Скачать книгу

überzeugter Sozialdemokrat – in seinem Direktionszimmer steht eine Büste August Bebels – wendet sich Alberty gegen den kapitalistischen Ausbeutungsbetrieb im Theater, setzt sich für angemessene Gagen und dienstfreie Abende ein. Er begreift die Bühne als eine Art moralische Anstalt im Schillerschen Sinn, als »Volksbildungsinstitut«6, das auch ein traditionell eher bildungsfernes Publikum erreichen, also jedem zugänglich sein soll, wenn erforderlich zu verbilligten Preisen. Sein Spielplan richtet sich vor allem nach ethischen, weniger nach kommerziellen Gesichtspunkten, die Operette ist für ihn die »Pestbeule am Leibe des Theaters«7, doch steht das Streben nach Qualität in stetem Konflikt mit dem Zwang zur Quantität, die nötig ist, um die verschiedenen Abonnementreihen zu bedienen.8 An Max Reinhardt orientiert, besetzt er nicht nach den traditionellen Rollenfächern, sondern gemäß dem jeweiligen Inszenierungskonzept und nach der Individualität der Schauspieler. Unter der Ägide des impulsiven, oft unbequemen Alberty, der so ausschließlich für das Theater lebt, daß er dort sogar übernachtet9, haben die Vereinigten Stadttheater zu Kiel den Ruf eines aufregenden zeitgenössischen Theaters und gelten als Talentschmiede.

      Gründgens’ Verhältnis zu Böhmer ist nach ihrer Ankunft in Kiel distanziert geworden: »Ich habe es gänzlich aufgegeben, auf einen wirklich freundschaftlichen, ernsten Verkehr mit Hanns zu kommen. Es geht nicht mehr, wir sind doch wohl zu verschieden. Er benimmt sich momentan hier unmöglich; er tut mir furchtbar leid, und ich schätze ihn in seiner Art auch heute noch sehr, nur kann ich ihm nicht mehr helfen.«10 Doch Gründgens findet im Schauspielensemble, das in der Saison 1921/22 aus sechzehn Herren und zwölf Damen sowie vier Eleven besteht, schnell Kontakt. Er freundet sich besonders mit Florian Kienzl an, der den Schauspielberuf bald aufgeben, ein renommierter Theater-, Film- und Literaturkritiker in Berlin werden und auch seinen einstigen Kollegen Gründgens rezensieren wird, und mit der soeben aus Frankfurt nach Kiel gekommenen Erna Heicke, die wie Gründgens in der Blücherstraße 9 wohnt, wo dieser im zweiten Stock »eine entzückende 2-Zimmerwohnung«11 gemietet hat. Eine enge künstlerische wie persönliche Beziehung geht er mit dem versierten Oberregisseur des Schauspiels, Clemens Schubert12, ein, der mit dem ebenfalls in Kiel engagierten Bariton Fritz Gabsch zusammenlebt. Unter Schuberts Regie spielt Gründgens unter anderem den Baron in Maxim Gorkis NACHTASYL, den Chevalier in Stefan Zweigs Einakter DER VERWANDELTE KOMÖDIANT, Fred O’Brixor in Heinrich Manns VARIETÉ (»Überreizt, höchst erregbar, nervös! Grotesk in den Verrenkungen am Klavier! Rasend leidenschaftlich. Eine wahre Komödiantenleistung!«13, notiert der theaterbegeisterte Gymnasiast Bernhard Minetti), den Dichter Alexander Weihgast in Arthur Schnitzlers LETZTEN MASKEN und in Herbert Eulenbergs erfolgreicher Posse BELINDE die Rolle des geckenhaften Hyazinth, der mittels einer Annonce eine Frau zu finden versucht, sich bald in eine unbekannte Brieffreundin verliebt und entsetzt reagiert, als sich diese beim persönlichen Kennenlernen als Mann entpuppt.

