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griff, der ihm ganz gemein auf den Adamsapfel drückte, beobachtete der kleine Rudolf die seltsamen Bewegungen eines Regenwurms. Der Achtjährige konnte noch nicht ahnen, dass auch er schon bald im Eilzugstempo vom ländlichen Pommern ins großstädtische Berlin gelangen und dort für einiges Aufsehen sorgen sollte. Noch durchstreifte er die Gegend auf der Suche nach Käfern, Schneckenhäusern, Steinen und anderem Sammlergut. Auf einer dieser längeren Erkundungsreisen, die an Feldern und schattigen Hainen, am Buchholzsee und an Schloss Falkenberg vorbeiführte, entdeckte er auf dem harten Boden unter einer mächtigen Buche einen toten Jungvogel. Er drehte den Kadaver mit einem Stöckchen auf alle Seiten und bemerkte eine Missbildung. Der Vogel besaß zwei normale Flügel, aber aus dem Rücken des Tieres ragte ein drittes, flügelartiges Gebilde. Das war bemerkenswert, und höchst absonderliche Fragen spukten durch Rudolfs Kopf. Er kratzte sich an der Stirn und schaute hoch ins Geäst. In einer Astgabel sah er das Nest und hörte nun auch das leise Piepsen der Brut. Er verzog das Gesicht zu einer schiefen Grimasse und dachte nach. Konnte es sein, dass die gefiederten Eltern und Geschwister den missgestalteten Vogel nicht mehr bei sich haben wollten und ihn – schwupp – über den Nestrand hinaus ins Jenseits befördert hatten? Die Natur ist schrecklich grausam, aber auch schrecklich interessant, befand er.

      Rudolf nahm den toten Vogel auf, trug ihn in den Garten hinter dem Haus, wo er mit seinen Eltern wohnte, und begrub ihn. Etwa ein Jahr später, als er ein Hühnersuppenbein vor sich auf dem Teller liegen sah, dachte er, dass er doch einmal nachschauen könnte, was von dem wunderlichen Vogel übrig geblieben war. Er ging also zu dem markierten Platz bei den Holunderbüschen, wo ein Stein lag, in den er Komischer Vogel eingekratzt hatte. Er scharrte mit bloßen Fingern und hob dann vorsichtig die knöchernen Überreste heraus, entfernte den gröbsten Dreck und wusch am Brunnen die letzten Erdklümpchen weg. Er drehte das leicht lädierte Skelett fasziniert auf alle Seiten, schaute hindurch, drehte es wieder und wieder. Dann legte er es in eine Schachtel, die er mit einem Stück alten Tuches ausgepolstert hatte, und schob seinen Schatz unter sein Bett. Ab und zu holte er den Karton aus dem Versteck, stellte ihn auf seine Knie und hob den Deckel, nur um das sonderbare Gerippe etwas anzugucken und sich wiederholt Gedanken darüber zu machen, weshalb gewisse Dinge auf der Welt so waren und andere eben anders.

      Rudolfs Geburtsort Schivelbein war ein Kaff in Pommern, das erst neunzehn Jahre nach dem ungewöhnlichen Vogelfund durch eine Provinzchaussee Anschluss an die Welt fand. Nichtsdestotrotz gab es in Schivelbein einen Stadtchirurgus, einen Papierfabrikanten, einen Postkommissarius, einen Senator, einen Kriminalinspektor und sogar einen Tanzlehrer. Auch sonst unterschied sich der Ort nicht von anderen, es wurde hauptsächlich geboren und gestorben, und Rudolf interessierte sich brennend für das Leben und das Sterben, schaute den Bauern beim Schlachten zu und den Hennen beim Eierlegen, studierte, wie der Weizen wuchs und wie Pilze totes Holz zerfraßen. Dazwischen besuchte er die Stadtschule, und man nahm an, er würde, wie die meisten Kinder auch, Tischler, Schuhmacher oder Färber werden oder vielleicht sogar den Beruf des Steuerbeamten oder des Kaufmannes erlernen. Doch Rudolf konnte weder Holz noch Leder, weder buntem Tuch noch trockenen Zahlen etwas abgewinnen. Weitaus mehr Gefallen fand er an toten Vögeln.

      Seine Karriere begann vielversprechend. Rudolf – mit vollem Namen Rudolf Ludwig Karl Virchow – absolvierte ein Medizinstudium an der Pépinière in Berlin, wo er während des Praktikums im Leichenhaus der Charité seine Vorliebe für die Pathologie erkannte. Sein Weg wäre schnurgerade verlaufen, hätte der Doktor der Medizin nicht dieses ausgeprägte soziale Gewissen gehabt. 1848, er war gerade einmal sechsundzwanzig und beseelt von einer gesünderen und gerechteren Welt, da schickte ihn sein Arbeitgeber, die Preußische Regierung, nach Oberschlesien, um die Fleckfieberepidemie zu untersuchen. In einem hundertseitigen Bericht machte Virchow die schlechten Lebensumstände und den tiefen Bildungsstand des Volkes für den Ausbruch derartiger Seuchen verantwortlich. Ein Bericht, der den Behörden überhaupt nicht gefiel. Viel lieber wäre ihnen gewesen, der Arzt hätte einen anderen Schuldigen gefunden als die Armut. Angeborene Dummheit zum Beispiel oder Ungläubigkeit oder Inzest oder eine allgemeine Neigung zu Krankheiten, irgendetwas, das sich im Innern der Menschen gegen das Gesundsein sträubte – die Leber, der Darm, die Galle. Herrgott noch mal, es gab doch tausend Gründe! Aber nein, Herr Doktor Virchow musste zu dieser abstrusen Schlussfolgerung kommen. Zu allem Übel beteiligte sich der junge Wilde auch noch an der Märzrevolution, baute Barrikaden, schwenkte Fahnen, forderte demokratische Reformen und gab eine sozialpolitische Wochenschrift heraus. Das alles war dem Ministerium zu viel, und der Revolutionär mit dem Doktortitel wurde entlassen. Allerdings war dem Ministerium eine gewisse Wankelmütigkeit nicht abzusprechen, ein paar Jahre später holte man den Doktor zurück und berief ihn als Professor für Pathologie an die Berliner Universität.

