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Anspruch bezogen, doch wird es forschungsstrategisch durch die Bevorzugung solcher Gattungen und Einzeltexte spezifiziert, bei denen zu erwarten ist, dass sie im skizzierten Bezugsrahmen eine neue Perspektivierung erfahren können: großepische Gattungstraditionen wie Antikenroman, Artusroman, Bibelepos, Reim- und Prosachronik, Kleinformen wie Exempla und Apophthegmata, nicht zuletzt zentrale Einzelwerke, in denen – wie im Annolied, in Heinrichs von Veldeke Eneasroman oder Konrads von Würzburg Trojanerkrieg – das Erzählen von Geschichte konstitutive Bedeutung erlangt.

      2. Anknüpfungspunkte in der Erzählforschung: Prüft man die aktuelle Forschung zur mittelalterlichen deutschsprachigen Erzählliteratur, so fällt auf, dass narratologische Analysen ganz vorwiegend weltlichen Texten, etwa der mittelhochdeutschen Heldenepik, insbesondere jedoch den höfischen Romanen des 12./13. Jahrhunderts gewidmet sind. Alternativ dazu verfolgt der Band das Ziel, diese Text- und Beobachtungsbasis auszuweiten und speziell Erzählungen mit weltreferentiellem, d.h. historischem Wahrheitsanspruch narratologisch zu untersuchen. Das Thema ist dabei so angelegt, dass Fragen der Fiktionalität und Faktualität nicht weiter berührt sind, da sie noch in jüngster Zeit Gegenstand mehrerer einschlägiger Studien und Sammelbände waren.9 Vielmehr werden Fragestellungen der jüngeren Erzählforschung weiterverfolgt, die über die fiktionale Literatur hinausgehen und verstärkt faktuale ‚Wirklichkeitserzählungen‘ in den Blick nehmen. Zentral sind insbesondere zwei bisher erst für im engeren Sinne literarische Texte erprobte Ansätze. Erstens die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erzählforschung, die ‚Kulturen‘ als Netze von Narrativen versteht und Erzählmustern grundlegende Bedeutung für die Produktion von Literatur zuschreibt.10 Zweitens die systematische Beschreibung von Erzählstrategien und Erzählverfahren, wie sie namentlich für den höfischen Roman geleistet wurde.11 Unter dieser doppelten Perspektive geht es um eine Weichenstellung, wie sie Stephen Jaeger im Schlussargument seiner Besprechung von Albrecht Koschorkes Monographie Wahrheit und Erfindung vorgeschlagen hat, indem es gilt, „statt auf das Allgemeine [den] Schwerpunkt auf das […] Singuläre bzw. Besondere des Erzählens [zu] legen“.12 Denn während die Diskussion um die Narrativität von Geschichte und die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen weit fortgeschritten ist, stellen konkrete und über Einzelanalysen hinausweisende Untersuchungen von Strategien und Verfahren der Narrativierung von Geschichte in volkssprachigen Erzählungen mit historischem Wahrheitsanspruch nach wie vor ein dringendes Forschungsdesiderat dar.

      Zurückgegriffen werden kann und soll auf ein methodisches Instrumentarium, das zwar vorwiegend für die Analyse im engeren Sinne literarischer Texte entwickelt wurde, dessen Anwendbarkeit auf Gattungen nicht primär literarischen Erzählens aber noch erst zu diskutieren und dessen Historisierung zu erproben ist. Nimmt man für historisches Erzählen nicht von vornherein einen geringeren Grad narrativer Komplexität an, stellt sich nämlich die Frage nach den Spezifika, die sich aus einer im Wirklichkeitsanspruch gründenden Erzählweise ergeben, grundsätzlich neu. Nachzuspüren ist in diesem Zusammenhang einer Vielzahl von Aspekten: So der Semantisierung und Funktionalisierung literarischer Muster in wechselnden Kontexten, den Möglichkeiten der Besetzung der Erzählstimme und ihrer Darbietung im Verlauf der Narration, den Verfahren der kognitiven Rezeptionslenkung, der Relevanz perspektivischen und perspektivierenden Erzählens, den Gestaltungsprinzipien diegetischer Zeit, den Techniken kollektiver Identitätsbildung, den im Erzählen verhandelten Formen kulturellen Wissens sowie nicht zuletzt der metaisierenden Selbstthematisierung des Erzählens.

      Zur Einlösung dieses Forschungsdesiderats will der Band dadurch beitragen, dass er sein Thema zunächst exemplarisch in historischen Fallstudien zur Kaiserchronik und zur Heilsgeschichte angeht und danach systematisch nach den Strategien der Narrativierung von Vergangenheit fragt. Am Anfang steht der Beitrag der Cambridger Mediävisten Mark Chinca, Helen Hunter und Christopher Young, die ein mehrjähriges Projekt in britisch-deutscher Zusammenarbeit zur Neuedition der Kaiserchronik durchgeführt haben.13 In ihrem Beitrag bewerten sie die reiche Überlieferung der vor 1150 verfassten Kaiserchronik auf dem aktuellen Stand der Forschung neu und demonstrieren am Beispiel der Tarquinius- und Lucretia-Viten, dass gegenüber dem ‚alten‘ Text (A, um 1150) die zwei späteren Fassungen der Dichtung (B um 1200, C nach 1250) als Neubearbeitungen und literaturgeschichtlich als eigenständige Werke zu gelten haben. Durch die Konzentration auf die im Vergleich der drei Fassungen unterschiedlichen narrativen Techniken, mit denen die ‚Autoren‘ am Text der Kaiserchronik arbeiten, bietet der Beitrag einen überlieferungs- und textgeschichtlichen Einstieg in den ersten Themenblock, der sich der Kaiserchronik als Paradigma widmet.

