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Ich vergesse völlig nach Belieben, gab er abwesend zurück.

      Bald neunzig, lebt er weiter auf diesem reichlich von Erinnerungen befahrenen Meer der Vergeßlichkeit, auf dem auch er wacker seine letzte Fahrt zurücklegt, oder er hat sich umgekehrt eine passende Gedächtnislücke zugelegt, die ihn vor Enttäuschungen bewahren soll, obwohl ihm von Tag zu Tag klarer werden muß, daß ein Mensch fern von dem Ort, den er einmal verließ, an den er sich aber ein Leben lang zurücksehnte, in seinem Wunschdenken etwas anderes vor sich gesehen haben muß als die Wirklichkeit, die ihm bei seiner Rückkehr ins Gesicht schlug. Alles ist anders als vor seinem inneren Auge. Er kennt niemanden mehr. Doch obwohl ein solcher Mensch enttäuscht ist und sich selbst vielleicht Vbrwürfe macht, mehr auf Träume als auf das Wachsein zu geben, hat er keine andere Wahl mehr als nun dort auszuharren, wohin er auf der letzten Suche gekommen ist, auf die ihn die Trugbilder des Lebens geführt haben. Deshalb versöhnt er sich mit Hilfe der vertrauten Illusionen erschreckend schnell mit dieser schmerzlichen Erfahrung. Der größte Teil des Alters oder des Altwerdens besteht darin, in einer anderen Traumwelt als in der der Jugend zu leben und zu versuchen, sich damit abzufinden, so weit Gedächtnis und Erinnerung erlauben, sowie in der Fähigkeit, die dazu nötige Vergeßlichkeit aufzubringen.

      – Ich bin eigentlich mit dem zufrieden, wovon ich immer geträumt habe, sagte er und legte sich nach dem Kaffee mit einem zufriedenen Seufzer auf seine Liege.

      Wir waren gerade vom Speisesaal zurückgekommen. Ich hatte durch das Fenster die Berghänge betrachtet oder versucht, eine Konversation über anderes in Gang zu helten als das Alter der übrigen Insassen, wie viele Kandisstücke sie nehmen durften und welche Zipperlein sie quälten.

      Ich finde, alles, was ihn selbst angeht, bekommt er noch gut mit.

      – Man kann doch nicht anders als zufrieden sein, wiederholte er.

      Er war wieder lebhafter geworden, seit er sich hingelegt hatte, und wurde nun wieder ganz der Alte. Ich dagegen setzte mich auf einen Stuhl und wurde ein wenig schläfrig.

      – Die Heimbewohner hier sind der älteste Kern der Nation, die letzte verläßliche Generation, die noch am Leben ist, fuhr er unverdrossen fort.

      Das sagte er mit der ihm üblichen Entschiedenheit. Dabei hatte er mit den anderen nichts gemeinsam bis auf das hohe Alter, auf keinen Fall aber gemeinsame Erinnerungen oder Interessen, sofern überhaupt noch welche vorhanden waren, und erst recht nicht das Gedächtnis. Das hatte sich bei den meisten längst in Luft aufgelöst. Die anderen vermißten nichts und konnten sich auch über keine Heimkehr freuen, denn sie hatten immer hier gelebt, waren lediglich an die Berghänge am Ortsrand verlegt worden, wo bis auf das Altersheim nichts gebaut worden war – wegen der heftigen Böen und Fallwinde von den Berggipfeln und der Lawinengefahr. Die letzte verläßliche Generation wäre im Schnee erstickt oder auf den Fjord hinausgeweht worden, wenn sie nur einen Fuß vor die Tür gesetzt und mehr Aktionsradius gehabt hätte als den, viermal täglich in den Speisesaal zu schlurfen, um sich den Bauch zu füllen, und dann zurück auf die Zimmer, um sich hinzulegen.

      – Alte Menschen werden so wohlversorgt in dieser Gesellschaft der vielen Heime außerhalb des eigenen Heims, sagt mein Vater und grinst.

      – Willst du damit sagen, es könne einem gar nicht anders als gutgehen in diesem letzten Heim des Lebens, dem Altersheim? frage ich.

      Mein Vater hält oft lange die Augen geschlossen. Das scheint er sich angewöhnt zu haben, seit er an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt ist. Er spricht auch sehr oft mit geschlossenen Augen, doch seine Lider zittern, denn ständig denkt er an etwas.

      – Natürlich, antwortet er und lacht in sich hinein. Ein alter Mensch wird zum zweiten Mal Kind, sagt das Sprichwort. Und es gibt genügend Mütter, die auf halben Stellen und mit halber Aufmerksamkeit die alten Leute im Heim bemuttern. So kommen sie wenigstens zehn Meter vor die Tür, und das scheint ihnen zu reichen. Frauen sind so genügsam, was Freude und Freiheit angeht.

