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das Herz rebelliert gegen meinen Lebenshunger.«62

      Seinen »Lebenshunger« kann Gründgens in Hamburg zweifellos stillen. Hatten ihn in Kiel seine »antiprovinzielle Erscheinung und seine exzentrische Individualität […] in dieser bürgerlichen Stadt zu einem umstrittenen Sonderfall«1 gemacht, wie Hans Söhnker rückblickend meinen wird, so bietet Hamburg mit über einer Million Einwohnern ein ganz anderes Umfeld. Es ist in den 20er Jahren ein Mittelpunkt moderner Kunst, nicht mit Berlin vergleichbar, aber alles andere als provinziell, und hat als Hafenstadt internationales Flair. »Im chinesischen Restaurant sangen sie beim Tanzen, die ganze Belegschaft, einstimmig und brausend – eine kleine Blonde hatte eine Kehle aus Blech – es klang wie aus einer Kindertrompete. Südamerikaner tanzten da und Siamesen und Neger. Die lächelten, wenn die kleinen Mädchen kreischten. Ich suchte, ob die Somali von Hagenbeck Vertreter entsandt hätten – aber so schön war hier niemand«2, heißt es in einem Feuilleton von Peter Panter alias Kurt Tucholsky. Und der englische Schriftsteller Stephen Spender beschreibt die Atmosphäre so: »Flache Häuser, Expressionismus, atonale Musik, Schwulenkneipen, Nacktkultur […]. Das Mondäne überdeckte alles. Es war leicht, modern zu sein. Man brauchte sich nur auszuziehen.«3

      Hier stört sich kaum jemand daran, wenn ein junger Schauspieler wie Gründgens sein Bohemeleben exaltiert zur Schau stellt. Er trägt am liebsten einen langen, schon etwas schäbigen Ledermantel, im Gesicht ein silbernes Monokel, mitunter auch derer zwei – gleich ein halbes Dutzend besitzt er davon. So rast er auf dem Sozius von Paul Kemps Motorrad durch die Stadt, und so frequentiert er nicht nur die »HaKa« genannte Theaterkneipe der Kammerspiele, den bevorzugten Intellektuellen- und Künstlertreffpunkt der Stadt – vergleichbar dem Café du Dôme in Paris oder dem Romanischen Café in Berlin –, wo viele, unterhalten vom Klavierspiel des jungen Peter Kreuder und den Chansons, die Gründgens gelegentlich darbietet, am liebsten die günstigen Bratkartoffeln mit Senf essen und trotzdem anschreiben lassen müssen. Er verkehrt auch in den einschlägigen Hafenkneipen und Nachtlokalen St. Paulis, im Ballhaus Alkazar in der Reeperbahn 110 etwa, einem der großen Varietés auf der Meile, in dem auch die Nackttänzerin Anita Berber auftritt, oder in der Scala am Schulterblatt, in der die ebenso skandalträchtige Celly de Rheydt (alias Cäcilie Schmidt aus Rheydt bei Mönchengladbach) gastiert. Besonders gerne besucht Gründgens das im Keller der Großen Freiheit 10–12 gelegene Hippodrom, wo ein Stallmeister die Pferde traben läßt, die die Besucherinnen gegen einen Obolus reiten dürfen und auf denen sich manche Huren zum Kundenfang nackt präsentieren4 – nur manchmal freilich, nicht immer: »Es waren nicht nur Nachtbräute da, auch Tagesdamen und Familien mit Schwägerin, Tante und Großmama, denn es war Sonnabend«5, berichtet Tucholsky. Im 1944 gedrehten Film GROßE FREIHEIT NR. 7 tritt Hans Albers in diesem Hippodrom als singender Seemann auf, 1961 werden in diesem Gebäude die Beatles spielen.6 Doch Gründgens, »ein verhätscheltes Kind, ein Monokelprinz – ein gefährlich Wissender«7, pflegt nicht nur den Geist des épater le bourgeois, er experimentiert mit seinem Image, sucht sein Selbstbild, ja er scheint geradezu pubertär eine zweite Adoleszenz zu durchleben. Den Eltern in Düsseldorf berichtet er: »Mich packen alle Erschütterungen und alle Jubel stärker. Ich liebe schmerzlicher und bekomme tiefer Liebe. Ich lebe und muß leben in den Extremen. Die Mitte bietet keine Luft, in der ich atmen kann. Mein Glück ist tiefer, reiner und schöner und mein Unglück ist verzweifelter, hoffnungsloser und qualvoller. Ich erlebe in einer Stunde mehr, als mancher in seinem Leben. Dabei stürze ich mich nicht herein, es drängt sich an mich. Und so bin ich in meinem Glück unglücklich und in meinem Unglück glücklich. Doch das Wesentlichste ist, ich bin zufrieden (zufrieden damit, daß ich ewig unzufrieden bin). Es lebe die Unlogik des Denkens. Es lebe die Logik des Gefühls. Es lebe die Individualität des Einzelnen.«8