      Die Kaiserchronik ist ein frühes volkssprachliches Beispiel für die Überformung laikalen Geschichtswissens durch Konzepte und Praktiken der lateinisch-gelehrten Historiographie sowie durch biblische Modelle von Weltgeschichte (Weltreichelehre, Typologie). Allerdings sucht die Forschung nach wie vor nach einem einzigen narratologischen und epistemischen Deutungsschlüssel, der es erlaubt, das heterogene Text-, Erzähl- und Wissenskonglomerat der Chronik aufzuschließen.14 Zwei Beiträge setzen bei diesem grundsätzlichen Problem an und entwickeln neue Lösungen: Jan-Dirk Müller (München) geht von Textpassagen aus, die sich – so wie die Darstellung der Welt vor Caesar und die biblische Daniel-Prophezeiung – dem chronologischen und geschichtstheologischen Gesamtkonzept der Kaiserchronik entziehen. Es gelingt ihm, das Zeitkonzept der Episoden herauszuarbeiten und eine ‚ältere‘ Schicht des Erzählens von Geschichte freizulegen, die Ereignisse der Vergangenheit nicht chronologisch und faktenbeschreibend, sondern – anders als gelehrte Geschichtsschreibung – in ihrer Bedeutsamkeit darstellt.15 Unter anderen methodisch-theoretischen Prämissen skizziert Christoph Pretzer (Oxford) alternativ eine Interpretation, wonach das Erzählen in der Kaiserchronik ihren Erfolg nicht aus einem in sich kohärenten Erzählplan, sondern aus einer pluralen Vielfalt der Erzählansätze gewinnt. Deren dominanter Gestaltungsfaktor seien die Einzelepisoden und exemplarische Erzählweisen, obwohl auch gelehrte Verfahren eine Rolle spielen.

      Hier schließen drei Analysen an, die sich speziell mit der narrativen Organisation der Kaiserchronik auseinandersetzen. Elke Brüggen (Bonn) analysiert die Ebene der Figurenzeichnung und fragt in nuancierter Analyse, mit welchen Effekten die Gegner des römischen Reichs in der Caesar-, Tarquinius- und Severus-Vita dargestellt werden. Narrativierung von Geschichte, so ihr Ergebnis, arbeitet mit unterschiedlichen Verfahren, zu denen die Dynamisierung des Erzählplots, die Strukturierung der Figurenbeziehungen, doch auch intra- und intertextuelle Verknüpfungen und das Kombinieren von Erzählmustern gehören. Silvia Reuvekamp (Münster) erörtert die Bedeutung topisch-exemplarischer Wirklichkeitskonstruktion in den Figurenhandlungen der Kaiserchronik und in Konrads Trojanerkrieg. In Auseinandersetzung mit jüngeren Forschungsansätzen zeigt sie am Beispiel der Lucretia-Erzählung zunächst die Unterschiede zwischen antiker und christlicher Geschichtskonzeption, um dann differenzierend zu klären, inwiefern sich die Figurengestaltung der Lucretia in der Kaiserchronik und des Jason im Trojanerkrieg zu einer Geschichtsdarstellung noch in den Grenzen einer exemplarischen Sinnbildung bewegt, einer Darstellungsweise, die mit seriellen Wiederholungen arbeitet und die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Erzählens selbst lenkt. Bettina Bildhauer (St Andrews) behandelt die metanarrativen Passagen in der Kaiserchronik und rückt insbesondere die textile Netz- und Webmetaphorik in den Blick, wie sie in der viel diskutierten Severus- und Adelger-Episode16 mit der Binnenerzählung vom gegessenen Hirschherzen zu fassen ist. Ihre anregende Interpretation gilt dem in der Tierfabel angelegten poetologischen Modell für die Rezeption der Erzählung und damit das Verstehen von Geschichte.

      Nach der Konzentration auf die Kaiserchronik befassen sich zwei Beiträge mit heilsgeschichtlichen Narrativen, indem sie das Erzählen von Geschichte zunächst unter dem Aspekt der Zeitlichkeit betrachten. Christina Lechtermann (Frankfurt am Main) untersucht narrative Inszenierungsformen von Zeit und Ereignis in der Erlösung, einer heilsgeschichtlichen Dichtung aus dem 14. Jahrhundert. Dabei geht es ihr um einen aus einer Bibelstelle in den Psalmen (Ps. 84,11) entwickelten ‚Streit der Töchter Gottes‘ über die (Un-)Erlösbarkeit der Menschheit nach dem Sündenfall, der mit jeweils wechselnden Positionen zwischen der personifizierten Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden ausgetragen wird. Der Versöhnungskuss von Gerechtigkeit und Frieden, der den Streit beendet, steht am Anfang der Erzählung. Von dieser besonderen Konturierung her erhellt der Beitrag

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