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ihren Kindern Ruhe einflößen. In Dunkelheit und Traum hörte ich das Toben auf dem Dach. Dabei wurde ich unter meiner Decke ganz ruhig, und hoffentlich geht es nun genauso, wo das Leben zum größten Teil schon in Wind und Wetter verflogen ist und beide Eltern bald im Grab liegen werden.

      Mutter ist seit neun Jahren unter der Erde, mein Vater lebt noch, ist aber in ein Nest auf der Halbinsel Snæfellsnes im Westen gezogen, das er, solange er hier lebte, immer seine Heimat nannte, den Ort, an dem er geboren wurde. Genaugenommen kam er etwas außerhalb jenes Orts zur Welt. Wie auch immer, er befindet sich nun in seinem Kaff und ich mich in meinem.

      Seine Familie, Verwandten und Jugendfreunde sind seit langem tot; er ist also nicht zurückgegangen, um sie wiederzusehen oder weil er seine letzten Lebensjahre unter Toten verbringen möchte, obwohl er mir einmal im Vertrauen sagte:

      – Seitdem ich an den Ort meiner Kindheit zurückgekehrt bin, begegnen mir Tote in meinen Träumen. Ich habe in ihnen schon mit meinem Ziehvater und mit meiner Ziehmutter gesprochen, und wir haben uns prächtig verstanden. Sie trug noch immer ihre gestreifte Schürze.

      – Das ist kein Traum, sondern wache dichterische Phantasie, sagte ich.

      – Nein, widersprach er. Doch je länger ich im Altenheim lebe, um so seltener kommen die Toten zu mir. Jetzt sind sie auch in meinen Träumen gestorben. Ich träume nicht mehr von ihnen, aber ich denke immer mehr an die Vergangenheit.

      Ich fand das nur natürlich, denn wo die Dichtung endet, setzt das Nachdenken ein.

      – Ich habe festgestellt, fuhr er fort, ohne mir zuzuhören, daß mir meine Zieheltern immer weniger gefallen.

      – Ist es dann im Hinblick auf ihre guten Seiten vielleicht besser, von den Menschen zu träumen, als über sie nachzudenken? fragte ich.

      – Ja, nach meiner Erfahrung schon, antwortete er.

      – Dann will ich nach deinem Tod nie an dich denken, aber um so mehr über dich schreiben, sagte ich.

      Mein Vater lachte. Weil er schlau ist und es ihm Spaß macht, sich in Andeutungen zu ergehen. Trotzdem habe ich den Verdacht, er ist nicht seiner Erinnerungen wegen dorthin gezogen oder um seine letzten Jahre da zu verbringen, wo sie und er zusammen aus dem Gras wuchsen. Auch nicht, um im Geiste ehemals wirklicher Erlebnisse etwas zu schreiben, denn er weiß so gut wie ich, daß Erinnerungen sterben und zwar um so schneller, je länger man nah bei seinen Ursprüngen weilt. Bei der Heimkehr flammen sie noch einmal auf, erlöschen dann aber wie ein Feuer, wenn man es nicht versteht, die Glut am Brennen zu halten – in den Erinnerungen, die selbst wie ein Feuer in einem brennen. Mein Vater ist kein Dummkopf und weiß, daß man sich zum Heraufbeschwören von Erinnerungen am besten in der Ferne aufhält und daß man sie am ehesten loswird, indem man heimkehrt. Also kehrte er nicht zu ihnen zurück, und er wollte auch nicht nachdenken. Was er wollte, war etwas anderes. Er wollte jeden Tag einen bestimmten Berg vor Augen haben: das Kirkjufell, das er so lange nur in seiner Vorstellung gesehen hatte; hier in seinem Haus.

      Mein Vater muß alles mit den Händen anfassen, um seine Qualität und Stärke zu begreifen, als wäre es Holz für den Hausbau. Jahrelang war der Berg das Holz, mit dem er sich in Gedanken beschäftigte. Jetzt möchte er ihn lieber im Blick als im Kopf haben. Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, er selbst sicher auch nicht, aber ich meine mich zu erinnern, daß er nie lange über etwas sprach, ohne das Gespräch nach und nach auf den Berg zu bringen. Das war auch anderen wohlbekannt. Eines Tages zeigte er meinem Onkel ein Stück Holz, hielt es ihm unter die Nase und sagte:

      – Riech mal daran!

      Der sog tief die Luft ein, prüfte den Geruch und seufzte. Dann fragte mein Vater geheimnistuerisch:

      – Was meinst du, woher der Baum kommt und wo solches Rosenholz wächst?

      Mein Onkel brauchte nicht zweimal zu überlegen; er war froh, die Antwort zu kennen, die über jeden Zweifel erhaben war, da ja mein Vater die Frage gestellt hatte. Also antwortete er froh und welterfahren:

      – Oh, der wird wohl aus Grundarfjörđur stammen und im Schatten des Kirkjufell gewachsen sein.

