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sein mußte, sich also selbst Chef und Untergebener zu sein, galt als die höchste Tugend.

      Sommer für Sommer bestand unsere Aufgabe darin, Steine aus dem umgegrabenen Land zu lesen und ihnen sorgfältig die Erde abzureiben als Mutterboden für das Kartoffelbeet, auf das im nächsten Frühjahr Braunalgen aufgebracht wurden.

      In den ersten Tagen nach Vaters Abreise latschten wir unserer Faulheit zum Trotz aufs Feld und begannen pflichtschuldig, doch ohne große Begeisterung, Steine zu roden.

      Der Regen klatschte auf Steine und Geröll, von dem der ihm eigentümliche Geruch aufstieg. Wir versuchten, so viele Steine wie möglich auszugraben, merkten aber bald, daß unter jedem Stein weitere steckten; nicht einer oder zwei, sondern doppelt so viele, wie wir ausgegraben hatten, immer mehr und immer größere Steine, ohne Ende. Das Erdreich nahm beständig ab, je tiefer wir gruben, die Erde war voller häßlicher Steine.

      – Was ist das für ein Mist? fragte mein Bruder und hörte auf.

      Ich machte weiter, denn ich war mein eigener Herr, ob es nun wenige oder viele Steine gab und ob mein Vater nun hinter mir stand oder weit weg war.

      Am Ende glaubten wir, es sei besser, die Saatkartoffeln einfach gleich zwischen die zerbröselten Steine zu legen, als weiterhin nach Mutterboden in der Erde zu buddeln. Als wir zu diesem Resultat gekommen waren, erreichte die Faulheit beim Roden ihren Höhepunkt, und wir stellten es nach und nach ein, sonst hätten wir uns ohne Zweifel durch die Erde gegraben und am Ende unserer Tage die Fußsohlen der Chinesen gesehen, ohne mehr Erdreich als für die paar Kartoffelpflanzen zu finden, deren Ertrag kaum zur Hälfte den Blecheimer füllte, den Mutter für alles benutzte. Sie wässerte darin den Salzfisch, nahm Schwimmblasen aus, füllte Wischwasser zum Putzen hinein, sammelte darin Kartoffeln und verbrauchtes Spülwasser und weichte unsere Strümpfe darin ein.

      – Ihr schafft auch überhaupt nichts und werdet einmal die größten Taugenichtse, sagte Vater, wenn er von seinen Gelegenheitsarbeiten zurückkam und zum Feld hinaufging, um zu inspizieren, was wir geleistet hatten und ob wir auch unsere Jahresmenge an Steinen ausgegraben hatten, die um den heiligen Gemüsegarten zu einer Mauer aufgeschichtet werden sollten, und um das Kartoffelbeet, für das ich mich nicht im geringsten interessieren konnte, ehe am Kartoffelkraut die blauen oder blaßrosa Blüten aufgingen.

      Mein Vater versuchte nicht etwa, uns durch seine körperliche oder geistige Anwesenheit zur Nachahmung anzuregen. Stets verrichtete er irgendwo anders Knochenarbeit. Was er eigentlich zu seinem Lebenswerk hätte machen wollen, verrichtete er in seiner Freizeit oder zwischen zwei Aufträgen. Das Zimmern war seine Privatangelegenheit. Man durfte ihn daher auch höchstens einen winzigen Zipfel von dem Bereich des Gefühlslebens sehen lassen, der eigentlich keineswegs nur einem selbst Vorbehalten, sondern auch als Geschenk für andere gedacht ist. Dieser Bereich besteht besonders aus dem Wunsch, mit anderen Freude und Leid und Verständnis zu teilen und Leben und Arbeit in Gemeinschaft zu verbringen, und er ist so etwas wie die Suche nach Anleitung und Führung durch die Eltern, einer der dringlichsten Wünsche von Kindern. Kinder dürsten geradezu nach ihren Eltern, doch wenn die Menschen in der Ehe einmal so weit sind, Kinder zu bekommen, dann dürsten sie oft längst nach anderem.

      Gewöhnlich bekommt man in der Kindheit weder geistig noch körperlich genügend Zuwendung von seinen nächsten Anverwandten, sondern eher ein Gefühl der Leere, gemischt mit Langeweile und einem geheimnisvollen Sehnen, Verlangen und unlöschbarem Durst, den das Kind irgendwann später im Leben mit übermäßigem Trinken stillen oder vertreiben will. Jedenfalls hierzulande. Wenn die Menschen anfangen, Kinder zu bekommen und Eltern zu werden, sind sie entweder selbst noch zu sehr Kind, um Gefühle für ihren Nachwuchs zu hegen, oder zu erwachsen und lebenserfahren, um noch den Begleiter und manchmal auch Gleichgesinnten ihrer Kinder zu spielen. Die Eltern sitzen in irgendwelchen Teufelskreisen des Lebens fest, und die Kinder sind anfangs wonnig und noch ganz gut zu handhabende Spielzeuge; doch die Erwachsenen verlieren den Spaß an diesen Spielzeugen, wenn sie älter werden und selbst bestimmen möchten. Später wollen die Spielzeuge dann irgendwann unweigerlich sogar frech die Spielzeugfabrikation leiten. Der Lebenswille tauscht die Rollen aus. Die Spielzeuge versuchen ihre Eltern in Apparate zu verwandeln, die nur noch dazu da sind, ihnen alles in die Hände zu spielen. Und dann ist da auch noch dies, ebenfalls ein Gesetz: Die Kinder haben ihre Eltern vom Tag der Geburt an wahrgenommen und beobachtet. Die Eltern aber waren schon reif und erwachsen, als sie die Kinder bekamen, und das Erwachsensein macht sie selbstbezogen und lenkt sie von den Kindern ab, sie haben den Kopf voll eigener Probleme.

