Скачать книгу

geschah? Drohte ihn sein Gedächtnis zu verlassen? Er hatte die Empfindung, die Gegend nicht mehr genau zu kennen, trotzdem er hätte schwören mögen, sie jedermann mit geschlossenen Augen bezeichnen zu können. Sein Blick hatte die Klarheit eingebüsst, Flimmern schwamm vor seinem Auge, und die Einbildung peinigte ihn, seine Sinne könnten sich plötzlich verwirren.

      Der Anblick des schwarzen Wassers zu seinen Füssen stimmte ihn noch trauriger, und so eilte er hastig den Lichtern des Lehrter Bahnhofes zu, wo er den Kutscher einer leeren Droschke anrief. Er befahl, rasch zu fahren. Kaum sass er eine Weile drin, so beunruhigte ihn die Enge des geschlossenen Raumes. Er glaubte ersticken zu müssen und atmete erst auf, als er die eine Scheibe heruntergelassen hatte.

      „Wenn ich nur erst zu Hause wäre,“ war fortwährend sein Gedanke, als er die Strassenbilder an sich vorüberziehen liess und das Getöse der Wagen mit seinem zitternden Geräusch seine Nerven widerwärtig berührte.

      Er bewohnte im zweiten Stockwerk eines alten Hauses drei möblierte Zimmer, die er von der Witwe eines höheren Subalternbeamten abgemietet hatte, die sich mit ihrer angejahrten Tochter durch diese Beihilfe das Leben angenehmer zu machen suchte, da die kleine Pension für beide nicht ausgereicht haben würde.

      Die Frau Rechnungsrat Kolbe war eine behäbige, gutmütige Dame, die „ihrem Doktor“, wie sie von Hauff stets sprach, sehr gewogen war, um ihm das Wohnen bei ihr aus erklärlichen Gründen so angenehm als möglich zu machen, und zwar noch mehr seit dem Tage, wo er mit seiner einstigen Braut schlimme Erfahrungen gemacht hatte. Dadurch hoffte sie Gewähr zu haben, ihn noch recht lange als Junggesellen bei sich zu sehen.

      „Ich habe Ihnen ja immer gesagt, Herr Doktor, Sie sollen nicht so viel arbeiten,“ sagte sie, als er sich ächzend in einen Fauteuil geworfen hatte. „Vormittags in der Bibliothek, dann die vielen Ausstellungen und schliesslich bis in die Nacht hinein schreiben — das würde kein Riese ausgehalten haben.“

      „Die Arbeit allein hat’s nicht gemacht,“ wehrte er ungeduldig ab.

      „Na ja, ich glaube es ja. Die dumme Geschichte steckt Ihnen immer noch im Kopf. Einmal aber muss man doch vergessen. Sie haben sich doch ein ganzes Jahr lang betäubt.“

      Er winkte ihr ab, und sie sprach nicht weiter darüber. Er wusste am besten, weshalb er die Erinnerung nicht zu bannen vermochte, die mit ihrem schwermutsvollen Gesicht immer wieder zurückkehrte und eine Zufluchtsstätte in seinem Herzen fand. —

      Er ging früh zu Bett, ohne etwas zu essen, weil er keinen Appetit verspürte. Trotzdem der Spaziergang ihn ermüdet hatte, vermochte er nicht den Schlummer zu finden. Der Körper war matt, aber der Geist blieb frisch. Jedesmal, wenn er glaubte, langsam einzuschlafen, schreckte er jäh zusammen. Sein Herz schlug erregt, und so wälzte er sich, in Schweiss gebadet, stundenlang auf seinem Lager.

      Von Angst gepackt erhob er sich, zündete die Lampe an und ging eine halbe Stunde lang durch das Zimmer, weil er hoffte, dadurch ruhiger zu werden. Vergebene Mühe. Kaum im Bett, floh ihn wieder der Schlaf. Abermals erhob er sich und öffnete das Fenster, um seinen aufgeregten Nerven die frische Luft zuzuführen.

      Endlich gegen Morgen, als die ersten rötlichen Strahlen der Sonne sich ins Zimmer hinein verirrten, fand er den bleiernen Schlummer des abgematteten Menschen. Und so lag er bis gegen Mittag, erwachend aus einem wüsten Traum. Wundersame Dinge hatten sich abgespielt, auf die er sich allmählich erst besinnen musste, als er, die Hände unter dem Kopf verschränkt, einen dumpfen Druck hinter der Stirn verspürend, nach der weissen Zimmerdecke starrte.

      Er hatte die Unbekannte im Walde gefunden, krank wie er, und plötzlich war seine verflossene Braut dazwischen getreten, war ihm um den Hals gefallen und hatte ihn mit sich fortgerissen, die Unglückliche mit Schmähungen überhäufend. Und so waren sie beide Arm in Arm fortgegangen und hatten die Leidende hilflos zurückgelassen. Die schwarze Nacht war herabgesunken, und stundenlang waren sie so gewandert, bis sie an einen tiefen Abgrund kamen, in den er allein hinunter sollte, und bei diesem schrecklichen Gedanken war er jäh erwacht.

