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ich meinen ersten schwarzen Mantel plitschnaß von Niesei oder Regen vor mir. Nicht weil mich auf dem Weg mit dem Essen ein Schauer überraschte, sondern weil es in meiner Erinnerung pausenlos regnete, bis der Zweite Weltkrieg ausbrach und auch armen Leuten etwas Sonnenschein in Form von barem Geld brachte sowie die Kenntnis einer besseren, wenn auch kriegerischen Welt jenseits unseres ruhigen, endlos weiten Meeres. Mit der Ankunft der Soldaten stellten sogar die Kinder fest, daß es erwachsene Menschen in der Welt gab, die nicht nur das eine Vergnügen kannten, Kinder zu ärgern, zu zwicken, an den Ohren zu ziehen, ihnen eine Kopfnuß oder eine Abreibung zu verpassen oder ihnen mit der Schuhspitze in den Hintern zu treten und zu fragen:

      – Gefällt dir das und meinst du, ich könnte es deiner Mutter auch mal schnell besorgen?

      Das Seltsame, das einen manchmal ganz durcheinanderbrachte, war der Widerspruch, daß die netten Ankömmlinge Soldaten waren, zu nichts anderem zu gebrauchen, als mit ihren Waffen andere Soldaten umzubringen. Im Ausland also freute der Mensch den Menschen in andauernden Kriegen; da war das gegenseitige isländische Hänseln doch besser. Das war die allgemein verbreitete Meinung über die Ankunft der Besatzungsarmee. In den Köpfen der Kinder aber stellte sich die Frage: Wenn schon Soldaten so freigebig Schokolade und Freundlichkeiten austeilten, wie mochten dann erst die übrigen Menschen sein, die nicht in der Armee dienten, sondern in ihren Heimatländern ein friedliches Leben führten und nichts weiter im Sinn hatten, als mit gut riechender Schuhcreme ihre Schuhe zu putzen, sich den Wohlgeruch glänzender Brillantine ins Haar zu reiben und dann aus ihren grünen Zelten zu treten, um in der Abendruhe eine ebenfalls duftende Zigarette zu rauchen?

      Es war kaum vorstellbar, daß solche Menschen sich einen Spaß daraus machten, auf kleinere Kinder zu pinkeln, damit sie merkten, wie salzig, süßlich, bitter und warm ihr Urin nach Tüchtigkeit schmeckte.

      Was früher eine unbestimmte Vermutung gewesen war, wurde zur Gewißheit: Jenseits des Meeres, das wir als kleine Kinder so gern ärgern wollten, lagen andere, zivilisiertere Welten, viel besser als die friedliche, in der wir lebten, auch wenn sich die Menschen dort im Krieg befanden. Die Konvois von Kriegsschiffen, die südlich von Nes am Horizont entlangfuhren, zeugten davon.

      Ich stand oft mit Blick über die Brandung am Ufer und hielt nach dem Unbekannten Ausschau, ehe ich mit einem Stock in den Tangbüscheln danach zu stochern begann, ob nicht ein wertvolles Bruchstück jener verborgenen Welten an Land gespült worden war, und sei es nur eine Flasche mit einem seltenen Verschluß. Wenn man ihn öffnete, wäre vielleicht noch der Rest eines wunderbaren Dufts darin. Vielleicht fand sich sogar eine Glühbirne – obwohl wir nicht einmal wußten, was das überhaupt war – oder eine Dose mit schwarzer Schuhwichse, oder man hatte womöglich einmal das unverschämte Glück, daß ein Kriegsschiff explodiert war und Dinge aus seinem Wrack angespült wurden. Üblicherweise fanden wir nur den einen oder anderen Seehasen als eine Art Entschädigung des Gaumens für all das Entgangene.

      In der Bucht unterhalb des Saumpfads fand diese Suche erst viel, viel später statt. Der Untergrund war noch immer, wie er vom Anbeginn der Wege an gewesen war, mit vereinzelten harten Grasbüscheln bewachsener sandiger Erdboden. Es war kein Ton zu hören, außer den Geräuschen der Natur, dem Brausen des Seewinds und dem Geschrei der Vögel. Maschinengeräusche hatten die Ruhe noch nicht gebrochen. Am Ende des letzten Abhangs tasteten wir uns vorsichtig um den Rand einer Felsnase und kamen in eine tiefe sandige Mulde voll mit wurmstichigem, von der See geschliffenem Treibholz, dicken Stämmen und dürren Ästen, die mit viel Phantasie nach fernen Ländern dufteten. Dieses weiße Holz war nicht über das Meer getrieben, um in unserem zukünftigen Herd verfeuert zu werden, sondern es gehörte dem Grundbesitzer, der auch das Strandrecht besaß. Etwas vorgelagert befanden sich Felsnischen mit steilen Wänden, in denen sich ohne Unterlaß mit heftigem Getöse die Wellen brachen und diejenigen mit schäumender Gischt übersprühten, die sich auf die Steine hinauswagten. Wenn wir allein waren, hatten wir unseren Spaß daran, diesen Schaum auf unsere wasserdichten Mäntel spritzen zu lassen, die so weit geschnitten waren, daß wir sie über die Köpfe ziehen und uns geschützt darunterkauern konnten, um trockenen Fußes zu hören, wie die See auf das Wachstuch einprasselte.