      In mindestens 39 Inszenierungen wird Gründgens in der Saison 1921/22 beschäftigt – und keineswegs nur als Charge. Kein Wunder, daß er Renée Stobrawa schreibt: »Morgens um 9 ¼, mittags um 3 und abends um 7 Uhr Probe. Es ist wirklich zu viel. Und ich bin kaum in einem Stück frei. Den Etzel14 habe ich abgegeben. Es ist mir doch zu riskant, in einer solchen Rolle vor die Presse zu kommen. Ich habe dafür den Waldschrat in VERSUNKENE GLOCKE bekommen, der mir viel mehr Freude macht. Ach Du, eigentlich geht es mir recht gut hier.«15 Nicht zuletzt reüssiert er als Protagonist klassischer Dramen: Seinen Einstand gibt er am 11. September als Werbel in KRIEMHILDS RACHE, dem zweiten Teil von Friedrich Hebbels NIBELUNGEN. Am Abend darauf stellt er den bereits in Halberstadt gespielten Marinelli in Lessings EMILIA GALOTTI mit »Energie und Prägnanz« als wendigen »Aventurero, jenseits von Gut und Böse«, dar, nicht analysierend, sondern ganz »aus seiner Spielfreudigkeit heraus«16, aber immer mit genauer Selbstkontrolle, »ein Mienenspiel, das jeder Gedankenregung folgte, eine Beherrschung des Wortes, die jeder Silbe ihren Wert einprägte«17, so die Kieler Zeitung. Danach verkörpert er so wesentliche Rollen wie den Weislingen in GÖTZ VON BERLICHINGEN – »eine im großen und ganzen brave Leistung«18, meint Fritz Wichmann in den Kieler Neuesten Nachrichten verhalten –, den Isolani in WALLENSTEINS TOD, den Leicester in MARIA STUART (»sehr sehr gerne«19) und den Herzog in Goethes TORQUATO TASSO. Er gibt den melancholischen Jaques20 in Shakespeares WIE ES EUCH GEFÄLLT und das ebenso zimperliche wie störrische Muttersöhnchen Atalus in Grillparzers WEH DEM, DER LÜGT. Für einige Vorstellungen übernimmt er Clemens Schuberts Rolle des Oswald in Ibsens GESPENSTERN: »[…] es war einer meiner schönsten Theaterabende«, berichtet er seiner Mutter stolz: »Und ich war auch sehr gut, wie man mir schriftlich und mündlich versichert.«21 Am 20. April 1922 springt er in Goethes FAUST für den erkrankten Kollegen Paul Haag als Mephistopheles ein. Die Titelrolle in Clemens Schuberts Inszenierung gibt wie in der Premiere der Heldendarsteller des Kieler Theaters, Hans Alva, das Gretchen hat ebenfalls neu die später in Frankfurt als Charakterspielerin reüssierende Elisabeth Kuhlmann übernommen. Gleich in drei Rollen, als Erzengel Raphael, Altmayer und Valentin, steht Ernst Busch auf der Bühne – Gründgens wird Mitte der 40er Jahre im Leben Buschs eine ebenso entscheidende Rolle spielen wie dieser in dem seinen. Der Rezensent der Kieler Neuesten Nachrichten lobt die »behende Hagerkeit und ebenso kalte wie scharfe Dialektik« des Mephisto-Darstellers Gründgens: »In jedem Augenblick auf das Bildhafte seiner Erscheinung bedacht, brachte er alle die geistvollen Aussprüche, die ein Kulturwert des deutschen Volkes geworden sind, mit innerem Verständnis und in virtuoser Sprachbehandlung. Wenn hier und da eine Geste nicht frei von Theatralik war – u.a. in der Schülerszene –, so war Herr Gründgens doch durchweg ein lebhafter, geistreicher, eleganter Teufel, der auch den Schalk besonders zur Geltung brachte.«22

      Fünf Wochen zuvor war der 48jährige Max Alberty in der Nacht auf den 15. März 1922 völlig überraschend an einem Herzinfarkt verstorben. Gründgens, dem Alberty eine weitere Spielzeit in Kiel, nun sogar mit einer Jahresgage von 30000 Mark und den Hauptrollen in Franz Werfels Verstrilogie SPIEGELMENSCH und in Schillers FIESCO, angeboten hatte (»Diesen beiden Aufgaben kann doch kein Menschen widerstehen, nicht?«23 so Gründgens damals), muß sich nun eine neue Verpflichtung suchen. Als sich die Aussicht auf »eine glänzende Position mit einer Riesengage«24 an den von Saladin Schmitt geleiteten Vereinigten Stadttheatern Bochum-Duisburg zerschlägt, entschließt er sich relativ kurzfristig zu einem weit weniger prestigeträchtigen Engagement am Theater in der Kommandantenstraße in Berlin, denn dorthin geht als Oberspielleiter Clemens Schubert, und mit ihm wechseln auch die Schauspieler Florian Kienzl und Elisabeth Bechtel.25 Am 2. Juni unterzeichnet Gustaf Gründgens seinen vom 15. Juli 1922 bis zum 31. Mai 1923 gültigen »Normalvertrag«, zehn Tage später gibt der »eigenwillig begabte Künstler«26 in der Titelrolle von Friedrich Sebrechts Tragödie KLEIST27 seine Kieler Abschiedsvorstellung.

      In Berlin erhält Gründgens für seine Tätigkeit als jugendlicher Bonvivant und Charakterspieler eine Monatsgage in Höhe von 5000 Mark, doch das ist angesichts der Inflation keineswegs viel. Allein für eine Mahlzeit muß er mit 35 bis 45 Mark rechnen, für das möblierte Zimmer, das er ab 1. August gemietet hat – zuvor kommt er für eine Nacht bei seinem Kollegen Kienzl, dann bei einem Freund von Schubert unter –, bezahlt er 1000 Mark. Es liegt in der Wohnung der Architektenwitwe Wally Langer-Wagner im vierten Stock der Augsburger Straße 54, nur wenige Häuser entfernt von einem der bevorzugten Theaterlokale, in dem Stars wie Emil Jannings, Fritzi Massary und Conrad Veidt ebenso verkehren wie die vielen, die es noch nicht geschafft haben: der Bierstube von Änne Maenz, Berlins populärster Künstlerwirtin, die immer bereit ist, einen mittellosen jungen Schauspieler mit ihren berühmten Bouletten durchzufüttern. »Ehe man in Berlin die billigen Lokale ausfindig gemacht hat, vergeht eine Menge Zeit«, berichtet Gründgens seinen Eltern und klagt etwas selbstmitleidig über die »unbarmherzige, kalte, grausame Stadt«28. Noch vor Probenbeginn wird die erste Teuerungszulage von 2000 Mark bewilligt. Rasch klettert die Gagensumme in eine astronomische Höhe, reicht aber dennoch nie zum Lebensunterhalt aus; die Inflation wird denn auch Hauptgrund für das Scheitern des ambitionierten Theaterunternehmens sein. Der neue Unterpächter des zur Metropol-Theater AG gehörenden Theaters in der Kommandantenstraße ist »ein Doktor Poell unbekannten Ursprungs«29, wie Alfred Döblin im Prager Tagblatt kolportiert. Der ehemalige Innsbrucker Zahnarzt Eugen Poell hat, um

Скачать книгу