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Ende der Erzählung über Caesar eingenommen wird, erfährt eine ethnographische Differenzierung in dem Moment, in dem von der auf transalpinem Boden stattfindenden militärischen Auseinandersetzung des Römers mit den dortigen Bewohnern erzählt wird.35 Dabei wird das Anliegen erkennbar, für die verschiedenen Ethnien auf der Grundlage der Attribuierung eines alle verbindenden, herausragenden kämpferischen Könnens und Einsatzes Unterschiede geltend zu machen. Die Mittel dazu sind die folgenden: erstens ein Rekurs auf die verschiedenen Herkunfts- und Landnahmefabeln der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken, zweitens die ‚Individualisierung‘ der gentes durch eine namentliche Nennung und eine Charakterisierung der verschiedenen Anführer oder Großen,36 drittens die Thematisierung spezifischer Vorzüge oder auch Schwächen der einzelnen gentes. Zum ersten Punkt: Bei den Baiern, den Sachsen und den Franken wird das für die origines gentium häufig verwendete Element der (Ein-)Wanderung37 genutzt und mit der Nennung eines Spitzenahns (des wunderlîchen Alexanders man, / der ze Babilonje sîn ende genam, im Falle der Sachsen, V. 328f., und des Trojaners Franko im Falle der Franken, vgl. V. 373–376) oder mit einer Anbindung an die biblische Geschichte (so bei der Herkunft aus Armenien, dâ Nôê ûz der arke gie, im Falle der Baiern, V. 319) verbunden. Im Falle der Schwaben ist hingegen von einer Herkunft von jenseits des Meeres, anders als im entsprechenden Passus des Annoliedes (vgl. V. 281–294), nicht die Rede, sodass bei ihnen die im Rahmen der origines gentium relativ selten genutzte Vorstellung einer autochthonen Herkunft zumindest nahegelegt wird. Als primäres identifizierendes Moment erscheint bei ihnen die Namensgebung nach einer topographischen Auffälligkeit ihres Siedlungsgebiets, dem Berg Suevo respektive Swêrô (V. 289f.).38 Zu Punkt 2: Eine identifizierende Funktion erfüllen des Weiteren die (im Annolied nicht vorhandenen) Namen der jeweiligen Anführer oder Großen: Prenne bei den Schwaben, Boimunt und Ingram bei den Baiern, Lâbîân, Dulzmâr und Signâtôr bei den Franken. Zum dritten Punkt: Die Zuschreibung besonderer Eigenschaften dient der Abgrenzung einer gens von anderen gentes und sichert so Identität. Bei den Schwaben handelt es sich dabei um den Drang, sich immer wieder als guote reken (V. 294) hervorzutun, und um eine ausgeprägte Redegewandtheit, die sie für den Rat besonders geeignet erscheinen lässt (vgl. V. 291f.). Als hervorstechende Qualität der Baiern wird ihre Tapferkeit genannt, die sich auf die besondere Güte ihrer Schwerter stützen kann. Im Falle der an der Elbe siedelnden Sachsen artikuliert sich die Identifikation der gens mit den von ihr genutzten Waffen in einer Namensgebung, die sich etymologisch von ihren sahs genannten Messern herleitet. Gegen die ansässigen und zu überwindenden Thüringer wurden diese Messer, so der Erzähler in Übereinstimmung mit der Version des Annoliedes, im Anschluss an eine Unterredung zum Einsatz gebracht, die eine Bereitschaft zum Friedensschluss lediglich vorgetäuscht hatte; aus dieser Handlungsweise resultiert der den Sachsen entgegengebrachte Vorwurf der untriwe (V. 339), der sie als wenig verlässlich und als wortbrüchig kennzeichnet. Die Franken schließlich stechen durch ihren besonderen Adel hervor (vgl. V. 345), der sich aus ihrer Anbindung an das antike Troja ergibt. In den gegenüber dem Annolied neuen Erzählungen über Mainz und Trier kommen indes auch problematische bzw. negative Züge zur Sprache. So erklärt der Erzähler, dass eine von Caesar errichtete Brücke bei Mainz39 später im Rhein versank und daher in der Gegenwart nicht mehr vorhanden sei, mit dem Hinweis auf eine der Sündhaftigkeit der Mainzer entspringende Weigerung, ihrem jeweiligen Herrn treu ergeben zu sein (vgl. V. 387–394). Bei den Trierern benennt er eine mangelnde Bereitschaft zur Eintracht und eine Neigung zur politischen Intrige, die sie angreifbar und überwindbar macht (vgl. V. 405–434).