      Doch wenn Mutter dabei war, durften wir keinen Quatsch machen, wie unsere Spiele immer genannt wurden. Sie konnte mit derartigem Unfug nichts anfangen, denn auf eine gewisse Weise war sie niemals Kind gewesen. Ihre Mutter hatte sie schon früh in die Verantwortung genommen und sie zu einer Art zweiter Mutter für ihre Geschwister gemacht, sobald sie sich irgendwie nützlich machen konnte. Kinder waren für ihre Eltern nichts weiter als überflüssige Esser, bis sie endlich zu etwas nutze wurden.

      Rot vor Scham und Reue, weil sie eigene Ansichten über so unantastbare Menschen wie die eigenen Eltern hegte, sagte meine Mutter über ihre eigene:

      – Mama war mehr für die Arbeit im Freien als im Haus. Sie war immer in Umständen und lud die Kleinen dann neben der übrigen Hausarbeit bei mir ab.

      Ihre Worte waren nicht ohne Bitterkeit. Am Ende warf sie mit einem heftigen Kopfschütteln ihre Zöpfe, mußte schwer durchatmen und sich manchmal sogar hinsetzen. Quälender Zweifel schien in ihre Augen zu treten, und sie atmete tief durch, damit sie fortfahren konnte:

      – Ich wußte eigentlich nie, was ich selber war. Ein Kind jedenfalls nicht.

      Danach machte sie eine Pause, vielleicht um abzuwarten, ob Gott sie auf der Stelle mit einem Blitz erschlug oder ihr undankbares Herz anhielt, weil sie eine unfreundliche oder gar sündige Meinung über ihre Mutter geäußert hatte. Doch das tat er nicht, und um ihre Fortexistenz zu bekräftigen, fügte sie abschließend hinzu:

      – Ich mußte immer nur arbeiten und wurde dafür auch noch geprügelt.

      Dann ging sie in die Küche, und man selbst blieb mit den Schlägen seines Herzens zurück und lauschte, wie sie dumpf in der Brust klopften, und zugleich hörte man die Stille rund ums Haus.

      Als sich Großmutter und Großvater scheiden ließen, scheint Oma lieber meine Mutter als die jüngeren Kinder mit sich genommen zu haben, damit sie auf ihre zukünftigen Halbgeschwister aufpassen und das Essen kochen konnte. Da war sie zehn Jahre alt. Nützlichkeit, Verwendbarkeit ging allem anderen vor, und das Miteinander der Menschen glich häufiger einem geschäftlichen Vorgang als zwischenmenschlichem Umgang. Auf diese Weise ist bei den meisten das Gefühlsleben verstümmelt worden; niemand lebt von der Nützlichkeit allein, am allerwenigsten im Seelischen, denn wirkliche Nützlichkeit – ebenso wie die, die etwas mit dem wirtschaftlichen Wohlstand eines Volkes zu tun hat – sollte eine Folge von Menschlichkeit und Rücksichtnahme sein. Mit diesen beiden Eigenschaften als Wegweisern läßt sich auf vernünftige Weise herausfinden, was jedem einzelnen liegt und seinem Leben dient. Nützlichkeitsdenken allein führt früher oder später zur Sklaverei, wie es ungebremster Utilitarismus zu allen Zeiten tut, wenn es auch vielleicht nicht genau die gleichen Formen annehmen wird wie zur Zeit meiner Eltern. Ebenso wird es zur gewalttätigen Herrschaft eines einzelnen oder einer Gruppe über andere führen, seien es Verwandte oder Unbekannte, Unternehmen oder politische Bewegungen. Nützlichkeitsdenken entspringt nämlich der elterlichen Gewalt, und es trägt ihre Züge, besonders die des Denkens der Mütter und dessen, was die Natur auf ihre Schultern geladen hat, indem sie sie die Kinder zur Welt bringen läßt – allein gemäß ihrer Natur, aber nicht durch ihre freie Entscheidung.

      Mama hatte schon in ihrer Kindheit die Nase voll von Kindern und mehr als genug von ihrem endlosen Genöle, lange ehe sie selbst Kinder bekam und unvermeidlich Mutter wurde, jedenfalls körperlich. Doch wegen der Erziehung, die sie von ihrer Mutter erhalten hatte, und die von ihrer Mutter und die wiederum von ihrer und so fort ad infinitum, konnte sie zwischen echter Fürsorge und reinen Nützlichkeitserwägungen oft nicht unterscheiden und glaubte, der Umstand, daß ihre Mutter die große Tochter für zu etwas nutze hielt, sei ein Zeichen von Liebe und Zuneigung gewesen. Manchmal schienen ihre Gefühle und ihr Mund nicht gleicher Meinung zu sein, und so sagte sie:

      – Meine Mutter hat mich vorgezogen. Alles hat sie auf mich abgewälzt.

      Manchmal war es eigenartig, ihr Kind zu sein, ihre Bitterkeit zu hören und selbst Mitleid mit ihr zu fühlen, fast schon von dem Moment an, wo man selbst überhaupt erst ein Gefühl für Mitleid entwickelte. Nicht weniger empfand ich rätselhafte Schuldgefühle und hatte

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