      Noch empfand er die Nachwirkung dieses letzten Vorgangs so sehr, dass er erst allmählich zu sich kam. Was für Tollheiten der unruhige Schlaf schuf. Aber er wurde nicht heiter dadurch gestimmt. Seltsam, dass die Traumwelt diese beiden Frauen zusammenführte, von denen die eine ewig für ihn verloren war und er die andere vielleicht niemals wiedersah. So spielte die erregte Phantasie dem gesunden Organismus die tollsten Possen. Aber es war doch ein schönes Gefühl gewesen, als er Thea Rossig wieder in seinen Armen gehalten, ihren heissen Atem verspürt und die alten Worte der Treue aus ihrem Munde gehört hatte.

      Er wusste, nie würde diese Traumszene wieder verwirklicht werden. Würde seine Seele Befriedigung finden, wenn dieser Zufall einträte? Das freudige Gefühl, das einen Augenblick in ihm aufhellte, verlor sich sofort in seiner dunkeln Stimmung. Ein schwerer Seufzer irrte wie klagend durchs Zimmer.

      Er sah wieder den Tag, wo er sie am Kurfürstendamm kennengelernt hatte. Im Hause der Riemanns, die alle Welt zu sich luden, um eine möglichst bunte Salontapete zu haben. Er nannte sich Fabrikant, machte aber stark „in Häusern“ und war in gesellschaftlicher Beziehung nur der Ja- und Neinnachbeter seiner Frau, die ihre Lebensaufgabe darin erblickte, Pärchen zusammenzuführen, deren gegenseitige Neigung sie witterte und von denen sie annahm, sie könnten zeitlebens zueinander passen. Alles hübsch in Ehren, ohne Provision und moralische Verpflichtung.

      In dieser Beziehung hatte Frau Riemann immer das schöne Wort von ihrer grossen Lebensaufgabe bereit — frei nach Ibsen. Es gab mageres Büfett, schlechten deutschen Sekt und zum Schluss ein kurzes Tänzchen. Aber man ging doch gern hin, weil die Lustigkeit vorherrschte, immer etwas Neues zu sehen war und die girrenden Täubchen ein- und ausflatterten. Selbstverständlich unter einwandfreiem Familienschutz.

      Es wurde auch musiziert und gesungen, und der Mittwoch-Abend war in dieser Beziehung der Schrecken der Nachbarschaft. Alles, was Talent in sich fühlte, konnte flöten, geigen und klavierfimbeln, wie der terminus technicus der boshaften Salonstreicher lautete, die sich vor jedem derartigen Angriff in die „Katakomben“ zurückzogen —, in die zwei dem Musikzimmer entferntest liegenden Räume, deren Türen mit Polster versehen waren, und wo der dicke Hausherr bei einer guten Importierten und echtem Hennessy sein beschauliches Dasein führte. Auf gute Zigarren und guten Kognak hielt er etwas, die Abfütterung überliess er seiner Frau, denn an solchen Abenden hatte er in der Regel schon vorher gut gespeist.

      „Seien Sie vorsichtig, lieber Doktor, denn Thea hat ihre Mucken,“ hatte Frau Riemann zu Hauff gesagt, „Geld ist da, und Neigung für Sie auch, aber sie schielt gern nach anderen. Nur nicht lange bei der Vorrede aufhalten.“

      Die Folge davon war, dass er sich nur noch rasender in Thea verliebte, in diese überschlanke Dunkelbrünette, die ihr Vogelköpfchen kokett nach allen Seiten wiegte, während sie so tat, als scherzte und spräche sie nur mit ihm allein. Sie war die Tochter eines Ingenieurs, dessen Fach Entwässerung war und der sich daher viel auf Reisen befand. Dadurch war ihre Erziehung etwas entgleist, und so nippte sie mit ihrer vergnügungssüchtigen Frau Mama in allen Salons herum.

      Hauff gab seinen würdigen Eltern in Magdeburg den nötigen Wink, und so tanzte der asthmatisch veranlagte Obersteuerrat a. D. nebst Gattin eines Abends bei Riemanns an, um die Ausersehene diskret in Augenschein zu nehmen. Hauff senior gefiel nur der „Dreisternige“ und die Importierte mit der Leibbinde — für das übrige hatte er keinen Geschmack.

      Um so behaglicher fühlte sich die Frau Steuerrat, die das Leben hier mit dem bekannten Dasein des lieben Gottes in Frankreich verglich. Die Hummermayonnaise, die bis zum Überdruss das kalte Büfett zierte, hatte es ihr besonders angetan. Sie fand zwar Thea etwas „windig“, um so angenehmer aber die Frau Ingenieur, deren riesige Brillantboutons ihren Blick immer aufs neue bannten. „Du musst es ja am besten wissen, mein Junge, wenn du sie liebst ...“ war schliesslich ihr letztes nachgiebiges Wort.

      Die Verlobung kam auch richtig zustande. Drei Monate schwelgte Hans in stiller und lauter Wonne, als er einen anonymen Wink bekam, auf Thea ein aufmerksames Auge zu haben. „Machen Sie Ihrem Fräulein Braut nächsten Sonnabend zwischen elf und zwölf Ihre Aufwartung, dann werden Sie das Wunder erleben,“ schloss die

Скачать книгу