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ist die Bezeichnungsfunktion gestört: Geht es um Reiche oder um einzelne Herrscher? Der von Edward Schröder herausgegebene Text ist da unentschieden. Seine Lesart – die Übertragung der Prophezeiung über die Reiche auf eine Prophezeiung über einzelne Herrscher – hat sich durchgesetzt,20 obwohl sie seiner eigenen Ausgabe zufolge keineswegs sicher ist. Zunächst heißt es:

      […] ûz dem mer giengen

       vier tier wilde.

       diu bezeichent vier chunige rîche,

      die alle dise werlt solten begrîfen. (V. 532–535).

      Das könnte auch ‚vier Reiche von Königen‘ bedeuten.21 Doch die folgenden Ausführungen machen diese Deutung unwahrscheinlich: Beim zweiten, dem Bären, ist gegen Schröders Schreibung driu kunincrîche wohl eher an drei Könige (driu kuninc rîche) zu denken (V. 567); beim ersten, dem Leopard, und dem dritten, dem Eber, ist vollends klar, dass auf einzelne Herrscher verwiesen wird, auf Alexander und den tiurlîchen Juljum (V. 572). Über Alexander heißt es:

       Daz êrste tier was ein liebarte;

       der vier arenvetech habete,

       der bezaichinet den Chrichisken Alexandrum,

       der mit vier hern vuor after lande

      unz er der werlt ende rechande. […]

       vil manic wunder relait der selbe man,

      ain drittail er der werlte under sih gewan. (V. 536–540; 563f.)

      Auch das dritte Tier bezeichnet einen einzelnen Herrscher:

       Daz dritte ain fraislich eber was,

       den tiurlîchen Juljum bezaichenet daz.

       der selbe eber zehen horn truoc,

       dâ mit er sîne vîande alle nider sluoc.

       Juljus bedwanch elliu lant,

       si dienten elliu sîner hant.

       wol bezaichenet uns daz wilde swîn

      Daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn. (V. 573–578)

      Das vierte Tier, eine Löwin, meint dann den Antichrist (V. 585), dessen Herrschaft nicht am Ende des römischen Reichs steht, sondern am Ende der Zeiten kommen wird.

      Damit verändert sich die Geschichtskonzeption fundamental, denn die Prophezeiung enthält kein Ordnungsmuster der Weltgeschichte insgesamt mehr. Indem die Reihenfolge verändert und der Antichrist sowie das elfte Horn des Ebers vom Repräsentanten Roms abgespalten und auf das vierte Tier übertragen sind, wird zwar, wie die Forschung bemerkt hat, das römische Reich von negativen Konnotationen entlastet.22 Aber es rückt aus seiner weltgeschichtlichen Position – als Telos von Geschichte überhaupt und als Aufschub des Erscheinens des Antichrist – heraus. Durch die Übertragung des prophetischen Tiers auf Caesar verweist der Eber nicht mehr auf die „christliche Erfüllung“23 der Weltgeschichte im römischen Reich, und es ist nicht mehr nötig, in einer Formulierung von Friedrich Ohlys Schüler Klaus Speckenbach, mit einer „unerhörte[n] und kühne[n] Umdeutung des Ebersinnbildes“ durch den volkssprachigen Autor zu rechnen.24

      Die Verknüpfung des Ebers mit Caesar verwandelt die Danielsprophezeiung aus einer geschichtstheologischen Aussage in die Rühmung eines Heros.25 Julius ist ain vermezzen helt (V. 249), en allen wîs was er ein helt guot (V. 256), er wird ain guot kneht genannt (V. 267), der mit offenem strîte (V. 279) seine Gegner niederwirft. Diese sind guote reken / […] wol vertic unt wol wîchaft. / iedoch betwanc Juljus Cêsar alle ir chraft (V. 294–296). Indem der Eber auf ihn verweist, teilt er diese Eigenschaften dem römischen Reich mit: wol bezaichenet uns daz wilde swîn / daz daz rîche ze Rôme sol iemer frî sîn. (V. 577f.). Wie der Heros wird es nie einem anderen unterworfen werden. Die Prophezeiung wird mit einem anderen Deutungsmuster überschrieben.26

      Es ist erstaunlich, dass Ohly, der im Allgemeinen die lateinisch-geistliche Tradition als gültigen Interpretationsrahmen volkssprachiger Literatur ansieht, ausgerechnet in diesem Fall der Volkssprache Vorrang einräumt. Begründet ist das darin, dass ein Teil der Umdeutung sich schon im Annolied findet, von der die Kaiserchronik hier abhängig ist. Die Forschung ist trotz ihrer Skepsis gegenüber Ohlys typologischer Deutung der Kaiserchronik ihm in diesem Punkt gefolgt.27 Ein Werk, das sich derart explizit in die Tradition gelehrter Geschichtsschreibung stellt, scheint an deren geschichtstheologischer Deutung teilhaben und den Eber deshalb als positives Zeichen deuten zu müssen.