      Statt sich zu freuen, meinte Vater, der Onkel sei ein Holzkopf, denn unter dem Kirkjufell wachse Thymian, aber kein Rosenholz, und der dufte besser als Holz. Mein Vater, dieser arrogante Schnösel, wußte es nicht zu würdigen, daß der Bruder meiner Mutter dem in der Diaspora Lebenden einen Gefallen tun wollte, indem er am Ort seiner Kindheit Rosenholz wachsen ließ.

      Wie viele Menschen, die körperlich schwere Arbeit leisten, akzeptierte mein Vater vor allem handgreifliche Gründe und unterschied deutlich zwischen Geist und Materie. Allerdings war er auch so gestrickt, daß er ganz gut im nicht kausal Begründeten zurechtkam. Meist hielt er die beiden Bereiche gut auseinander und vermischte sie nicht, außer wenn es um seinen Glauben an die Wahrhaftigkeit der Isländersagas ging. Bei jener Gelegenheit sagte er, sollte es mein Onkel einmal fertigbringen, die Eyrbyggja saga zu lesen, dürfe man nicht viel auf sein Urteil geben, wenn er solchen Quatsch wie den mit dem Rosenholz vom Stapel lasse. Da sein Bruder nun einmal Kraftfahrer sei und alles von sich und seinem Führersitz aus beurteile, würde er es bestimmt nicht glauben, daß die Berserker in der Saga den Weg durch die sogenannte Berserkerlava lange vor der Erfindung der Planierraupe gebahnt hätten.

      Ich aber dachte bei mir: Das ist nun der Dank dafür, daß ein Unschuldiger einem anderen Einfaltspinsel eine Freude machen möchte, indem er so tut, er würde glauben, daß Rosenholz am Ort seiner Kindheit wachse.

      Mein Vater suchte nach einem Berg, den er nie aus dem inneren Auge verloren hatte. Und weil wir selten etwas anderes suchen als das, was wir gar nicht zu finden brauchen, weil wir schon ein Bild von ihm haben – das uns allerdings nicht genügt so suche auch ich etwas, das ich nie verloren habe. Ich suche Geschichten, von denen ich weiß, daß sie nicht in ihrer wahren Erscheinung zu finden sind, dabei habe ich sie weder verloren noch verändert, doch müssen sie aus ihrem natürlichen subjektiven Zustand in die unnatürliche Einkleidung der Sprache überführt werden.

      Ein Schriftsteller kann überall Stoffe und Geschichten finden, so wie ein Mensch, der an die Allgegenwart Gottes glaubt, ihn nie in der Kirche aufsuchen muß. Es ist nicht nötig, sich an den Schauplätzen auf die Suche nach Geschichten zu begeben, ein Blinder kann sie mit bloßem Auge sehen, und selbst wer sich orientierungslos auf Irrwegen durchs Leben schlägt, kann auf den richtigen Spuren einer Geschichte sein. Ich hätte mich also weitab von den Stätten meiner Kindheit halten können, entschloß mich aber, durch fast wöchentliche Besuche im Haus eine Geschichte nach der anderen aus dem raunenden Brausen des Wetters zu ziehen.

      Mein Vater wollte mich nicht wiederhaben oder mir etwas verkaufen, nicht einmal einen kaum begehbaren Keller, in dem ich höchstens meine Zehen schlafen legen konnte.

      – Es sollen alle das gleiche Recht haben, ein Angebot für dieses Haus zu machen, sagte er.

      Es sah ganz so aus, als stünde er in dieser Frage unter dem Einfluß des marktorientierten Denkens unserer Zeit oder von etwas noch Schlimmerem, etwas, das in der Tiefe väterlicher Seelen schlummert und unerwartet an die Oberfläche bricht. Es ist nur wenigen alten Leuten gegeben, mit ihrer wahren Gesinnung hinter dem Berg zu halten, es sei denn, sie hatten das Glück, ihr Gedächtnis zu verlieren, oder sie haben sich schon früh im Leben eine gewisse Unzuverlässigkeit zugelegt, etwa dadurch, daß sie ständig die Meinung wechselten oder unberechenbar wie ein Tyrann waren. Manchen wurde sowieso nie geglaubt, was sie sagten, wieder andere entschließen sich, die Welt vollständig hinter sich zu lassen. Ein derartiges Verlangen kommt bei alten Menschen recht häufig vor. Anfangs ist es oft nichts anderes als pure Selbstverteidigung im Hinblick auf die eigene Lebensführung, weil sie fürchten, die nachfolgende Generation könnte ihnen im Alter Vorwürfe machen. Wenn sie erst einmal wehrlos wären, käme vielleicht der Tag der Abrechnung, an dem sie für ihre Taten, die sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte verübten, zur Verantwortung gezogen werden sollten. Alte Menschen sind immer auf der Hut, und um ihre Angst zu kaschieren, tun sie so, als könnten sie sich an nichts erinnern oder wären die zerstreutesten Trottel.

      – Ein solches Haus sollte man arbeitenden Menschen auf dem freien Markt verkaufen, vielleicht einer kinderreichen Familie

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