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profilieren soll. Er selbst ist völlig theaterunerfahren, das südlich der Stadtmitte gelegene Haus mit 800 Zuschauerplätzen, 1906 durch die Brüder Herrnfeld erbaut, indes keineswegs eine Kleinbühne. Bis 1916 hatten diese deutsch-jüdische Milieustücke und Komödien in jiddischer Sprache gezeigt, von 1921 bis März 1922 hatte die »Wilnaer Truppe« in dem vorübergehend Jüdisches Künstlertheater benannten Haus gastiert – von 1935 bis 1941 dient das baufällige Gebäude in der Kommandantenstraße 57 dem Jüdischen Kulturbund als Zufluchtsstätte und wird 1944 zerstört, seine Ruine 1953 gesprengt.30 Neben Clemens Schubert, dem die Oberspielleitung obliegt, ist der auch als Schauspieler wirkende Friedrich Lobe als Regisseur verpflichtet, Schuberts Freund Fritz Gabsch fungiert als »musikalischer Beirat«. Erklärtes Ziel ist es, eine moderne literarische Bühne zu gründen.31 »Das Programm ist […], wenn auch ungeschrieben klar: deutsche Kunst, literarische Bemühtheit«, kommentiert Alfred Döblin. »Es sind lauter abseitige, leicht (Verzeihung) provinzmäßige, nicht großstädtische Größen. Heimatkunst […].«32

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      Als Weislingen in Goethes Götz von Berlichingen, Vereinigte Städtische Theater zu Kiel, 1921

      © Theatermuseum Düsseldorf

      In einer Art Vorsaison zeigt man zunächst den Schwank LIEBE UND TROMPETENBLASEN von Hans Sturm und Hans Bachwitz, die man gerne auch als »Literaturfabrikationsfirma Sturm & Bachwitz« bezeichnet. Gründgens gibt darin am 4. August 1922 sein Berlin-Debüt in der Rolle des Karlstadt, klagt aber den Eltern: »Die Proben waren gräßlich; ich habe doch nicht die richtige Einstellung zu so leichter Ware.«33 Am 12. September wird die »Winterspielzeit« dann offiziell mit Wilhelm Schmidtbonns ebenso pathetischem wie lyrischem Schauspiel DER GESCHLAGENE eröffnet, das bis 25. Oktober auf dem Spielplan steht. Der Regisseur des Abends, Clemens Schubert, verkörpert zugleich die Titelrolle des bei einem Absturz erblindeten Fliegers Josef Wacholder, der mit dem Argwohn, seine Frau könne ein Verhältnis mit seinem Bruder David beginnen, die ganze Familie martert; Gründgens ist nur im letzten Akt als blind geborener Johannes Pracht zu sehen. Die zweite Premiere am 20. September gilt Friedrich Lienhards Schelmenspiel DER FREMDE, vereint an einem Doppelabend mit Franz Johannes Weinrichs Tanzpoem DER TÄNZER UNSERER LIEBEN FRAU mit Gründgens in der Titelrolle eines Spielmanns, der aus Verehrung für die Mutter Gottes zum Bruder Simplizius wird und sich vor dem Marienbild in Tod und ewige Seligkeit tanzt. Die Kritik ist uneins angesichts der ersten nennenswerten Aufgabe für Gründgens in Berlin: Paul Wiegler hält ihn für »nicht untalentiert«34, Fritz Engel meint sogar, Gründgens sei »gut in Sprache und Rhythmus«35 gewesen, Ludwig Sternaux hingegen, er habe »mit viel hohlem Pathos Moissi nachgestümpert«36 und könne zudem nicht tanzen. In Adolf Pauls Komödie DIE SPRACHE DER VÖGEL, die am 5. Oktober Premiere hat, spielt Gründgens den zentralen Part des Sabud, der die Freundschaft des Königs Ealomo den Launen einer Frau zuliebe preisgibt.

