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Publikum des 12. Jahrhunderts teile. Dieser Ansatz kann schon deswegen nicht befriedigen, weil er über 80 % des Textes eine semantische Defizienz unterstellt, die sich kaum mit der sichtlichen Freude und dem großen Interesse am Auserzählen des römisch-antiken Materials vereinbaren lässt.10

      Beide Erklärungsmodelle fokussieren auf die narrativen Strategien, in welchen sich der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Chronik abbildet. Dies führt zurück zur Phraseologie der Einleitungsformeln der verschiedenen Episoden. Das Wegfallen des inchoativen besaz, das oben festgestellt wurde, fällt mit dem Umschwung vom römisch-antiken zum mittelalterlich-deutschen Teil zusammen. Dafür tritt nun die Ausarbeitung von genealogischen Verbindungen zwischen den aufeinander folgenden Herrschern in den Vordergrund.

      Im römisch-antiken Teil sind solche Angaben nur selten zu finden: Augustus ist Caesars Neffe (V. 605), Domitian tritt als Titus’ Bruder auf (V. 5558) und Konstantin wird als Sohn und Nachfolger seines Vaters Constantius eingeführt (V. 7610–7613; 7806–7809). Doch erst nach Karl dem Großen werden Verwandtschaftsverhältnisse zum festen Bestandteil der Episodenrahmung. Angefangen von Ludwig dem Frommen werden von nun an fast alle Kaiser als die rechtmäßigen da genealogisch legitimierten Erben eingeführt. So heißt es zum Tod Karls des Großen : Do der mære kaiser versciet, / ain guoten erben er verliez (V. 15092–15093). Auch die anderen auf Ludwig folgenden Karolinger treten als Dynastie, nacheinander patrilinear die Herrschaft voneinander übernehmender Könige und Kaiser klar hervor.11 Es sei an dieser Stelle nur kurz darauf hingewiesen, dass auch Ottonen und Salier in dieser Weise deutlich als Dynastien untereinander verbunden und gegeneinander abgegrenzt werden. Zum dynastisch-genealogischen Modell kommt mit Ludwig dem Frommen auch die Wahl durch die Großen des Reiches als konstituierendes Mittel der neuen Episodeneinführung (V. 15239–15241). Durch die zunehmend systematisierte Anwendung dieser beiden Legitimationsmodelle tritt die im römisch-antiken Teil so prominente besaz-Formel fast völlig in den Hintergrund. Mit ihr verschwindet auch die Berufung auf ein anonymes und nicht spezifiziertes buoch als Quelle, die ebenso charakteristisch für die Episodenanfänge der Kaiserchronik bis hin zu Karl dem Großen ist. Das etablierte Muster nach dem Schema daz buoch chundet uns sus / das rîche besaz do […]12 der römisch-antiken Episoden wird durch ein neues, genealogisch ausgerichtetes Muster ersetzt: alse chaiser […] verschiet / einen guten sun/erben er liez.13 Beide Phrasen können erheblich variieren, sind aber deutlich unterscheidbar und bilden eine klare Verschiebung in der Schwerpunktsetzung der Einführungsformeln ab. Wo die Kaiserchronik sich zuvor bei jedem Herrscher aufs Neue auf die Autorität von schriftlich fixierten und tradierten Wissen berief – das buoch chundet uns sus – verbindet nun ein relativ geradliniges genealogisches Nachfolgemodell die einzelnen Herrscherepisoden miteinander. Dies markiert einen konzeptuellen Bruch im episodischen Paradigma der Chronik, aber weniger zwischen römischen und deutschen Herrschern, sondern vielmehr zwischen historiographisch legitimierten antiken auf der einen und genealogisch legitimierten mittelalterlichen Herrschern auf der anderen Seite. Während dies die Frage nach der Ursache für die Unterscheidung zwischen antiken und mittelalterlichen Teil der Kaiserchronik nicht beantwortet, profiliert sie doch den Unterschied klarer und auf struktureller Ebene.

      Eine weitere Besonderheit der Geschichtspräsentation der Kaiserchronik ist es, dass der Inhalt der Episoden oft wenig bis gar nicht von den Kaisern handelt, die als Bezugspersonen für eine jeweilige Episode eingeführt werden. In der Tat scheint die Korrelation zwischen kaiserlicher Rahmung und narrativen Inhalt einer Episode oft durch Faktoren außerhalb der Komposition und Konzeption der Kaiserchronik bedingt zu sein. Beispielsweise findet sich die Schleifung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 nach Christus nicht, wie historiographisch vorgeformt und chronologisch zu erwarten, unter Vespasian, sondern bereits in der Tiberius-Episode. Dies rührt von der Quellentradition der Vindicta Salvatoris her, welche diese Verknüpfung aus heilsgeschichtlich-vergeltender Logik nahelegt: Tiberius konnte hier nur durch Veronikas Schweißtuch geheilt werden, aber nicht durch den Heiler Jesus selbst, weil dieser bereits von den Juden getötet worden war.14 Daher, so die Vindicta Salvatoris, habe er zur Bestrafung der Juden die Vernichtung Jerusalems durch seinen General Vespasian und dessen Sohn Titus befohlen.15 Dass der Fall Jerusalems also innerhalb des Episodenrahmens des Tiberius untergebracht wird, liegt in der externen Quellentradition begründet und hat folglich mit der chronologischen Ereignissequenz oder dem seriellen Kompositionsprinzip der Kaiserchronik wenig zu tun.

