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vermißte er nichts mehr. Da war er nichts als ein Kind unter vielen gewesen und hatte alles mit den Geschwistern teilen müssen, beziehungsweise hatte immer der Frechste alles an sich gerafft. Jetzt verschwand das alles aus seinem Denken, bis auf das Messer und das Holz. So saß und so sitzt er noch immer in einer Mischung aus Erinnerung und Vergessen und schnitzt ständig am gleichen Stück Holz, das in seinen Augen stets ein neues Stück ist.

      Das war mein Vater; in der Erinnerung damals fünf Jahre alt, in Wahrheit sieben, als er mittellos zu seinem Ziehvater kam.

      Fünfzehn Jahre später traf er seine Mutter wieder, nachdem er sie zwar gesucht, sie aber nur aus Zufall gefunden hatte. Da hatte er bis über sein zwanzigstes Lebensjahr hinaus bei seinem Pflegevater gelebt und durfte endlich frei seiner Wege gehen, nachdem er auf See und an Land in verschiedenen Stellungen für ihn gearbeitet hatte, ohne selbst eine Öre zu sehen. Der gesamte Lohn ging an den Ziehvater, um ihn für die Pflegekosten zu entschädigen. Im Keller eines fremden Hauses traf Vater eines Tages seine Mutter. Ohne Essen saß sie dort im Dunkeln mit seiner jüngsten Schwester, die er kaum wiedererkannte. Da entschloß er sich, sie vom Bettelstab zu erlösen und als folgsamer Sohn zu ihr zu ziehen und ihnen ein Haus zu bauen, an einem Ort, der Zu den Katen hieß. Er spürte und wußte, daß das die einzig richtige Entscheidung war, denn im Dunkel des Kellers hatte er eine plötzliche Eingebung gehabt, dort fand er den Sinn seines Lebens und entschloß sich, mit noch mehr Arbeit für seine Mutter und seine jüngste Schwester zu sorgen, da er jetzt in seiner Knechtschaft frei war, so lange zu schuften, wie er im Süden aufrecht auf den Planken eines Trawlers stehen konnte. Was er von nun an verdiente, würde ihm gehören. Von da an bekam er etwas Geld bar auf die Hand, und er hatte eine Mutter und eine Schwester, um die er sich kümmern mußte, das war eine große Veränderung für einen jungen Mann.

      – Ich nehme dich zu mir, hatte er zu seiner Mutter gesagt und sich an sie gelehnt.

      – Ist gut, mein Lieber, sagte sie da.

      Der Hausbau geht weiter

      Die Arbeit mit dem Holz, der Innenausbau des Hauses, das uns noch vor Herbst oder Winter aufnehmen sollte, schritt langsam voran, nachdem die Verkleidung des Fachwerks fertiggestellt war und sich abzeichnete, was einmal die Zimmer werden sollten. Mein Vater schien es mehr zu genießen, in Ruhe und Frieden vor sich hin zu werkeln, als daß es ihm gefallen hätte, etwas zum Abschluß zu bringen, um das Werkzeug zur Seite zu legen und anderswo eine Arbeit annehmen zu müssen. Dann entschloß er sich, es in diesem Jahr überhaupt zu lassen.

      – Wir kommen schon irgendwie über die Runden, sagte er.

      – Wie ich dich kenne, kann ich mir auch kaum etwas anderes vorstellen, sagte der Reeder in Höfn beim Abendessen.

      – Das sollte man wohl meinen, stimmte ihm seine Frau zu.

      Damit war es beschlossene Sache, daß wir den ganzen Sommer und den Herbst über bleiben würden, bis der Bau vollendet war.

      – Die Küche habe ich vor Weihnachten fertig, sagte mein Vater.

      – Sie wird bestimmt sehr schön. Ihr werdet es gemütlich haben in dieser ganzen Pracht, schmeichelte die Frau auf Höfn.

      – Schleich hier nicht herum und halte Maulaffen feil! sagte Mutter zu mir.

      – Der Junge hängt aber auch immer am Rockzipfel seiner Mutter, sagte die Frau des Hauses und meinte, es wäre viel gesünder für mich, an der frischen Luft zu sein.

      Ich hörte, daß die anderen Kinder draußen auf der Treppe unanständige Lieder sangen, und ging zu ihnen, um mitzumachen und selbst Unsinn zusammenzureimen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran; es sollte von der Frau im Nachbarhaus handeln, die uns nie etwas getan hatte.

      Die Fresse von Arnarhvóll,

      die immer »Mund« sagt,

      die stopft ihre Klamotten,

      die stopft ihre Kinder.

      Sie pinkelt und kackt auf sie

      und stopft sie in ihren Pinkelpott.

