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bemühen wir uns anhand der Tarquinius-Episode um ein facettenreicheres und differenzierteres Bild der Bearbeitungstendenzen der B- und C-Fassungen, als man es bisher in den einschlägigen Literaturgeschichten und Handbüchern lesen kann.3 Bei einem narrativisch komplexen, auf heterogenen Quellen beruhenden Werk wie der Kaiserchronik kann die Analyse einer einzelnen Episode zwar keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, da jede Geschichte ihrer eigenen Studie bedarf. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass bei aller späteren Verfeinerung und Relativierung die hier präsentierten Ergebnisse wichtige neue Erkenntnisse für ein Verständnis der Bearbeiter und deren Arbeitstendenzen liefern.

      Die Fassung B

      Da der B-Redaktor den Text von A allgemein gekürzt hat, wie wohl bekannt, soll es nicht überraschen, dass seine Version der Tarquinius-Episode dreißig Verse weniger als das Original umfasst. Allerdings fällt beim genaueren Vergleich der Fassungen auf, dass der B-Redaktor seine Vorlage nicht nur gekürzt, sondern auch durch eigene Zusätze erweitert hat. Manchmal sind beide Tendenzen in ein und derselben Passage wirksam.

      Als Conlatinus, aus Viterbo geflüchtet, sich vor dem Senat beklagt, der den Kriegszug gegen die Stadt beschließt, heißt es z.B:1

A 4368–76 Duo der helt vil balt floh ze Rome in die stat, duo claget er den altherren, wi iz im ergangen ware. si luten ir scellen: duo samenten sih die snellen. si sprachen alle dar zuo, wi iz Piternære ie getorsten tuon? si redeten daz iz groz laster wære, daz iz ie dehaimme Romære gescæhe. B do der held lussam hin wider ze Rom cham, do begund er sein not sagen den senatorn und chlagen, und sein groz swær, daz er chaum entrunnen wære von den herren ze Bittern: die heten in erslagen gern; daz wær Trierer rat. daz dauht Romer missetat. si leuten di schellen: do samten sich di snellen. hervart si swuoren, ze Bittern si vuoren.

      An der synoptischen Gegenüberstellung der Passagen in A und B kann man sofort erkennen, dass die Änderungen von B sich alle auf die indirekte Rede beziehen. In der A-Fassung wird der Inhalt von Conlatinus’ Klage äußerst knapp zusammengefasst: do claget er […] wie iz im ergangen ware. Der Grund dafür ist, dass die Tatsachen, über die Conlatinus Bericht erstattet, zwar den Senatoren neu, dem Zuhörer oder Leser der Chronik dagegen bereits bekannt sind: Die dieser Passage unmittelbar vorausgehenden Verse enthalten einen ausführlichen Bericht des Erzählers über den Plan der Trierer, ihren Erzfeind Conlatinus in Viterbo ermorden zu lassen, und auch darüber, wie Conlatinus gerade noch mit seinem Leben davon gekommen war. Aus Rücksicht auf das Publikum verzichtet der Verfasser von A also auf eine Wiederholung der Begebenheiten. Der Bearbeiter von B nimmt dagegen keine Rücksicht auf das Informationsbedürfnis – besser gesagt: auf die Langeweile – seines Publikums, denn in einer beträchtlich erweiterten Wiedergabe von Conlatinus’ Rede lässt er die Verschwörung und die knappe Flucht zum zweiten Mal ausführlich erzählen. Allerdings kürzt er die verbalen Reaktionen der Römer; es heißt nur lapidar: daz dauht Romer missetat (,die Römer hielten es für eine Schandtat‘) und: hervart si swuoren (,sie verpflichteten sich zum Kriegszug‘). Durch diese Kürzung wird ein besonderer Aspekt des A-Textes gedämpft: Die Empörung der Römer über die Provokation, die der Verfasser des A-Textes in indirekter Rede darstellt (,Woher nehmen sich die Viterber die Freiheit?‘; ,Dass so etwas einem Römer passiert, ist ja unerhört!‘), ist nunmehr lediglich als Implikat der Behauptung daz dauht Romer missetat vorhanden. Der Verlust dieses Aspekts wird jedoch durch die Einführung einer neuen Perspektive auf die erzählten Ereignisse kompensiert: Conlatinus erscheint jetzt nicht nur als tapferer Krieger, der die Römer durch seine Waffentaten – also: handelnd – für sich zu gewinnen weiß; seine Rede vor dem Senat weist ihn auch als wirksamen Orator aus, der es versteht, die Römer durch die Überzeugungskraft seiner Worte für seine Sache zu gewinnen.

      Tatsächlich besteht ein hoher Anteil der Erweiterungen von B in direkten oder indirekten Reden, die Conlatinus und auch seiner Ehefrau Lukretia in den Mund gelegt werden. Als Conlatinus z.B. die Römer im Kampf gegen die Viterber führt, ergreift er die Fahne und hält in B – das ist der Unterschied – eine Ansprache, mit der er die Römer ermutigt (trœsten) und zum Kampf auffordert (manen):

A 4403–04 Collatinus nam Romare van, er cherte an den burchgraben. B der Trierer Collatinus, daz puoch sagt uns alsus, nam Romer vanen, er begund si trœsten und manen.

      Als Conlatinus behauptet, seine Frau sei die beste, drückt er sich in B ausführlicher aus als in A:

A 4441–46 Duo sprah der ellende man, der von Triere dar kom: ‘sam mir min lip! ih han daz aller frumigiste wip di der ie dehain man uf romisker erde gewan’. B do sprach der ellende man von Trier: ‘sam mir mein leip! ich hans allr beste weip die mein ougen ie gesach. ich weiz wol daz mir nie geschach von ir reht leide. dez swer ich tausent aide, daz nie weip enwart, si ist von einer reiner art, daz weiz ich wol ane wan’.

      Diese Ergänzung ist besonders signifikant, weil sie aus einer Prahlerei (,ich habe die allerbeste Frau, die es in Rom je gegeben hat!‘) eine Liebeserklärung macht (,ich habe die allerbeste Frau, die mein Auge je gesehen hat‘). Conlatinus wird als getreuer Ehemann dargestellt, und seine Frau steht ihm an Vorbildlichkeit in nichts nach, wie aus seiner Rede hervorgeht. In diesem Zusammenhang verdient die Passage, in der Lukretia in die Erzählung eingeführt wird, unser Interesse. Der B-Redaktor tilgt den Hinweis auf Ovid und stellt stattdessen Lukretias von Gott gegebene sinne heraus:

A 4337–46 diu hiez Lucretia: si stat in Ovidio gescriben da. do wart im daz wip rehte also der lip. duo minnet ouh in diu frowe mit aller slahte triwen, mit zuhten unde mit guote, mit aller deumuote minnete si den helt palt. si heten grozer wunne gewalt. B deu hiez Lucretia:

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