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die neben den Fächern Atemkunst, Sprechtechnik, Fechten, Ästhetische Gymnastik und Rhythmische Gymnastik auch Philosophie, Literaturwissenschaft und Kostümkunde umfaßt, werden die Schüler in Vorstellungen am Schauspielhaus beschäftigt, freilich ohne dafür eine Vergütung zu erhalten. Gründgens tritt erstmals am 19. April 1919 – also zweieinhalb Wochen nach Unterrichtsbeginn – in Leo Tolstois LEBENDEM LEICHNAM auf. Er spielt den Lakai des Lebemanns Afremow, den Adolf Dell verkörpert, den Fedja gibt Peter Esser, dessen Frau Lisa die Schweizerin Ellen Widmann, die 1931 die Mutter Beckmann in Fritz Langs Film M darstellen wird. Statisterie und kleine Rollen wie Friedrich von Herrnstadt in Kleists KÄTHCHEN VON HEILBRONN in der Regie von Paul Henckels folgen. Von einem Kollegen übernimmt Gründgens den die Thisbe spielenden Bälgenflicker Flaut in William Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM, inszeniert von Gustav Lindemann. In HAMLET gibt er mal den Priester, mal – statt des erkrankten Adolf Dell – den Güldenstern. Ebenfalls als Rollenübernahme vertraut man dem Schauspielschüler den Hofmarschall von Kalb in Friedrich Schillers KABALE UND LIEBE an. Die Aufgaben sind so zahlreich, daß sich der überlastete Gründgens an die Direktion wendet: »Leider ist es mir gänzlich unmöglich, den Anforderungen, die in letzter Zeit an mich gestellt werden, gerecht zu werden. Mit Ausnahme von MUSIK10 befindet sich kein Stück auf dem Repertoire, in dem ich nicht beschäftigt bin. Und die mir zugewiesenen Aufgaben sind (mit Ausnahme von ROBERT UND BERTRAM11) derart, daß sie jeder andere Schüler spielen könnte. Ich bitte herzlich, mich nicht mißverstehen zu wollen. Nicht weil ich mir zu erhaben vorkäme, diese oder jene kleine Rolle zu spielen, sondern lediglich in der Einsicht, daß man mit dem Heranziehen der Schüler zu Rollen und Statisterie gleichmäßiger verfahren könnte, schrieb ich diesen Brief. […] Was ich in letzter Zeit an der Akademie durchmachen mußte, hat mich seelisch so heruntergemacht, daß ich einfach nicht mehr kann. Und da ich ganz haltlos bin und von keiner Seite ein Entgegenkommen mehr finde, habe ich meine Begeisterung für die Sache und meinen Ehrgeiz, hier etwas zu erreichen, verloren.«12 Er bittet darum, unter anderem in Lessings MINNA VON BARNHELM umbesetzt zu werden – daß sich Gründgens jedoch ausgerechnet mit der ihm zugedachten Rolle des Hochstaplers Riccaut de la Marlinière unzufrieden zeigt, ist der Direktion »unerklärlich«. »Daß Sie es unter Ihrer Würde erachten, für Herrn Hannemann in Gelsenkirchen die Rolle des 2. Dieners zu übernehmen, wirft ein sehr bedenkliches Licht auf die Art, wie Sie innerlich zu Ihrer Berufsarbeit stehen. […] Wir verkennen nicht, daß Sie in der letzten Zeit sehr viel zu tun hatten, wir waren stets der Meinung, daß Ihre Bühnensicherheit und weitere Ausbildung sehr fördernde Tätigkeit Ihnen erwünscht sei. Es tut uns leid, daß wir uns in dieser Beziehung getäuscht haben.«13 Es bleibt dabei: Den Riccaut muß Gründgens in einer Nachmittagsvorstellung an Stelle von Henckels, der abends in einer anderen Inszenierung beschäftigt ist, spielen.

      »Ehrfurcht vor unserem Beruf und die Tatsache, daß Kunst nur auf dem Boden der Wahrheit und der Wirklichkeit gedeihen kann«14, habe ihn die Hochschule für Bühnenkunst gelehrt, wird Gründgens gut drei Jahrzehnte später formulieren. Die Unterrichtsstunden bei Louise Dumont und Gustav Lindemann, vor allem aber »das vorgelebte Leben«, der »vorgelebte […] Ernst«, hätten ihm »einen wirklichen Fonds fürs Leben mitgegeben«15. Prägend für den Regisseur und sein oft mißverstandenes Ideal der werktreuen Interpretation wird Dumonts Postulat, das Theater habe der dramatischen Dichtung zu dienen, die jeweils aus ihrem individuellen Stil heraus gestaltet werden soll. Die auf Überzeitlichkeit zielenden Inszenierungen in Düsseldorf werden von der Dominanz der Sprache über mimischen und gestischen Ausdruck geprägt und gehen nicht von der Situation, sondern vom Wort, vom Wortsinn, dem Rhythmus und der Dynamik des Dialogs aus. Louise Dumonts und Gustav Lindemanns literarisiertes Theater zelebriert die reine theatrale Kunst als hehres, festliches Ereignis, ja fast als kultisches Weihespiel – ganz im Gegensatz etwa zum sinnlichen, visuell betonten Theater Max Reinhardts, das man am Schauspielhaus Düsseldorf als äußerliches Komödiantentum empfindet. So steht bei der entschiedenen Verfechterin des Ensemblegedankens auch nicht der einzelne – womöglich prominente – Schauspieler im Zentrum der künstlerischen Bemühungen, der Dumont kommt es allein auf das Wort des Autors an. Theater ist kein Geschäft, wie es in ihren Augen der Antipode Max Reinhardt betreibt, sondern priesterlicher Dienst an der hohen Dichtung. Von den Schauspielern erwartet sie folglich eine von persönlichen Eitelkeiten freie Vermittlerrolle zwischen Kunst und Leben – nicht aber unbedingt priesterliche Askese: »Bi-Sexualität! Sie schadet nicht. Seid ihr begabt, dann flutet’s ineinander!«16 soll sie den Schülerinnen und Schülern zugerufen haben. Louise Dumont selbst pflegt ein immer distanzierteres Verhältnis zu ihrem Ehemann und schenkt alle Zuneigung ihrem jeweiligen »Liebling«: der jungen Schauspielerin, die sie gerade favorisiert.