      In jenen Tagen war die Medizin kaum über das Mittelalter hinausgekommen. Typhuskranke, Wahnsinnige, Stotterer und Liebeskranke wurden nicht viel anders behandelt als Menschen mit Hühneraugen oder solche, die an Knochenfraß oder Unpässlichkeit litten. Die Schuld schob man gewöhnlich den Säften zu, dem Blut, der Galle, der Schwarzgalle und dem Schleim, und die Kranken wurden fröhlich zur Ader gelassen, bis sie blutleer waren wie die unglückseligen Opfer von Vampiren. Zum Glück für die geplagte Menschheit entdeckte Professor Virchow die Zelle und schickte die altertümliche Säftetheorie ins Reich der Kurpfuscher. Und ganz nebenbei wurde er dadurch zu einem berühmten Mann.

      Doch der Professor bewegte auch als Politiker einiges. Zwar schwenkte er keine Fahnen mehr, aber er war immer noch enthusiastisch genug, um sich in einer Landtagssitzung mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck auf ein heftiges Wortgefecht einzulassen, worauf ihn dieser prompt zum Duell aufforderte. Virchow meinte, dass Waffen zur Lösung politischer Fragen nicht geeignet seien, was den impulsiven Machtmenschen Bismarck nicht im Mindesten zu besänftigen vermochte. Da musste schon der Kriegsminister persönlich vermitteln, damit der Herausforderer einem Waffenstillstand zustimmte.

      Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem für einen Lausebengel doch ziemlich spektakulären Fund – das Vogelgerippe war allerdings längst in die Brüche gegangen – schob der inzwischen Vierundsechzigjährige mit einem versonnenen Lächeln einen sorgfältig beschrifteten Totenkopf in einen der zahlreichen Schaukästen in seinem Cabinet. Wie bereits früher war Rudolf Virchow immer noch ein begeisterter Sammler. An einem Sammler an sich wäre nichts auszusetzen gewesen – es gab viele Menschen, die dieser Leidenschaft frönten –, aber die Neigung des Professors war schon etwas eigenwillig, faszinierten ihn doch vor allem die Irrtümer, Fehler und Kapriolen der Natur. Seine Welt war bevölkert von Missgeburten und Missgestalteten, von Riesen und Zwergen, von Janusköpfen, Kopflosen und Mikrozephalen, von geschwänzten Menschenkindern, Wasserköpfen und siamesischen Zwillingen. Er war ein Bewahrer des Unregelmäßigen und Launenhaften – zwölf Finger, fehlende Arme und verdrehte Beine, gekrümmte Rümpfe, halbe Organe, doppelte Gesichter und gespaltene Zungen, schiefe Skelette, kleine Hirne und große Köpfe weckten seinen Forschergeist. Das Gewöhnliche und Gesunde erschien dem Professor etwas langweilig.

      Rudolf Virchows pathologisch-anatomische Sammlung hatte sich mit den Jahren zu einer monumentalen Geisterbahn entwickelt, in der sich die abartigsten Fehlgriffe der Natur in langen, dunklen Gängen aneinanderreihten. Hinter Vitrinen und in Glasbehältern, verstaut in irdenen Krügen und tönernen Urnen, konserviert in Spiritus und Weingeist und aufgespießt an metallenen Ständern präsentierte er seine Sammlerstücke, lauter Ikonen eines wahnsinnigen Schöpfers. Dr. Frankenstein wäre erbleicht, hätte man ihm diesen weltweit einzigartigen Bestand an Abnormalem vorgeführt.

      Alles, was Rudolf Virchow sammelte, war mausetot. Doch er hatte absolut nichts gegen das Leben. Er beschäftigte sich mit dem Tod, um dem Leben näherzukommen.

      D I E U N T E R S U C H U N G

       Viele Fragen und wenige Antworten

      An einem warmen Morgen Ende August fanden sich der Direktor der Entbindungsklinik, der leitende Arzt und Professor Virchow, der mehr über siamesische Zwillinge wusste als sonst ein Arzt im Deutschen Reich, in einem Untersuchungszimmer der Entbindungsanstalt ein. Der Professor hatte sofort sein Einverständnis gegeben, sich die Hartwich-Zwillinge anzusehen. Solche Doppelmissgeburten waren derart selten,

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