupfergraben in den Himmel ragten. Die Kaserne, auf moorigen Untergrund gebaut, war nahe dem Vermodern und würde wohl, ebenso wie diese Entbindungsanstalt, bald einem neuen Gebäude weichen müssen.

      Die Tür ging auf und herein kam eine junge Ordensschwester mit prallen Bäckchen und Schalk in den Mundwinkeln. Sie war eine aufrechte Frohnatur, aber die Ordensregeln hatten sie unter eine viel zu enge Haube gezwängt, ähnlich einem Vogel, der in einem zu kleinen Käfig gefangen war. Sie brachte die inzwischen knapp drei Monate alten Zwillinge und legte sie auf ein dickes weißes Kissen, das in der Mitte des Tisches lag wie ein letztes Häufchen Schnee am Waldesrand. Sie entfernte Kleider und Windeln und zog sich in eine Ecke zurück, um sich möglichst still zu verhalten, was ihr sichtlich schwerfiel.

      Da lagen sie nun, diese ganz besonderen Kinder. Ein schmaler Körper, nicht anders als der eines normalen Säuglings, nur gegen oben wurde er langsam breiter. Aus den Schultern wuchsen zwei Hälse mit je einem Kopf, und an den Seiten hatte jeder Knabe einen Arm. Wenn man die Zwillinge ansah, dann waren sie auf den ersten Blick mehr als außergewöhnlich, aber auf den zweiten Blick empfand man sie weder als hässlich noch als abstoßend, ihre Körper flossen harmonisch ineinander über. Ihre Unvollkommenheit hatte etwas Perfektes.

      Die Ärzte traten näher und beugten sich über die beiden, so dass die Ordensfrau, welche die Männer aus der Distanz beobachtete, an Entomologen denken musste, die sich über das seltene Exemplar eines Käfers krümmten.

      »Aufsehen erregende Geschöpfe, fürwahr«, begann der leitende Arzt. »Wir denken, sie haben sich, obwohl Frühgeburten, erstaunlich gut entwickelt. Ihre Reflexe scheinen normal. Aber was uns interessiert, sind die inneren Organe, Herr Kollege. Da tappen wir ziemlich im Dunkeln.«

      Sie tappten wirklich im Dunkeln, die Herren Mediziner. Selbst Dr. Wilhelm Conrad Röntgen, ordentlicher Professor für Physik an der Universität von Gießen, machte da keine Ausnahme. Seine geniale Entdeckung der X-Strahlen lag noch in weiter Ferne. Und so blieb den Doktoren das Innere des lebenden Menschen vorerst verborgen. Sie waren oft nicht viel mehr als Kartenleser in stockfinsterer Nacht, Schlafwandler, Voodoo-Priester, die aus ein paar hingeworfenen Hühnerknochen Diagnosen und Prognosen lasen.

      »Sicher sind wir nur, dass sie zwei Herzen haben.«

      »Hmm, hören wir uns das doch einmal an«, sagte der Professor und legte das Stethoskop auf den Rumpf der Kleinen, was sie kaum in ihrem Schlaf zu stören schien. »Richtig, es sind zwei. Faszinierend! Absolut fas-zi-nierend! Ein Körper mit zwei Herzen, die pumpen und schlagen, als wäre es die normalste Sache der Welt. Wenn man genau hinhört, kann man feststellen, dass sie nicht gleichzeitig schlagen. Wie zwei Uhren, die verschieden gehen.« Der Professor war ergriffen von dem, was er hörte. Er hatte schon so vieles gesehen, aber meist halt nur in toter Form, und wenn sich einer dieser Irrtümer der Natur auch noch bewegte, wenn sich der Brustkorb hob und senkte, wenn alles funktionstüchtig war, dann übermannte ihn dies immer wieder aufs Neue. Rudolf Virchow fasste sich und sah auf die beiden Männer. »Sie fragen mich, was mit den anderen Organen ist?«

      Der Direktor und der Arzt nickten erwartungsvoll.

      »Es ist zu schade, dass wir nicht in das Innere sehen können. Es wäre mit Sicherheit bemerkenswert. Und so kann auch ich nur aus Erfahrung sprechen. Doch eines vorweg: Siamesische Zwillinge sind nicht gleich siamesische Zwillinge. Die Unterschiede sind gravierend, es gibt alle möglichen Varianten, die Natur ist da ungeheuer einfallsreich. Wenn ich diese beiden hier betrachte« – der Professor zeigte auf die Brust der Neugeborenen –, »so haben sie wahrscheinlich drei Lungenflügel, und etwa ab hier dürfte sich die Wirbelsäule teilen. Dies bedeutet, jedes der Kinder hat nur über eine Seite die Kontrolle. Es bleibt offen, inwiefern sie sich abstimmen können, inwiefern eine Koordination der linken und der rechten Hälfte erfolgen kann. Aber wenn ich mir die Knaben so anschaue, dann denke ich, dass sie sich später normal bewegen können. Nun zu den Blutbahnen. Es ist anzunehmen, dass sie diese oder jene teilen, welche es genau sind, vermag ich jedoch nicht zu sagen. Das Innere solcher Zwillinge gleicht manchmal einem Nähkästchen, wenn ich das so sagen darf. Gewisse Dinge sind an ihrem Platz, die meisten Fäden schön aufgespult, aber dann ist da plötzlich ein Knäuel, das durcheinandergeraten ist, und ein paar Knöpfe sind im falschen Fach.« Der Professor machte eine Pause, um die Gläser seiner Brille mit einem blütenweißen, sorgsam gebügelten und gestärkten Taschentuch zu putzen. Die Herren sagten kein Wort, warteten geduldig.