      Das Theater spielt in den 20er Jahren eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben der Hansestadt und spiegelt zugleich die soziale Umbruchsituation. Den entscheidenden Impuls für die Entfaltung innovativer künstlerischer Kräfte hatte das Schauspielerehepaar Erich Ziegel und Mirjam Horwitz 1918 mit der Gründung der Hamburger Kammerspiele gesetzt.9 Ziegel, 1876 in Schwerin an der Warthe, dem heutigen Skwierzyna, geboren, hatte 18jährig am Meininger Hoftheater debütiert, nach dem klassischen Weg durch die Provinz am Schiller-Theater in Berlin gespielt und dort seine spätere Frau, die 1882 in Berlin zur Welt gekommene Mirjam Horwitz kennengelernt. 1913 waren beide an die Münchener Kammerspiele gegangen, er als Direktor, sie als Schauspielerin, von dort 1916 nach Hamburg: Ziegel hatte am Thalia-Theater inszeniert, Horwitz am Deutschen Schauspielhaus gespielt. Das 1900 eröffnete Deutsche Schauspielhaus an der Kirchenallee – zu dieser Zeit ein 1848 Zuschauer fassendes Privattheater ohne staatliche Förderungen, das Ziegel spöttisch als »hanseatisch-republikanisches Hoftheater«10 tituliert – gilt unter der Direktion des Schweizers Paul Eger als konservative, ästhetizistische Klassiker-Bühne und macht dem bereits 1843 gegründeten Thalia-Theater (seit 1912 in einem Neubau mit 1325 Plätzen am Pferdemarkt, dem heutigen Gerhart-Hauptmann-Platz) Konkurrenz, wo Direktor Hermann Röbbeling, in erster Linie auf Rentabilität bedacht, das bürgerliche Gesellschaftsstück pflegt, aber 1926 auch einen HAMLET im Frack und zu Jazzmusik zeigt. Daneben etablieren sich die wesentlich kleineren Kammerspiele rasch als Spielstätte moderner Stücke und entwickeln sich zu einer Hochburg expressionistischer Dramatik. Man will »dem lebendigen Geist dienen […], Forderung und Weltvision der Wertvollsten zu eindringlicher Gestaltung bringen«11, erläutert man die programmatische Zielsetzung, »ohne jedes Zugeständnis an Seichtheit und fades Unterhaltungsbedürfnis«12. So wird das Repertoire bestimmt von Autoren wie Frank Wedekind, August Strindberg, Georg Kaiser, Carl Sternheim, Paul Kornfeld, Ernst Toller und Klabund, nebenbei müssen dann aber doch auch einige populäre Unterhaltungsstücke für die notwendigen Einnahmen des mit einem Stammkapital von 200000 Mark als GmbH geführten Privattheaters sorgen, klassische Werke gibt man hingegen eher selten.

      Einen besonderen Blick haben Ziegel und seine Frau für aufstrebende junge Talente: Fritz Kortner, zuvor freilich schon in Berlin arriviert, und der noch unbekannte Regisseur Erich Engel finden hier Entfaltungsmöglichkeiten, ebenso Hubert von Meyerinck. Gründgens wird als Nachfolger von Rudolf Fernau engagiert (in den 30er und 40er Jahren mit Filmen wie DR. CRIPPEN AN BORD der profilierteste Interpret asozialer und krimineller Protagonisten). Mit ihm werden unter anderem sein einstiger Mitschüler, der besonders im komischen Fach talentierte Paul Kemp, der jugendliche Held Hans Otto, Fritz Holls zarte Tochter Ruth Hellberg, der schlesische Gutsbesitzer-Sproß Victor Kowarzik, der sich später den wohlklingenderen Namen Victor de Kowa zulegt, Werner Hinz, Josef Dahmen, Wolfgang Heinz, Herbert Grünbaum, Ernst-Fritz Fürbringer und Siegfried Schürenberg auf der Bühne am Besenbinderhof stehen – sie alle avancieren zu bekannten Bühnen- und Filmdarstellern. »Bei Ziegel engagiert zu sein, das war für jeden Schauspieler ein Sehnsuchtsengagement«, wird sich Victor de Kowa erinnern. »Gage gab es wenig. Was kümmerte es uns? Was machte es aus, wenn die Proben bis in die Nächte dauerten? Wenn in der vermieften Garderobe das Grundwasser stand? Da hockten wir im Winter beieinander auch außerhalb von Proben und Aufführungen. Hier kochten uns mitleidige Kolleginnen Kaffee. Hier stopften wir brav unsere Strümpfe. Der große Gustaf inbegriffen. Samt Monokel und immer viel zu langem Haar. Es war noch etwas Boheme in diesen Jahren bei Ziegel.«13

      An den Hamburger Kammerspielen ist ein »Kräftefeld«14 entstanden, so Erich Engel, in dem unterschiedlichste künstlerische Temperamente mit einem ebenso gemischten Publikum zusammentreffen. Man kann gleichzeitig ein »ausgesprochen literarisches, an wirklicher Kunst interessiertes Publikum und solches, das dafür gelten möchte«, antreffen, »viel schöne Frauen, viel Hornbrillen; Wandervögel; viel junge Menschen«15. Neben »ernsthaften Kunstfreunden« sitzen »Schieber und Damen in sehr modernen Kostümen, nach starken Eindrücken lüstern«16. Weniger modern ist indes das im Parkett und einem Rang 742 Zuschauer fassende, technisch nur unzulängliche Theater, das Ziegel mal liebevoll »ein bißchen schäbig und ein bißchen romantisch«17, dann wieder ernüchtert einen »rachitischen alten Kasten«18 nennt (und das schon 1928 abgerissen wird). Auch die Lage in einem Hinterhof ist alles andere als günstig: Am Besenbinderhof, einer breiten, von Grünstreifen durchzogenen Allee, weist nur ein Schild

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