      Parallel dazu tritt Gründgens ab Mitte September fünf Monate lang spätabends im Cabaret Größenwahn auf, dessen Domizil sich unweit seines möblierten Zimmers am anderen Ende der Augsburger Straße befindet: an der Ecke von Kurfürstendamm und Joachimstaler Straße (dem heutigen Kranzler-Eck), eine Etage über dem ehemaligen Café des Westens – allgemein Café Größenwahn genannt –, das von 1898 bis 1915, von Literaten, Journalisten, Künstlern, Musikern und Theaterleuten frequentiert, vielen Bohemiens als eine Art Heimat gedient hatte. Die Schauspielerin und Diseuse Rosa Valetti, »häßlich wie die schwarze Nacht und platzend von lichtstarker Persönlichkeit«37, so ihre Kollegin und Konkurrentin Trude Hesterberg, hatte das politisch-literarische Cabaret, das einen Hauch Montmartre nach Berlin bringen sollte, Ende 1920 als eine entschiedene Kampfansage an Philistertum und politische Reaktion gegründet. Im Größenwahn waren Valettis Bruder Hermann Vallentin, Kurt Gerron und Paul Morgan aufgetreten, hatten Blandine Ebinger Friedrich Hollaenders LIEDER EINES ARMEN MÄDCHENS und Kate Kühl Chansons von Aristide Bruant und Frank Wedekind vorgetragen. Nun steht hier – kurz bevor die Valetti nach nur zwei Jahren die Leitung wieder abgibt – in Kniehosen, einem Hemd mit Schillerkragen, den Rucksack geschultert und das Schmetterlingsnetz in der Hand auch der Berlin-Neuling Gründgens auf dem Podium. Vermittelt hat das Engagement der Bühnenbildner Edward Suhr, man kennt sich vom Schauspielhaus Düsseldorf her. Für ein abendliches Honorar von zunächst 200 Mark – was dank der Inflation nicht einmal mehr fünf amerikanischen Cents entspricht, das deutsche Briefporto beträgt zu dieser Zeit sechs Mark – trägt Gründgens eine selbstverfaßte Wandervogelparodie38 mit dem Titel DER NEUE MENSCH ODER HAB SONNE IM HERZEN!39 vor. Vertont hat sie Theo Mackeben, der 15 Jahre später auch die Musik zum Gründgens-Film TANZ AUF DEM VULKAN samt dem noch heute oft gespielten Chanson DIE NACHT IST NICHT ALLEIN ZUM SCHLAFEN DA komponieren wird. »Der bekannte Führer der Jugendbewegung, Hans Blüher40, der sich einst unter der Mimikry begabter psychoanalytischer Philosophie das Vertrauen einer großen Anhängerschaft erschlich, war, nachdem er die Maske lüftete und sich als pseudowissenschaftlicher Antisemit und ›Entlarver der jüdischen Mimikry‹ entpuppte, längst reif zur Verwertung als komisch-traurige Figur für das intellektuell interessierte Cabaret. Das ›Größenwahn‹ hat ein unbestreitbares literarisches Verdienst dadurch erworben, daß es jetzt in einer erquickend-komischen Szene Blüher, den Begriffsmythiker, Flaischlen41, den Sonnen-Naivling, und die ganze lautenklimpernde, wadenstrumpfbedeckte teutonische Wandervogelei verspottete. Gustav Gründgens hat diesen witzigen Dialog verfaßt und spielt ihn grotesk-parodistisch mit Else Ehser«42, lobt die B. Z. am Mittag. Gründgens erregt damit weit mehr die Aufmerksamkeit des verwöhnten und kritischen Berliner Publikums als am Theater in der Kommandantenstraße.

      Dort erzielt Alexander Zinns 1909 entstandene Komödie SCHLEMIHL, in der Gründgens ab 28. Oktober unter der Regie des Intendanten Eugen Poell eine Nebenrolle spielt, immerhin einen Achtungserfolg. Am 15. Dezember werden vier der fünf Szenen aus Rolf Lauckners expressionistischem Einakter-Zyklus SCHREI AUS DER STRAßE uraufgeführt und finden durchaus Beifall: Das Werk, das, so das Prager Tagblatt, »ergreift, interessiert, verblüfft, nachdenklich macht«43, sei »mit sorgfältiger Arbeit an einem noch jungen Schauspieler-Bestand herausgebracht« und mit »spürbarem Ernst gespielt«44 worden, heißt es etwa in der Zeitschrift Die schöne Literatur (die unter Will Vespers Leitung und dem Titel Die Neue Literatur zur führenden NS-Literaturzeitschrift werden wird). Gründgens spielt in Lauckners Zyklus drei Hauptrollen: in der VORSTADTLEGENDE den Blinden Sascha, der mit zwei ebenfalls blinden Freunden in der Neujahrsnacht unter Alkoholeinfluß eine Dirne ersticht, in PESTALOZZI den satanischen Oberkellner, der einen alten Lehrer überredet, einen Schieber zu bestehlen, und den Nuditätenhändler im STERBENDEN STUDENTEN.45 Als preußischer Kronprinz Friedrich in Hermann Burtes häufig aufgeführtem (in Preußen jedoch bis 1918 nicht zugelassenem) KATTE, der am 31. Januar 1923 mit Clemens Schubert in der Titelrolle Premiere hat, erregt Gründgens erstmals die Aufmerksamkeit des Berliner Kritikerpapstes Alfred Kerr, der vermutlich wegen der Besetzung des Königs Friedrich Wilhelm mit dem prominenten Schauspieler Hermann Vallentin die Aufführung besucht. Im Rahmen eines »Österreichischen Einakterabends« spielt Gründgens in Jakob Wassermanns GENTZ UND FANNY EßLER den Grafen Reitzenstein und in Peter Nansens Lustspiel EINE GLÜCKLICHE EHE den Ministerial-Rat Dr. jur. Friedrich Jermer, der ein Verhältnis mit Nancy, der Ehefrau seines Jugendfreundes Christian Mogensen beginnt. Die Premiere von Martin Langens jambischem Trauerspiel JULIUS CÄSAR UND SEINE MÖRDER, dessen Dreh die Behauptung ist, Brutus sei Cäsars leiblicher Sohn, ist kurzfristig gefährdet, als der für den Marcus Antonius vorgesehene Raul Lange mitten in den Proben ans Deutsche Theater abwandert, vergeblich bemüht Direktor Poell das Bühnenschiedsgericht46, findet dann aber Ersatz in dem Schauspieler Otto Braml. Neben Friedrich Lobe als Cäsar übernimmt Gründgens den Octavius und steht erstmals gemeinsam mit dem 20jährigen Werner Hinz als Catulus auf der Bühne, der dreieinhalb Jahrzehnte später in Hamburg alternierend mit Will Quadflieg die Titelrolle in Gründgens’ berühmter FAUST-Inszenierung spielen wird. In insgesamt zwölf Stücken wirkt Gründgens am Theater an der Kommandantenstraße mit, unter anderem wiederholt er die bereits in Kiel gespielten Rollen des Oswald in Ibsens GESPENSTERN und des Herzogs in Goethes TASSO.

      Das ganze Unternehmen verläuft jedoch ohne

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