      »Ich schätze«, fuhr er fort, »dass sie nur eine Leber und wahrscheinlich zwei Nieren haben, einen Magen und eine Bauchspeicheldrüse, einen Verdauungstrakt, eine Blase, eine Harnröhre und hier die Geschlechtsteile. Aus medizinischer Sicht spricht nichts dagegen, dass sie irgendwann sogar Kinder zeugen könnten. Aber vieles bleibt vorerst Hypothese.«

      Die Schwester stand mit der Miene einer schüchternen Bittstellerin in ihrer Ecke. Während sie den Ausführungen des Professors lauschte, gingen ihr abstruse Bilder durch den Kopf. Kinder zeugen? So etwas Verrücktes. Welcher wäre dann der Vater? Immerzu fehlten die Väter. Gerade hier, in dieser Entbindungsanstalt. Doch zwei Väter auf einmal, das ging nun doch zu weit. Wann hat sich der Schöpfer nur so einen Unsinn ausgedacht? Oder war es doch der Leibhaftige, der hier dem Allmächtigen ganz tüchtig ins Handwerk gepfuscht hat?

      Dr. Virchow legte das Stethoskop zur Seite und wandte sich an den Direktor. »Wie ich höre, sind die beiden elternlos.«

      »Genau genommen sind sie Halbwaisen«, sagte dieser. Er hatte eine seiner Stellung entsprechende Statur, überragte das gesamte Personal. »Die Mutter ist während der Geburt gestorben, der Vater ist unbekannt. Da die junge Frau keine weiteren Verwandten angegeben hat und die üblichen Nachforschungen nichts ergeben haben, werden die Kinder wohl in ein Heim überstellt.«

      Der Professor sah über die Brillengläser hinweg auf den Direktor. »Das ist es also, was sie zu erwarten haben. Ein doppelt schlechter Start in ein eh schon schwieriges Leben.«

      Der Leiter der Klinik wollte antworten, aber da räusperte sich im Hintergrund die Ordensschwester. Mit zerknitterter Stimme sagte sie: »In dieser Klinik haben fast alle einen schlechten Start, Herr Professor. Für die meisten beginnt hier mit dem ersten Schrei die Endstation.«

      Die Ärzte schauten sie entgeistert an. Dass sie sich in diese Runde einmischte und obendrein noch mit einer solchen Aussage, war schon allerhand. Sie räusperte sich nochmals und sagte leise »’tschuldigung«, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden.

      Der Professor nickte abwesend, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Säuglinge. »Lassen Sie mich fortfahren. Der Rumpf sieht normal aus: zwei Arme und zwei Beine, keine Deformationen. Auch die Köpfe sind wohlgeformt. Besehen wir uns die Zwillinge als Ganzes, ist man versucht, sie als ein Kind mit zwei Köpfen zu bezeichnen, was natürlich falsch ist. Es sind Zwillinge, deren Entwicklung nur bis zur Schulter regelrecht abgeschlossen ist.«

      »Sie meinen damit, dass das, was wir als abartig empfinden, also die beiden Köpfe, normal sind, während das, was wir als normal empfinden, nämlich der Körper, die eigentliche Missbildung darstellt?«, fragte der leitende Arzt.

      »Genau so ist es. Die meisten denken, siamesische Zwillinge seien zusammengewachsen. Dabei ist es gerade umgekehrt, sie sind nicht auseinandergewachsen, die Teilung in zwei Individuen ist nur ungenügend vollzogen worden. Oft machen sich die Leute von solchen Doppelmissgeburten ein falsches Bild, erwarten etwas völlig Abartiges. In den meisten Fällen ist es ja auch so, dass sie wegen massiver Deformationen nicht oder bestenfalls ein paar Jahre überleben. Oder sie sind an so ungünstigen Stellen verbunden – etwa im Bereich des Gehirns –, so dass sie nur liegen können und gezwungen sind, ein unerträgliches Dasein zu fristen. Diese beiden hingegen könnten, wie ich das sehe, ein normales Leben führen, sieht man einmal von ihrer verwirrenden äußeren Erscheinung ab.«

      Während er das sagte, begann einer der Säuglinge laut zu

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