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      Die Kaiserchronik will eine crônicâ sein (V. 17). Eine crônicâ rechnet von einem Gegenwartspunkt zurück und vermisst genau den Abstand zu denen, die vor uns wâren / unt Rômisces rîches phlâgen / unze an disen hiutegen tac (V. 21–23). Sie gehört also zum zweiten der von Stackmann skizzierten Typen. Seinen Anspruch sucht der Kaiserchronist durch ein möglichst lückenloses chronologisches Gerüst zu erfüllen, das die Geschichte des römisch-deutschen Kaisertums vollständig organisiert. Erst eine schlüssige Chronologie kann Basis einer kausalen Verknüpfung von Geschehnissen sein, die als wahrscheinlich gelten kann und den gelehrten Vorbehalt gegen die volkssprachige Geschichtskunde abweist. In der Tat dominiert die Ausrichtung der Kaiserchronik an der chronologischen Ordnung einen großen Teil des Textes und hat entsprechend die meiste Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden, zumal wo die durch gelehrte Überlieferung gesicherte Geschichtszeit mit Sage kollidiert wie beim Ostgotenkönig Theoderich dem Großen.7 Doch ist das nur die eine Seite.

      Mathias Herweg hat auf die eigentümliche narrative Struktur eines Textes hingewiesen, der für ein noch ungeübtes volkssprachiges Publikum bestimmt ist.8 In vielem bleibt das gelehrte Geschichtskonzept stecken. Bekanntlich nimmt die Kaiserchronik viel Sagenmaterial auf; insbesondere in den Randzonen des Textes bemüht sie sich nicht um eine exakte Chronologie. Es sind vor allem drei Komplexe, die sich dem chronologischen Prinzip entziehen: 1. die vielen Sagen und Legenden,9 die der Erzähler einschaltet, 2. die Vorgeschichte des kaiserlichen Rom und 3. der weltgeschichtliche Rahmen der Geschichte des römischen Reichs.10

      Kurz zu eins: Die Ordnung, der der Kaiserchronist sein Material unterwirft, ist immer dann gefährdet, wenn der zu erzählende Stoff eine eigene Faszination entwickelt. Das ist vor allem bei den eingeschobenen Sagen und Legenden der Fall, die mehr oder minder beliebig in den chronologischen Rahmen gezwängt werden, ohne genauer zeitlich fixiert zu sein: ez bechom (V. 690, Veronikalegende); Eines tages (V. 909, ein Verbrechen bei der Eroberung Jerusalems); Duo stuont iz unlange (V. 1235, Faustinianlegende); Aines tages kom iz sô (V. 4415, Beginn der – falsch datierten – Lucretia-Handlung); der cunich siechen began (V. 7813, Einsatz der Silvesterlegende) usw. Solche Zeitangaben sind in frühmittelalterlichen volkssprachigen Erzählungen überall da üblich, wo nicht, wie etwa im Heliand, die heilsgeschichtliche Ordnung der Geschichte genauere Bestimmungen verlangt.11 Das erzählenswerte Ereignis wird, so gut es geht, in die Herrscherchronologie eingefügt. Zu diesem Zweck muss Tarquinius, der Schänder der Lucretia, römischer Kaiser sein und viereinhalb Jahre und zwei Monate herrschen. Die Einschübe sind Relikte eines anderen Geschichtsverständnisses, das auf Bedeutsamkeit statt chronologische Vollständigkeit setzt.

      Zu zwei: Der Erzähler nimmt einige Umwege, bevor er in die Chronik der Kaiser und Päpste einlenkt. Der Einsatz der Erzählung mit dem vor-kaiserzeitlichen Rom verliert sich ebenfalls in einem nebelhaften ‚Irgendwann‘, das typisch für frühe volkssprachige Epik ist:12 Hie bevor bi der haiden zîten (V. 43). Hie bevor ist von dem Zeitpunkt her gedacht, an dem die ‚eigentliche‘ Geschichte einsetzt: Die ‚eigentliche‘ Geschichte ist Geschichte des römischen Kaisertums als Rahmen der Christenheit; der haiden zîten fallen aus der Chronologie heraus. Man fragt nicht nach genauerer zeitlicher Artikulation. ‚Damals‘ stieg Rom durch die Brüder Romulus und Remus zur Weltherrschaft auf (V. 50); das war ‚irgendwann‘; sît (V. 55) – seitdem oder auch später – dienten ihm elliu diu rîche (V. 56). Es ist eine ungemessene Zeit vor der Zeit. Auch in diesem Abschnitt gibt es eine Zeitrechnung, doch ist es der römische Kultkalender, der seine Spuren in der christlichen Zeitrechnung hinterlassen hat und der in der Perspektive seiner christlichen Überwindung dargestellt wird.