      Zunehmendes Alter bringt es mit sich, daß sich Eltern immer weniger in ihre Kinder hineinversetzen können.

      – Sie sind aus den Kinderschuhen herausgewachsen, und ihr Gefühlsleben ist verholzt, sagte meine Mutter dazu.

      Wenn es hoch kommt, sind Eltern sauer eingelegte Reste der Kinder ihrer Eltern, aber nicht die Eltern ihrer Kinder, und sie haben mehr von ihren Eltern in den Köpfen als sie für ihre Kinder im Gefühl haben.

      Die Natur und das Wesen des Menschen haben ihn so geprägt, daher ist der Abstand zwischen Eltern und Kindern fast unüberbrückbar, außer im Wunschdenken.

      Mein Vater war durch seine ferne Nähe und Fremdheit interessant, so daß man sich mit ihm eher wie mit einem Wunschbild verbunden fühlte, als daß er sich auf unsere Denkweise eingelassen hätte, die auch komisch oder, gelinde gesagt, zu dumm und unreif für ihn war. Unsereins hingegen zerbrach sich ständig den Kopf und fragte sich, was er eigentlich für ein Mensch sei; und so weckte er früh die gesunde Frage, die für die geistige Reife und Selbständigkeit von Kindern im späteren Leben so wichtig ist:

      Wer ist mein Vater eigentlich?

      Wer ist meine Mutter?

      Wenn ich meinen eigenen Weg finden will, muß ich etwas über sie wissen, unbeeindruckt von den verklärenden Legenden, die sich um die Eltern rankten.

      – Normalerweise fragen sich Kinder so etwas nicht, sagte meine Mutter. Viele Eltern wecken eben nicht einmal Fragen bei ihren Kindern.

      Das kommt entweder daher, daß es den Kindern an Phantasie oder Gefühlswärme mangelt, oder die Eltern waren das, was man unbedeutend nennt, und weckten keinerlei geistige Unruhe. Derartige Kinder verschwenden keinen Gedanken darauf, was für Menschen ihre Eltern sein könnten. Manchmal liegt das daran, daß die Eltern gewisse Bedürfnisse bei ihnen weckten, die sie später nach eigenen Vorstellungen stillten, um sie auf dem weiteren Lebensweg loszuwerden, anstatt das wachsende Problem in ihren Köpfen zu verankern, dem Kinder so schwer ins Auge sehen können.

      Man könnte meinen, Eltern seien das heikelste Problem für ihre Kinder, bis diese ihnen, selbst erwachsen, im stillen mit dem scheinheiligen und gehässigen Satz für ihr Sterben danken:

      Ich glaube, Vater wäre froh, daß er endlich Ruhe gefunden hat.

      Im fortgeschrittenen Alter dann erwacht bei nachlassendem Verstand und mit zunehmender Aufdringlichkeit die zähe Frage:

      Wer waren meine Eltern?

      Doch dann ist alles zu spät. Die Kinder kommen zu keinem Ergebnis, und das Schuldgefühl brennt. Die mutigen, klugen, geistig selbständigen Kinder aber fragen sich das fast von dem Moment an, in dem sie zu Verstand und einiger Reife gekommen sind, und später fügen sie noch hinzu:

      Wer bin ich, besonders wenn ich mich als Abkömmling meiner Eltern betrachte?

      Männer haben größeren Respekt davor, über ihre Mutter nachzudenken als über ihren Vater, und sie verweigern jegliches Kopfzerbrechen, das von unangenehmen Dingen im Umgang mit ihr ausgelöst werden könnte. Sie wagen es nicht, sich der Frage zu nähern:

      Wer ist meine Mutter?

      Man könnte meinen, die Mutter sei eine Kriminelle oder etwas, über das man sich in herabsetzenden Worten äußern dürfe.

      Die meisten scheuen sie wie ein gebranntes Kind das Feuer. Sie fertigen sie rasch ab und versuchen zu behaupten, daß sie immer nur lieb, nett und gut gewesen sei.

      Die Vorstellungen der Söhne über ihre Mütter sind, wenn kein Vexierbild, so doch vage und gefühlsduselige Zerrbilder. Vielleicht haben sie es verdient.

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