      Ich hörte ihm aufmerksam zu. Es zeichnet Menschen mit gutem Gedächtnis aus, daß sie sich in ihren Ansichten niemals irren, sofern es ihnen beliebt, welche zu haben. Was das Zwischenmenschliche angeht, können sie jedoch durchaus manches Mal danebenliegen. Doch dem ehernen Gedächtnis gereicht alles zum Vorteil. Wem eines vergönnt ist, der weiß, wovor er sich hüten muß, und tut daher stets das Richtige, denn durch sein gutes Gedächtnis kann er gar nichts falsch machen.

      Lerne, indem du auf deinen Vater hörst, sage ich mir, und er redet weiter auf mich ein. Lerne du nicht, zu vergessen, aber laß dem Vergessen seinen Lauf und laß deine Erinnerung nicht Gerechtigkeit fordern, sondern etwas anderes.

      – Welchen Lauf und was denn? fragt er und liest meine Gedanken.

      Ich sage es ihm, und er verstummt, nachdem er fast vier Stunden ohne Unterlaß geredet hat.

      Wenn ich vier Stunden im Bus sitze, um ihn zu besuchen, und wenn ich viereinhalb Stunden bei ihm sitze und behutsam an etwas aus der Vergangenheit rühre, wenn ich, bevor ich mich verabschiede, auf etwas zu sprechen komme, das ich für etwas uns Gemeinsames halte, und wenn ich dann noch einmal vier Stunden für den Heimweg brauche, dann meint er, er dürfe darauf kurz angebunden antworten:

      – Ich denke, wenn du nur gekommen bist, um mich daran zu erinnern, brauchst du gar nicht zu kommen.

      – Über irgendwas müssen wir doch reden, ehe der Bus fahrt, sage ich.

      – Quassel nicht so viel, daß du die Zeit vergißt und ihn verpaßt! Er fährt um halb fünf, sagt er.

      – Ich weiß, sage ich geduldig und frage noch einmal, ob er sich jetzt an die Sache erinnere.

      – An welche? fragt er erstaunt.

      Ich sage noch einmal, was ich vor allem gern wissen möchte und nicht mit dichterischer Phantasie ausmalen will.

      – Ich erinnere mich, daß ich das lange vergessen habe, und es wird auch nicht wieder daran gerührt, solange ich lebe, weder von dir noch von anderen, die sich nur an Dinge erinnern, die ihnen selbst am besten passen, sagt er.

      – Wie die Autokraten, sage ich.

      – Mit mir ist es etwas anderes als mit ihnen. Ich bin noch von altem Schrot und Korn, sagt er. Ich weiß noch ganz genau, was ich zerbrochen, verloren und vergessen habe.

      Er macht eine Pause. Seine Lider zittern, doch er öffnet die Augen nicht, als er fortfahrt:

      – Das heißt es, ein Isländer zu sein.

      Ich mache unzählige Besuche, ich rede endlos mit ihm, manchmal bleibe ich Nacht um Nacht im Hotel, um länger bei ihm zu sitzen oder zu schweigen, um zuzuhören oder zu reden, wenn ich ihn zu einem Gespräch erwärmt habe; ich rede selbst in Gedanken mit ihm, ich rede mit ihm im Bus, auf dem Hin– und auf dem Rückweg, in Gedanken rede ich endlos mit ihm und meiner Mutter, und am Ende weiß ich kaum noch, ob sie durch mich sprechen, ob das Gesagte, das ihnen sehr ähnlich sieht, von ihnen kommt oder von mir.

      So muß es sein, denke ich. Der eigene Ursprung kann überall und nirgends sein, aber immer liegt er im Denken und in den Worten.

      So eingestimmt, kehrte ich in das Haus meiner Eltern zurück. Das habe ich dem Wunsch meines Vaters nach Heimkehr zu verdanken. Diesmal hatte ich mir das Recht erkauft, durch die Tür auf der Nordseite einzutreten und die steile, enge Stiege hinaufzugehen.

      Jetzt sitze ich hier und führe mich selbst in meine eigene Zeit zurück. Damit ich zu jedem beliebigen Ereignis zurückkehren kann, etwa wie das Haus unter den Händen meines Vaters entstand oder wie schief sich meine Mutter hielt oder dachte oder wie ich selbst zum ersten Mal ein Künstler wurde, als mein Vater mir eines Tages eine Holzleiste reichte, eine Art Szepter, das er im Frühjahr 1935 eigenhändig aus einer ungehobelten, mit Sägemehl bestäubten Holzplanke sägte.

      Hausbau

      Meine Eltern, Jóhanna Guđleif Vilhjálmsdóttir und Bergur Bjarnason, nahmen uns Jungen mit, meinen älteren Bruder und mich, als sie zum zweiten Mal, diesmal vom Hochland herab, mit ihrem ganzen Hausstand ins Ungewisse umsiedelten, wo sie keinerlei Bleibe

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