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die Darstellung historischer Totentänze spezialisierten Laienspieltruppe. Kann er – zusammen mit dem Kätzchen »Schnuy«, das er geschenkt bekommen hat – zunächst recht günstig und zudem nur 800 Meter vom Theater entfernt als möblierter Herr in der Kaiserstraße 8 (der heutigen Walther-Rathenau-Str. 8) bei der Familie des Schuhgroßhändlers Arthur Heynemann wohnen, die zu den angesehensten der rund 300 jüdischen Familien in Halberstadt zählt, so muß er, als dieses Zimmer nicht mehr zur Verfügung steht, wie einige seiner Kollegen im Hotel Prinz Eugen logieren: »Mein Hotelzimmer kostet ohne Frühstück pro Nacht 12 Mark. Ein möbliertes Zimmer war für den Moment nicht zu bekommen. Und billigere Hotels gibt es hier nicht. Ich zittere bei dem Gedanken, daß aus unserer Teuerungszulage nichts wird«, schreibt Gründgens seiner »Mui«. Notgedrungen erteilt er den Mädchen des Kaiserin-Auguste-Viktoria-Lyzeums Unterricht in rhythmischer Gymnastik (»Ich placke mich hier mit 9jährigen Kindern ab. Sonst könnte ich überhaupt nicht leben hier.«16) – und das alles neben seinem Engagement an den Städtischen Bühnen.

      Dort steht er in der achtmonatigen Saison zwar in 22 verschiedenen Stücken auf der Bühne, assistiert überdies und arrangiert Tanzszenen für Shakespeares WINTERMÄRCHEN, Anna Bethe-Kuhns Märchen DAS NEUGIERIGE STERNLEIN, Christian Lahusens »Ballett zu einem Lustspiel von Molière« mit dem Titel DIE HOCHZEIT DER SCHÄFERIN und Nestroys LUMPAZIVAGABUNDUS. Allerdings wird Gründgens, der vertraglich »ausdrücklich auch zur Übernahme kleiner Rollen und zur Komparserie«17 verpflichtet ist, als Schauspieler nur selten seinem Alter entsprechend beschäftigt, sondern muß meist alte Männer spielen, ausstaffiert mit üppigen Bärten und umgeschnallten »Falstaffranzen«, wie man im Theaterjargon die wattierten Bäuche nennt, die seine schlanke Figur kaschieren. So gibt er in Schillers MARIA STUART nicht etwa die Rolle des Mortimer, die dem fast zwölf Jahre älteren Albrecht Schoenhals anvertraut wird, sondern dessen etwas biederen, pflichtbewußten Onkel Paulet, den Wächter der Stuart (die Kritik nennt seine Darstellung »hoffähig«18) und in Ibsens analytischem Familiendrama GESPENSTER keineswegs den 27jährigen Maler Oswald, sondern den alten Jugendfreund seiner Mutter, Pastor Manders. Immerhin erhält er in Schnitzlers ANATOL die Rolle des Max und erweckt in Lessings EMILIA GALOTTI »den Eindruck eines aalglatten, gewandten Höflings, zeigte aber nicht die teuflische Bosheit und Schlechtigkeit des Marinelli«19, so der Kritiker der Halberstädter Zeitung und Intelligenzblatt. Francesco Sioli weiß mit Gründgens’ nervösem Temperament wenig anzufangen. Gleichwohl verhandelt er für die kommende Saison über einen Vertrag als »1. Charakterliebhaber und jugendlicher Charakterspieler« mit Gründgens, der sich »plötzlich so klein und so unausgeglichen« findet, daß er »starke Zweifel« hegt, ob er »ein solches Fach ausfüllen kann«20, wie er Louise Dumont schreibt, bei der er sich vergeblich um ein Engagement am Schauspielhaus Düsseldorf bewirbt. Doch als Sioli einen Ruf als Intendant nach Aachen erhält, steht eine Verlängerung von Gründgens in Halberstadt ohnehin nicht mehr zur Disposition. Nach Aachen mitnehmen will Sioli den Anfänger, der ihm »technisch brillant, aber seelisch ein Embryo«21 scheint, nicht: »Sie engagiere ich erst wieder, wenn Sie ein dicker Komiker geworden sind!«22

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      Gustaf Gründgens als Marinelli und Hanns Böhmer als Hettore Gonzaga in Lessings EMILIA Galotti, Vereinigte Städtische Theater zu Kiel, 1921