      Das ist angesichts der geistlichen Tradition alles andere als selbstverständlich. Die Deutung des ungenannten vierten Tiers der Danielprophezeiung als wilder Eber geht auf den Kirchenvater Hieronymus zurück, der es mit dem aper de silva identifizierte, der laut Ps. 79,16 den Weingarten Gottes verwüstet.28 Hieronymus sagt, Daniel verschweige den Namen des Tieres, damit man es sich umso schrecklicher vorstellen könne (ut quidquid ferocius cogitaverimus in bestiis).29 Alle Tiere, die Daniel sieht, sind schreckliche Tiere; das letzte wird alle Lande vernichten (Dan 7,23). Dies – und nicht nur entgegenstehende zeitgeschichtliche Erfahrungen mit dem spätrömischen Reich –, veranlasste Augustinus, in De civitate Dei die Lehre von den vier Weltreichen nach der Danielprophezeiung zu zitieren, doch sie allesamt, nicht zuletzt das römische Reich, als Erscheinungsformen der civitas diaboli zu bestimmen.30 Darin stimmt er mit Hieronymus’ Danielinterpretation überein.

      Von Anfang an besteht also eine Spannung zwischen heilsgeschichtlicher Deutung und furchterregender Erscheinungsform der Tiere. Sie muss in dem Maß Schwierigkeiten bereiten, in dem das christianisierte Reich als Fortsetzung des Römischen Reichs und dieses als Telos der Weltgeschichte vor dem Erscheinen des Antichrist verstanden wird, wie dies in der lateinischen Geschichtsschreibung verstärkt seit dem 11./12. Jahrhundert geschieht. Bei der Übertragung in die Volkssprache ist der Charakter der Tiere weit weniger anstößig. In der feudalen Kriegergesellschaft sind Raubtiere und speziell auch der Eber durchaus positiv konnotiert. Seine Bestätigung findet das in der Heraldik. Adler, Löwen, Leoparden, Bären, selbst Wildschweine sind die beliebtesten Wappentiere.

      Das Annolied,31 von dem die Kaiserchronik abhängig ist, steht der theologischen Weltreichelehre näher als diese, bringt die Tiere in der ‚richtigen‘ Reihenfolge, spricht aber auch von vreislicher dieri vieri (V. 11,8). Das vierte Tier beschreibt es als unbezwinglichen Eber vreisam mit eisernen Klauen und Zähnen (V. 16,5) und nennt es mit deutlicher Anspielung auf Psalm 79,16 auch waltswin (V. 16,7). Die zehn Hörner bedeuten zehn Könige, ein elftes zeigt den Antichrist an (V. 11,8):

       iz haviti iserne clawin

       daz necondi nieman gevan –,

       iserni zeini vreisam :

       wie sol diz iemir werdin zam ?

       wolle beizeichinit uns daz waltswin,

       daz did riche zi Rome sal vri sin.

       der ebir zin horn truog

       mit den ir sini vianti nidirsluog.

       her was so michil unde vorhtsam :

      zi Rome wart diu werlt al gehorsam. (V. 16,3–12)

      Die Identifikation mit dem Römischen Reich war für die Forschung auch hier Anlass, die Beschreibung der Tiere positiv im Sinne der Heilsgeschichte zu deuten.32 Aber auch hier besteht die Verbindung des Ebers mit Gewalt fort. Der Eber versetzt seine Feinde in Schrecken (11,8; 16,3; 16,10); beim waltswin werden die negativen Konnotationen des Psalmisten zwar nicht ausdrücklich angesprochen – statt den Weingarten des Herrn zu verwüsten, unterwirft er alles der Herrschaft Roms –, dürften aber im Hintergrund stehen.

      Diese

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