      Wenn am Ende dieser gut einhundertachtzig Verse langen Erzählung über Caesar und die Schwaben, die Baiern, die Sachsen und die Franken die Perspektive erneut wechselt und bei der Formierung eines Heeres für Caesars Zug gegen Rom wieder von alle[n] Dûtiske[n] hêrren die Rede ist (V. 453), die sich ihm willig unterstellen und seine Autorität anerkennen, wird, wie gesagt, der Sprachgebrauch vom Anfang des Textes wieder aufgegriffen; bei ihm bleibt es dann für den Rest der Caesargeschichte. Von nun an agieren nicht mehr, wie bei den transalpinen Kämpfen gegen Caesar, einzelne gentes; im cisalpinen Kampf mit Caesar tritt gentile Identität zugunsten einer auf die einigende Leistung Caesars zurückgeführten kollektiven ‚deutschen‘ Identität Tûtiscer rîterscephte (V. 480) zurück, die schließlich sogar eine Verwendung des substantivierten Volksnamens Dûtisce[] (V. 497) zur Bezeichnung einer pluralen Einheit erlaubt40 – Mathias Herweg hat Ähnliches, wenn auch in zugespitzter Form, bereits mit Blick auf das Annolied formuliert,41 und Uta Goerlitz hat diese Bewegung des Textes für die Kaiserchronik wie folgt zusammengefasst: „[…] der vorübergehende Antagonismus zwischen Caesar und den Römern [ist] endgültig aufgehoben, und die ‚Deutschen‘ sind von einer randständigen opponierenden Provinzbevölkerung zu einem zur Herrschaftssicherung unverzichtbaren Bestandteil des universalen und heilsgeschichtlich legitimierten römischen Machtanspruchs geworden.“42

      III. Der Tarquinius-Abschnitt

      Die an die siebte Position gerückte Tarquinius-‚Vita‘1 ist als Reflex auf die in das sechste vorchristliche Jahrhundert datierte Herrschaft des Lucius Tarquinius Superbus, des letzten Etruskerkönigs2, zu sehen; in der Kaiserchronik folgt er – entgegen der historischen Chronologie – auf Nero (1. Jh. n.Chr.).3 Einleitung (vgl. V. 4301–4304) und Schluss (vgl. V. 4831–4834) der 533 Verse langen Passage kennzeichnen Tarquinius als Gewaltherrscher. Als Aufgabe des Hauptteils erscheint die erzählerische Konkretisierung des in der lateinischen Tradition namengebenden Lasters der superbia. Sie erfolgt mit Hilfe von zwei Gegenfiguren: des aus Trier stammenden Fürsten Conlatinus, dem als Exulant aufgrund von Kriegsdienst und ruhmreichen Waffentaten ein gesellschaftlicher Aufstieg in Rom gelingt, und der Römerin Lucretia, mit der sich dieser, gestützt durch den Senat, vermählt. Als Conlatinus in Viterbo nur knapp einem Mordanschlag seiner Trierer Feinde entkommt, beschließt der römische Senat die Belagerung Viterbos mit dem Ziel einer Unterwerfung der Stadt. Zu einer Konfrontation mit dem König, der Conlatinus zunächst wohlgesonnen ist, kommt es im Rahmen einer Wette. Ein in einer Kampfpause aus einer Laune geborener Frauenvergleich zeitigt fatale Konsequenzen, als König und Fürst darum konkurrieren, daz […] frumigiste wîp zu haben, die der ie dehain man / ûf rômisker erde gewan (V. 4444–4446). Im direkten Vergleich obsiegt Lucretia über die Gemahlin des Königs, welche in der Folge indes ihren Ehrverlust realisiert und Tarquinius zu einer Schändung ihrer Konkurrentin drängt. Nach kurzem Zögern willigt der König in den von seiner Frau erdachten Plan einer Vergewaltigung ein, die er in Abwesenheit des Conlatinus in dessen Haus vollzieht. Im Rahmen eines von ihr initiierten Gastmahls macht Lucretia die Schandtat des Tarquinius öffentlich, um sich dann selbst zu töten. Der Senat reagiert mit einer Absetzung des Königs, der daraufhin aus Rom flieht. Conlatinus jedoch verfolgt ihn heimlich und tötet ihn um Lucretia willen, wohlwissend, dass diese Handlungsweise für ihn eine Rückkehr in ein Leben als ellender man nach sich zieht.

      Daz buoch kundet uns sus: / daz rîche besaz duo Tarquînîus (V. 4301f.) – anders als dieser Auftakt es erwarten ließe, ist von dem Herrscher in den ersten fast einhundertfünfzig Versen des Abschnitts so gut wie nicht die Rede. Erst im Kontext der Viterbo-Episode, nach einem mit der Formel Aines tages kom iz sô (V. 4415) markierten Neueinsatz des Erzählens und als Reaktion auf das superlativische Lob des Conlatinus auf Lucretia, wird die Stimme des Königs vernehmbar (vgl. V. 4447–4454); als Leser*in erfährt man erst an dieser Stelle, dass Tarquinius bei der vom römischen Senat angeordneten Belagerung Viterbos als anwesend gedacht werden muss. Der Text vergegenwärtigt die entstehende Opposition zwischen König und Fürst durch einen kurzen Wortwechsel. Den König kennzeichnet dabei das Adjektiv hêre (V. 4447, V. 4462), das zwei Mal in den Inquit-Formeln zu seinen Redebeiträgen verwendet wird, jedes Mal in Verbindung mit einem Hinweis auf die königliche Position. Das positive semantische Spektrum des Wortes (‚erhaben‘, ‚vornehm‘, ‚gewaltig‘, ‚herrlich‘)4 wird durch die für Conlatinus gewählte Bezeichnungspraxis noch unterstrichen: Dieser firmiert nun wieder als […] der ellende man, / der von Triere dar kom (V. 4441f.); der Text akzentuiert also wieder dessen bereits zu Beginn der ‚Vita‘ thematisierte nicht-römische Herkunft aus der Fremde5 und verzichtet zudem auf eine Bezeichnung seines Status als Fürst. Diese Bezeichnungspraxis steht in einem

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