      © Theatermuseum Düsseldorf

      Gründgens hatte sich indessen in Halberstadt nicht immer wohl gefühlt: »Ich bin eigentlich immer allein gewesen hier, und wie gut das für mich war, glaube ich jetzt zu sehen. Obwohl ich gerade unter dem Alleinsein gelitten habe.«23 Davon zeugen nicht zuletzt die Gedichte, die er Renée Stobrawa schickt: »Tanzt ihr Gedanken / Auf den Gräbern der Verlorenen / Stammelt über verzerrte Trugbilder / Gewesener öder Alltäglichkeit / Sucht abgegraste geschwundene Schönheit auf / Verpestet Euch im Erinnern an erlebte Kloaken / Jagt ihr Gedanken / Weit in die Zukunft / Baut Irrtümer auf / Brecht Wege ins Nichts / Hofft Welten, heiligt kommendes Glück / Nur / Schweigt / Über meine Einsamkeit.«24 Noch im Oktober hatte er seine »Göttin«, seinen »Engel«25, sein »Herzele liebes«, seine »Süße«26 beschworen: »Meine Renée, mir ist nie so klar gewesen wie jetzt, daß mir ein Leben ohne Dich unmöglich ist. Ich liebe Dich so innig und heiß, daß ich hier immer mit Dir bin und mit Dir erlebe. […] Glaub mir, mir fehlen einfach die Worte, die mein Gefühl zu Dir ausdrücken sollten. Ich möchte Dich ganz umarmen, küssen und dann ganz ruhig in Deinem Arm liegen, ganz nahe bei Dir.«27 Doch als ihr Gründgens im Juni 1921 seine gesammelten Gedichte mit dem Titel ALTES UND NEUES widmet, ist die Liebe bereits erkaltet. »Ich habe nie darüber schreiben mögen: sie ist so anders als ich; vielleicht besser. Wir haben viel korrespondiert im Anfang, und dann konnte ich nicht mehr schreiben; eben, weil ich mußte, nicht. Ich mußte mich nach Erhalt eines Briefes hinsetzen und antworten, sonst kam am nächsten Tag ein Telegramm (ich meine das nicht buchstäblich). Und dann kam eine Zeit, in der hier in mir alles drunter und drüber ging, und dann schrieb ich noch weniger. Und dann fand Renée, daß wir nicht zusammenpassen. Vielleicht fand sie es damals nur aus irgendeinem Kokettsein und wartete auf meine Gegenteilbezeugungen. Aber ich hatte auch nachgedacht und war zu dem gleichen Resultat gekommen. (Nicht wegen dem Unterschied im Briefeschreiben.) Aber ich bin nicht der Mann, der Renée zufriedenstellen kann. Ich setze zum Beispiel einen großen Teil meiner Erotik ins künstlerische Schaffen um. Und Renée schafft nur aus einer Erotik heraus, die dauernd nach einer Befriedigung verlangen muß. Ich kann entweder nur ihr Mann sein oder nur ein guter Schauspieler werden«, schreibt Gründgens erstaunlich offen seiner Mutter im April 1921. »Ich weiß nicht, ob Du mich verstehst, es ist das erste Mal, daß ich mir selbst in Worten Rechenschaft darüber ablege. Ich kann, glaube ich, weder mit der Frau als Herrin noch mit der ›Käthchen von Heilbronn‹-Natur etwas anfangen. Für eine rein physische Erotik ohne starkes geistig-seelisches Band werde ich nie Verständnis haben.«28

      Was da »alles drunter und drüber ging«, erläutert »Gui« seiner geliebten Mutter nicht: Er ist zerrissen zwischen der Sehnsucht nach einer Geborgenheit bietenden, bürgerlichen Existenz, also Ehe und Kindern, und seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen. Vielleicht sieht Gründgens in einer Heirat lediglich eine Möglichkeit, die noch nicht akzeptierte eigene Homosexualität zu unterdrücken, vielleicht sehnt er sich tatsächlich nach einer Beziehung zu einer Frau – wobei hier »das überwertige Frauenideal der eigenen Mutter sicher eine dominante Rolle«29 spielt, wie später ein Psychiater meint, der Gründgens behandelt; auch Renée Stobrawa ist für Gründgens »immer das Höchste und Reinste, die Höhe, die ich erreichen muß«30. Auf alle Fälle empfindet er seine homosexuellen Wünsche als höchst problematisch. Zum einen ist er geprägt vom rheinischen Katholizismus seines Elternhauses (der bigotterweise unberührt bleibt von der Tatsache, daß der Vater zahlreiche Affären pflegt) und der in der Wilhelminischen Ära noch weitverbreiteten Schamhaftigkeit – so hatten etwa Düsseldorfer Stadtverordnete 1902 zur Frage Stellung genommen, ob ein Schwimmverein in »sittlicher Beziehung eine segensreiche Thätigkeit« entfalte: »Es diene doch nicht zur Hebung der Sittlichkeit, wenn Knaben mit dem nackten Körper und nur mit dem dünnen Badehöschen bekleidet, sich […] gegenseitig mit Blicken bemessen könnten.«31 Zum anderen, das darf man nicht vergessen, stellt das deutsche Strafgesetzbuch Homosexualität unter Strafe; im Jahr 1921 werden in Deutschland immerhin 425 Männer nach Paragraph 175 verurteilt.32 In dessen seit 1872 gültiger Fassung33 heißt es: »Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.« Alle Versuche, das Sexualstrafrecht zu reformieren, sind bislang fehlgeschlagen, schon 1897 war eine erste, unter anderem vom SPD-Vorsitzenden August Bebel unterzeichnete Petition des Arztes Magnus Hirschfeld dem Reichstag vorgelegt worden und, wie alle folgenden, gescheitert. Und so ist der pubertierende Gründgens sicher geprägt worden von Zeitungsmeldungen wie beispielsweise jener über einen Vorfall 1914, als in Duisburg »in einer Sonnabendnacht von der Kriminalpolizei eine homosexuelle Gesellschaft entdeckt und aufgehoben [wurde]. Von der Düsseldorfer Polizei war die Nachricht eingelaufen, daß Leute aus diesen Kreisen planten, in Duisburg einen sogenannten Männerball abzuhalten. Da auch der Zeitpunkt bekannt

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