      Welche sexuellen Erfahrungen der Schauspielschüler Gründgens macht, ist nicht überliefert, doch entdeckt der Bürgersohn in dieser Zeit das Bohemeleben: »[…] wir saßen Nächte durch in Ateliers uns befreundeter Maler; ich erinnere mich an einen Abend in der Gegend um die Worringer Straße: wir waren etwa zwanzig und saßen auf der Erde um eine große Schüssel Kartoffelsalat. An der Wand hing ein großes Bild des Atelierbesitzers, Glockenläuten darstellend. Und Karl Hannemann las vor; stundenlang, erbarmungslos; eigene und fremde Sachen.«17 Im Restaurant Zum Storch an der Derendorfer Straße, dem Vereinslokal des Künstlervereins »A. V. Laetitia«, der bereits 1878 als studentische Verbindung für die angehenden Künstler der Akademie entstanden war, tritt Gründgens in einigen kurzen dramatischen Grotesken des »Dandys vom Rhein« Hermann Harry Schmitz auf18 und spielt unter anderem in IST WOHLGETAN, IST WOHLGETAN die Rolle des Knüller (»ein Blinder aus der III. Etage«) sowie den Kaspähr Fröbel (»ein Naivling, an beiden Beinen gelähmt«) im Stückchen DIE PHILOSOPHEN. DAS MYSTERIUM DES SONNENSTICHS: »An einem Augusttag, bei 40 Grad Hitze, ward solange wegen einer überreifen Leiche geredet, bis diese sich nicht mehr riechen konnte und sich kurzerhand selber beseitigte.«19 »Oder wir spielten im Aktivistenbund, in der Rosenstraße war er beheimatet, das neueste Stück des damals so fruchtbaren Karl Hannemann oder irgendeines anderen von uns.«20 Im Haus des Chemikers und Photographen Erwin Quedenfeldt in der Rosenstraße 28 halten die Mitglieder des von diesem Mitte 1919 gemeinsam mit dem Schriftsteller Herbert Eulenberg, dem Mitbegründer des »Jungen Rheinlands«, ins Leben gerufenen »Aktivistenbundes 1919« ihre Zusammenkünfte ab, einer Vereinigung linker Intellektueller, bildender Künstler, Literaten, Theaterleute und Journalisten »in tätiger Feindschaft gegen die zu seelenlosem Formalismus erstarrte Tradition«21, so Quedenfeldt.

      »Wer sich in der Schule, auf den Aktivistenbünden, Morgenveranstaltungen und Schulfeiern noch nicht genug austoben konnte, durfte mit Eugen Dumont schmieren gehen«22, wird sich Gründgens im Rückblick erinnern. Vor allem während des Sommers tingelt der geschäftstüchtige Dumont – nicht verwandt oder verschwägert mit der Prinzipalin – mit »Bunten Abenden«, dargeboten von einem aus Schauspielschülern zusammengestellten Ensemble, zu dem auch Gründgens zählt, über die Dörfer, hochstaplerisch beworben als »Gastspiel des Düsseldorfer Schauspielhauses«23. Während der Spielzeit gastiert man vor allem in der näheren Umgebung Düsseldorfs, etwa im »Vossen links«, dem beliebtesten Ausflugslokal Oberkassels. Auch der Bühnenbildner Traugott Müller, mit dem Gründgens am Berliner Staatstheater eng zusammenarbeiten wird, ist dort tätig: Seine erste – verläßlich nachgewiesene – Bühnendekoration überhaupt entsteht für eine Aufführung von Hugo von Hofmannsthals DER TOR UND DER TOD am 20. Februar 1920 im »Vossen links«.

      Das Zeugnis der Hochschule für Bühnenkunst attestiert Gustav Gründgens, wie sich der Schauspielanfänger ja noch immer schreibt, »ein ungewöhnliches Talent für die sinnfällige Ausformung der seelischen Struktur problematischer Naturen; seine starken Ausdrucksmittel sind mit energischem Willen gepaart und gut diszipliniert. Das nervöse Temperament, das der leisesten Anregung folgt, weist zunächst auf erfolgreiche Gestaltungen aus der modernen Literatur, ohne Beschränkung auf die Verkörperung nur jugendlicher Personen. Bei einem ungestörten Verlauf der Entwicklung dürfte der Gestaltungskraft Herrn Gründgens’ das ganze Gebiet kompliziertester Charakterrollen in der klassischen dramatischen Dichtung offenstehen.«24 Es wird bereits am 28. Mai 1920 ausgestellt, damit sich Gründgens wie alle Schüler schon vor dem eigentlichen Ende der Ausbildung um ein Engagement bewerben kann. Das Schülerverzeichnis der Hochschule für Bühnenkunst nennt zwar den 1. Juli 1920

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