      Es gibt zahlreiche weitere Beispiele dafür wie traditionelle Narrative durch ihre Einfügung in den Episodenrahmen der Chronik atomisiert werden. Ist das Narrativ erst einmal aus dem klassischen Kontext herausgelöst, spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Caesar die Gallier oder die Germanen erobert, solange er der mit seinem Namen verbundenen Erwartungshaltung als Eroberer und erster Kaiser des Reiches gerecht wird (V. 257–525). Ähnlich verhält es sich mit Alarich: Es ist unerheblich, unter welchem Kaiser er Rom erobert und plündert, solange er diese traditionelle Handlungsvorgabe erfüllt (V. 7404–7411; 7417–7419). In diesem Fall führt die kontingente Kombination von Rahmen und Inhalten in der Kaiserchronik sogar zu einer anachronistischen Erzählpraxis, die der Text an anderer Stelle explizit verurteilt. So trifft Alarich bei der Plünderung Roms auf Kaiser Lucius Accommodus und erschlägt ihn (V. 7420–7425). Wenn man annimmt, dass Lucius Accommodus dem historischen Commodus entspricht, waren Commodus und Alarich realiter durch über 200 Jahre voneinander getrennt. Gegen genau diese Kollision nicht zeitgenössischer Protagonisten polemisiert die Kaiserchronik aber in der Zeno-Episode, wenn der Erzähler darauf hinweist, dass Dietrich und Etzel einander nicht begegnet sein konnten, da ihre Lebenszeiten 43 Jahre auseinander lagen (V. 14176–14187). Es zeigt sich, dass der Verfasser der Kaiserchronik bei Bedarf polemische Strategien anwenden kann, die auf chronologische Fehler abzielen, ohne sich dadurch in seiner eigenen chronologischen Gestaltungsfreiheit einschränken zu müssen.

      Ein weiteres charakteristisches Merkmal, neben der inhaltlichen Kontingenz, ist die innerliche Abgeschlossenheit der einzelnen Episoden. So wird beispielsweise der heidnische Kosmos, der vor Beginn der Episodenstruktur bei der Darstellung der römischen Wochentage beschrieben wird, später zu keinem Zeitpunkt als Referenzpunkt herangezogen. Vielmehr wird in der Gaius-Episode, als der Jupitertempel eine Rolle spielt, dieser erneut eingeführt und prominent in Szene gesetzt, ganz so als sei der Jupitertempel im Kontext des römischen Kalenders der Wochentage nie erwähnt worden. Die innere Abgeschlossenheit und klare Abgrenzung der Episoden werden besonders da sichtbar, wo es über einzelne Episoden hinausgehende Bezüge aufzugreifen gibt. So wird Rom in der Lucius Accommodus-Episode durch Alarich und sein Heer zerstört, nur um dann, zu Beginn der direkt nachfolgenden Episode unter Kaiser Achilleus, wieder aufgebaut zu werden (V. 7426–7435). Dieser Wiederaufbau hat einerseits keinerlei Relevanz für die folgende Handlung der Achilleus-Episode, ergibt also nur Sinn im Bezug auf die Zerstörung der Stadt im vorangegangenen Abschnitt. Andrerseits wird diese Bezugnahme aber freilich zu keiner Zeit explizit hergestellt, sondern bleibt allein der Auffassungsgabe des Publikums überlassen. So zeigt dieser Zusammenhang den klaren konzeptionellen Einschnitt hinter jeder Episode: Ereignisse, die eigentlich Bestandteile einer kausalen historischen Sequenz wären, wie etwa Zerstörung und Wiederaufbau der Stadt Rom, werden nicht als solche präsentiert, wenn sie über die Grenze einer Episode hinauslaufen. Dies bestätigt, dass nicht inhaltliche Verknüpfungen, sondern die Episoden mit ihren Rahmen selbst als organisierende Elemente von Geschichtlichkeit im Vordergrund stehen.

      Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass die Episodenstruktur der Kaiserchronik die Geschichte des Römischen Reiches als linear und progressiv organisiertes Paradigma entwirft und somit ein quantifizierendes Kontinuum des Zählbaren kreiert. Durch die immer gleiche, sich wiederholende Eingliederung von narrativen Atomen aus verschiedensten Traditionen und Kontexten in die markierten Rahmen der Kaiserepisoden, die ihrerseits in sich zählbar sind und die an ihren Enden jeweils die exakte Dauer der Herrscherjahre anführen, wird die historische qualitative Differenz zwischen den Ereignissen reduziert. Die Herrschaften der Kaiser sind selbst dabei Manifestationen der regulären und linearen Existenz des Reiches. Hayden White zufolge kann nur Ähnliches im Rahmen eines immer identisch applizierten Organisationsmusters sortiert werden.16 Oder anders ausgedrückt: die Organisation in einem einheitlichen Rahmensystem erzeugt Ähnlichkeit. Es entsteht so ein quantitatives

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