      Zu drei: Der Einsatz der ‚eigentlichen‘ Erzählung erfolgt unvermittelt: Aines tages iz geschach (V. 235), dass eine schelle anzeigt, das Dûtisc volch (V. 246) habe sich gegen Rom erhoben. Damit geraten die Römer mit demjenigen Volk aneinander, das ihre weltgeschichtliche Rolle übernehmen wird.13 Die Aufgabe, den Aufstand zu befrieden, wird Julius Caesar übertragen. Es beginnen die Auseinandersetzungen Caesars mit den Schwaben, Baiern, Sachsen und Franken. Damit schweift der Blick wieder in eine chronologisch nicht vermessene Vorgeschichte, in ‚Heldenzeit‘, die – etwa die Thüringer-Sage – auch in einigen kryptischen Anspielungen präsent ist. Diese Wendung zur Sage hat Konsequenzen für die Erzählweise. Deutlich sind noch heldenepische Initialformeln erkennbar:14 ze Swâben was dô gesezzen / ain helt vil vermezzen / genant was er Prenne (V. 273–275); in Bayern vil manich tegen inne saz (V. 294); Franke gesaz am Rhein (V. 373). Die Alexander-Sage wird in der Genealogie der Sachsen aufgerufen, denn diese stammen von des wunderlîchen Alexanders man ab (V. 328), von dem sagenhaften Heros, nicht dem Herrscher über das dritte Weltreich. Die Franken kommen wie das Geschlecht Caesars aus Troja, was Anlass ist, die Trojanersage einzuspielen, auf die Irrfahrten des Odysseus zu kommen, die Geschichte des Aeneas, die Städtegründungen durch versprengte Trojaner.

      Dabei bleibt das zeitliche Verhältnis dieser Sagen zueinander unartikuliert. Alles spielt in einer dunklen Gleichzeitigkeit. Caesar besiegt die Stämme der Schwaben, Baiern, Sachsen und Franken, gründet feste Plätze in Deutschland, erobert Trier, und steht damit an der Spitze dieser heroischen Welt, unz im alle Dûtiske hêrren / willic wâren ze sînen êren (V. 453f.). Wenn man ihm die Rückkehr nach Rom versagt, kann er mit Hilfe der Herren in Dûtiscem rîche (V. 464) die Herrschaft in Rom erobern.

      Jetzt könnte die Geschichte des römisch-deutschen Kaisertums beginnen, in das der Kaiserchronist die Geschichte der Evangelien und des frühen Christentums einordnet und die er klar chronologisch vermessen muss. Doch wird das chronikalische Prinzip, ohnehin erst nach längerem Anlauf erreicht, noch einmal verwirrt, wenn die geschichtstheologische Lehre von den vier Weltreichen, die aus der Auslegung zweier Träume durch den Propheten Daniel abgeleitet wird, eingespielt werden soll.15 Sie stammt wieder aus dunkler Vorzeit und erfüllt sich zur Zeit Caesars. In der schon bekannten unbestimmten Weise einer vorchronologischen Zeitbestimmung heißt es:

       In den zîten iz gescach

       dannen der wîssage Dâniêl da vor sprach

       daz der chunic Nabuchodonosor sîne troume sagete

      die er gesehen habete (V. 526–529)16

      Wie häufig in den Adaptationen des Traums, sind Daniel 2 (der Traum des Nabuchodonosor) und Daniel 7 (Daniels Traum) zusammengelegt. In dem zweiten Traum zeigen vier Tiere, die Daniel sieht, vier künftige Reiche an. Das erste Tier ist eine geflügelte Löwin, das zweite ein Bär mit riesigen Zähnen, das dritte ein geflügelter Leopard; das vierte ist ein besonders furchtbares, jedoch unbezeichnetes Tier mit zehn Hörnern, dem ein elftes wächst. Seit der Spätantike stehen die vier Tiere für die Reiche der Babylonier, der Meder und Perser, der griechischen Makedonier (Alexander) und schließlich der Römer; das elfte Horn, auf das vierte Tier übertragen, kündigt den Antichrist an.17 Die Weltreichelehre gliedert Heilsgeschichte; in dieser ist das Römische Reich ausgezeichnet: An seinem Anfang, in der Fülle der Zeit, wird Christus geboren, und es dauert bis zum Weltende, bis zur Herrschaft des Antichrist. Allerdings ist sein Fortbestand im römisch-deutschen Kaisertum in der frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung keineswegs selbstverständlich, doch setzt sich dieses Bild im 11. und vor allem 12. Jahrhundert durch.18 Die Kaiserchronik kann also nicht auf eine jahrhundertelange Tradition bauen, sondern vertritt mit ihrer Reihe römischer und deutscher Herrscher einen relativ neuen Trend. Sie nimmt die Deutungsvorgabe auf, besetzt sie aber in charakteristischen Einzelheiten um.

      Der Versuch des Kaiserchronisten, Daniels Prophezeiung seinem Geschichtswerk zu integrieren, zeigt, dass er diese Tradition kennt, doch ändert er ihre Bedeutung.19 Zum einen verändert er die Reihenfolge der Tiere, von denen Daniel träumt (Löwe, Bär, Leopard, von Daniel unbenanntes Untier), in Leopard, Bär, unbenanntes Untier (= Eber) und Löwin. Damit wird der Bezug auf die seit der Spätantike übliche Zuweisung der beiden ersten Weltreiche auf die vorderasiatischen Großreiche und die translatio imperii von Osten nach Westen zerstört. Am Anfang stehen die Griechen, dann folgt ein Tier, der Bär, der nicht für ein bestimmtes Weltreich steht, vielmehr der bezaichenet driu [!] kunincrîche / diu wider aim solten grîfen (V. 567f.) –

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