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unter den riesigen Bergen von Papier auch so etwas wie eine neue Vormundschaftsverordnung hervor. Allerdings war sie kein Meisterwerk, bewirkte nicht mehr, als dass mit den Mündeln und Waisen weiterhin nach Gutdünken verfahren werden konnte. Man schob sie von da nach dort, ebenso wie das viele Papier auf den preußischen Schreibtischen. Die Waisenräte hatten oft nicht die geringste Ahnung von ihren Aufgaben und Pflichten, und da sie ehrenamtlich tätig waren und das Amt auch dann annehmen mussten, wenn sie es gar nicht haben wollten – insofern bestand eine Parallele zwischen dem Amt und den Kindern, die auch niemand haben wollte –, hielt sich ihr Enthusiasmus in Grenzen. Sie waren Räte, die oft nur ratlos waren.

      Und nun lag auch noch der Fall Hartwich vor ihnen. Diese siamesischen Zwillinge waren ein derartiges Novum, dass es noch nicht einmal ein Formular dafür gab. Die Herren waren sich denn auch höchst uneinig, ob die Brüder nur körperlich oder auch geistig behindert seien, ob sie als eine oder als zwei Personen zu behandeln seien, ob sie eine oder zwei Seelen hätten, ob man sie taufen dürfe, ob sie überhaupt Menschen seien. Hinzu kam noch ein Aspekt, der sich erschwerend auf ein rasches und entschlossenes Handeln auswirkte: Die Zwillinge waren eine Sensation.

      Nach der Geburt ließ der Klinikdirektor die Neugeborenen, deren gesundheitlicher Zustand noch nicht stabil war, in ein separates Zimmer bringen, wo sie unbehelligt gepflegt werden konnten. Denn kaum hatte die Geburt dieser höchst seltenen Zwillinge die Runde gemacht, marschierte auch schon eine muntere Reisegesellschaft vor dem Säuglingszimmer auf. Das gesamte Klinikpersonal stand da, die Aufwartefrauen und die Wäscherinnen, die Küchenmannschaft und die Bürogehilfen. Und selbst der Kohlen- und Eisstangenhändler, der Postbote und zahllose Lieferanten baten darum, een Ooge uff de Missjeburt werfen zu dürfen.

      Gleichzeitig tauchten die ersten Reporter vom Berliner Tageblatt, von der Berliner Volkszeitung, von der Vossischen und all den anderen Blättern mit ihren Notizblöcken vor den Toren der Entbindungsanstalt auf. Doch auch für die Presse blieb die Tür zu, und das Feld für Spekulationen öffnete sich. Gerüchte über ungeheuerlich missgestaltete Knaben drangen durch die zahlreichen Ritzen der baufälligen Klinik in die informationshungrige Stadt, und die ersten Schlagzeilen dröhnten von den Titelblättern.

      SCHOCK IN DER ENTBINDUNGSANSTALT!

      UNGEHEUERLICHE ZWILLINGE

      IN BERLIN GEBOREN!

      MONSTROSITÄT ERBLICKT LICHT DER WELT!

      Die Artikel glichen mehr Schauermärchen denn seriösen Meldungen. Gerade weil bis dahin keiner der Reporter die Zwillinge gesehen hatte, waren die Zeitungsspalten mit absurden und spektakulären Hypothesen gefüllt, was zu einer Welle aus Klatsch und Gewäsch führte, welche die Boulevards und Hinterhöfe überflutete. Die verwachsenen Brüder spukten durch die Köpfe der sonst eher nüchternen Preußen, und die Mutmaßungen über ihr Aussehen nahmen zuweilen groteske Formen an. Drei Beine und fünf Arme, ein Gesicht mit sieben Ohren, anderthalb Köpfe auf zweieinhalb Rümpfen. Die Preußen liebten Zahlen, und wenn ihre Erfindungsgabe angeregt wurde, dann lag ihnen die Mathematik am nächsten. Manche gingen einen Schritt weiter, stellten sich gar eine Mischung aus Mensch und Tier vor, konstruierten Fabelwesen mit Schwänzen und Höckern oder ließen Pfoten aus dem Bauch wachsen und Klauen aus dem Gesicht. Ganz allgemein herrschte tiefe Uneinigkeit, wie die Zwillinge aussahen.

      Natürlich lasen auch die zuständigen Waisenräte Zeitung und jammerten, weshalb gerade ihnen so was passieren musste, sie hätten es doch schon schwer genug und diese blöde Sache habe ihnen gerade noch gefehlt. Also entschlossen sie sich zunächst zur Untätigkeit. Abwarten und Kaffee trinken und nochmals nachsehen, ob es nicht doch irgendein geeignetes Formular oder eine Weisung für einen solchen Fall gäbe. Aber, so viel wussten sie jetzt schon: Zum gegebenen Zeitpunkt würden die Zwillinge wohl dort hinkommen, wo man alles hinbrachte, das nirgendwo sonst Platz fand: in die Rummelsburg.