      Die Jungen von Höfn waren sprachlos über meine Dichtkunst, und ihre Schwester bewunderte mich nicht weniger. Obwohl sie den Inhalt verstanden, waren sie keine Literaturwissenschaftler und hatten daher keine Ahnung davon, daß mein Einfallsreichtum in Wahrheit aufgrund meiner insgeheim gärenden Komplexe von den Worten ihrer Mutter ausgelöst worden war. Ich wusch mir meine eigene Mutter mit diesen schmutzigen Versen auf eine anständige Frau ab, die ich sogar bewunderte, weil in ihrem Haus, das in meiner Vorstellung einem Palast glich, die Türdurchbrüche zur guten Stube bogenförmig gewölbt waren und vor ihnen an Stelle von Türen schwere, rote Vorhänge an Ringen hingen, die über eine hölzerne Stange glitten, so daß man sie mit einer raschen Bewegung auf- oder zuziehen konnte, wobei die Ringe eine himmlische Musik erzeugten, die andere einfach als Geschepper bezeichneten. So verschieden waren die Menschen. Es waren auch nicht alle von meinen Versen begeistert. Am wenigsten meine Mutter. Und Vater sagte:

      – Das ist ungehobelter Mist. Du mußt dir mehr Mühe geben!

      Auch er selbst mußte sich natürlich beim Hausbau Mühe geben, wollte er als tüchtiger – gleichwohl ungelernter – Zimmermann und nicht als Pfuscher oder Hobbytischler angesehen werden. Seine äußerste Sorgfalt führte dazu, daß ein Meister aus Reykjavík, der bemerkt hatte, wie geschickt sich mein Vater anstellte, als er ihm einmal bei der drohenden Überschreitung eines Termins bei Holzarbeiten zur Hand ging – mein Vater war eigentlich zum Zementgießen angestellt –, ihm schon vor Jahren eigens ein Zeugnis ausstellte und ihn ermunterte, einen gültigen Gesellenbrief zu beantragen. Nun tat er es und bekam binnen kurzem eine Urkunde aus gehändigt, die er in einen schwarzen Rahmen faßte. Doch wartete er damit, sie an die Wand zu hängen, bis er das Geld für eine geblümte Tapete zusammenhatte. Auf dem Bogen hinter Glas stand in schwarzen, schmalen und leicht geneigten Lettern Handwerksbrief. Dann folgte der Text.

      Das Dokument erteilte ihm die Genehmigung, »zu privaten Zwecken in einer Werkstatt ein Handwerk auszuüben, gemäß Gesetz Nr. 18 vom 31. Mai 1927«.

      Zuunterst aber stand der ebenso klare wie niederträchtige Satz: »Erteilt gemäß Ausnahmeregelung für außerhalb der Stadt Ansässige bis zum 1. Juli ’37.«

      Dieser sogenannte Handwerksbrief war mit ansehnlichen obrigkeitlichen Schnörkeln vom amtierenden Sýslumann in Hafnarfjörđur am 28.Juni 1937 unterzeichnet. Dementsprechend hatte man meinem Vater nicht gerade besonders viel Zeit für sein Zimmermannsgewerbe eingeräumt. Lediglich drei Tage, sofern es sich nicht um einen Schreibfehler oder eine Achtlosigkeit von seiten des Beamten handelte, weil er an diesem Morgen schlecht gelaunt oder betrunken zum Dienst erschienen war und weder Ort noch Datum, geschweige denn die Jahreszahl korrekt einsetzen konnte.

      In Island waren Vergehen der Obrigkeit gegen das einfache Volk immer etwas Selbstverständliches. Man hielt das für lustig oder für ein willkommenes Gesprächsthema, mit dem sich die Opfer in der ewig sich wiederholenden Ereignislosigkeit des Alltags die Zeit vertreiben konnten. Auf diese Weise wurde den Machthabern nachgesehen, in Ausübung ihrer Amtsgeschäfte jegliche Art von Verstößen mit der Begründung zu begehen, sie seien ihnen nicht aus Bosheit oder Dummheit, sondern lediglich im Zustand der Trunkenheit unterlaufen, der Machtmißbrauch sei nur aufgrund eines Versehens oder eines Schreibfehlers von Untergebenen erfolgt. Trunksucht entschuldigt alles in einer Gesellschaft, in der Kollektivschuld und die bequeme Ansicht herrschen, niemand sei besser als andere. Nichtsdestoweniger wird den Menschen in dieser Gesellschaft unterschiedlich viel Respekt entgegengebracht. Doch es reicht allemal, Klagen von sich zu weisen, indem man behauptet: Ich war voll. Ich kann mich an nichts erinnern. Meine Gedächtnislücken machen mich unschuldig.

      Das Versehen in diesem Fall konnte also willentlich zustande gekommen, ein durchaus üblicher Scherz des Beamten oder eine Gemeinheit gegenüber einem »außerhalb der Stadt Ansässigen« gewesen sein oder sich auch nur der Interpretation des Satzes »Den Menschen freut der Mensch« verdanken, derzufolge eine Amtsperson einen Niedriggestellten in ihrem Büro zum Spielzeug der Langeweile machen darf.

      Damals und eigentlich auch heute noch

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