      In jenen Tagen, als die Säuglinge im Blätterwald für Aufregung sorgten, protzte eine weitere Schlagzeile auf den Titelseiten: Ludwig II. von Bayern tot!Ebenso wie die Zwillinge mobilisierte der für seine Extravaganz bekannte Bayernkönig, der zusammen mit seinem Psychiater im Starnberger See tot aufgefunden worden war, die Phantasie der Deutschen. Dieser verrückte König, der schon zu Lebzeiten eine Legende war, dieser hoffnungslose Romantiker und schräge Verschwender, der einen Schriftsteller in die Welt hinausgeschickt hatte, um ein neues Königreich für ihn zu suchen, eine Insel vielleicht, wo er nicht mehr nur Schattenkönig sein würde, dieser verrückte König hatte nun auch noch einen bühnengerechten Abgang geliefert. Obwohl sich seine Hinterlassenschaft auf Stapel schwärmerischer Gedichte und flammender Liebesbriefe, ein paar Märchenschlösser und einen Haufen Schulden beschränkte, erschien die Allgemeine Zeitung nach dem königlichen Desaster während mehrerer Tage mit schwarzem Trauerrand, und auch die preußischen Blätter berichteten ausführlich über Leben und Sterben des bayerischen Monarchen, aber hier verzichtete man auf den salbungsvollen Trauerflor.

      Etwa zur gleichen Zeit stand der siebenundzwanzigjährige Hohenzoller Wilhelm II. nicht in preußischer Uniform, sondern in einem Schottenkostüm vor dem Spiegel. Der Preußenprinz liebte Uniformen und Kostüme, gleichgültig, welche Nationalität sie hatten, Hauptsache, sie waren nicht zu knapp mit Goldknöpfen, Metallborten, Quasten und Kordeln ausstaffiert. Etwas später kleidete er sich wieder in preußisches Tuch, zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, über ihm tobte die Versammlung der olympischen Götter, eine heroische Deckenmalerei des Künstlers Augustin Terwesten. Wilhelm setzte sich an seinen Schreibtisch und blätterte in der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staatsund Gelehrten Sachen, im Volk unter dem Begriff Vossische Zeitung bekannt. Als er von der Doppelmissgeburt las, errötete er, wurde er doch an seine eigene körperliche Deformation erinnert, die ihm eine Kindheit voller Qualen beschert hatte. Nicht Zinnsoldaten und Schaukelpferd hatten seine jungen Jahre geprägt, sondern Operationen, Fixierungsgestelle, Streckmaschinen und Ekel erregende Bäder. An ihm war gezerrt und gezogen worden, um den missratenen Körper in eine kaiserwürdige Form zu bringen. Nichts hatte geholfen, sein linker Arm blieb fünfzehn Zentimeter kürzer und teilweise gelähmt, weshalb er auch mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hatte und unter Schmerzen am linken Ohr litt.

      Auch der Sohn des Industriellen war in jenen Junitagen aktiv gewesen. Am Samstag hatte er sich mit Freunden in den Cafés der Friedrichstraße herumgetrieben, viel Unsinn geredet und allein durch sein Aussehen bei den Fräuleins Herzklopfen verursacht. Später dann waren sie auf der Galopprennbahn Hoppegarten aufgetaucht, um das Geld ihrer Väter zu verwetten und auch größere Verluste mit einem Schulterzucken zu quittieren. Gegen Abend erwartete den Millionärssohn ein Viergang-Menü und danach wollte er sich mit ein paar Kameraden in einem Varieté treffen, etwas Sekt trinken und vielleicht mit einer Tänzerin anbändeln. Da er den Dienst als Einjährig-Freiwilliger bereits hinter sich hatte und nicht zwei oder drei Jahre preußischen Drill ertragen musste wie all die anderen armen Teufel, bestanden seine Tage aus einer einzigen Aneinanderreihung von Vergnügungen. Vor dem Gang ins Pomadentheater zog sich der junge Mann für eine halbe Stunde ins Herrenzimmer des väterlichen Anwesens zurück. Die Fenster waren weit geöffnet, und der Duft der blühenden Lindenbäume schwebte im Raum. Er dachte an Luise, schüttelte die Erinnerungen aber sofort wieder ab und sah die Zeitungen durch. Als er die Meldung über die Missgeburt las, dachte er, was doch diese Unterschichten bloß für Kreaturen hervorbringen würden.

      König Ludwig II. von Bayern hatten unter Verschwendungssucht, Realitätsverlust und Depressionen gelitten, den zukünftigen preußischen Kaiser quälte seine Missbildung, und der Sohn des Industriellen war nichts weiter als ein Windhund. Es war also beileibe nicht so, dass nur die Zwillinge unvollkommen waren.

      D E R S A M M L E R

       Ein toter Vogel und eine steile Karriere

      Einige Jahrzehnte vor der Geburt der Zwillinge, nämlich 1829, hielt ein höherer Beamter von imposanter Körperfülle vor einer Schar geladener Gäste eine flammende Rede. Er lobte den Fortschritt, betonte die Wichtigkeit der Post und ihrer Aufgaben und übergab eine weitere Errungenschaft der Neuzeit ihrer Bestimmung: die tägliche Schnellpostverbindung zwischen dem pommerschen

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