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„Die Bearbeitungen B und C sind […] neue Werke. Auch wenn die Veränderungen des alten Textes nicht immer so weit gehen wie in der Strickerschen Bearbeitung des Rolandsliedes, eines von Form und Stil her der Kaiserchronik verwandten Werkes, so verdienen die Fassungen B und C ebenso wie Strickers Karl eigene Ausgaben, allerdings am besten in einer Synopse zusammen mit der ursprünglichen Fassung A. […] Die Fassungen B und C der Kaiserchronik gehören zu den Editionsdesideraten der Versepik des 13. Jahrhunderts.“7

      Mit der Vorbereitung einer synoptischen Ausgabe aller drei Fassungen als Teil eines durch den britischen Arts and Humanities Research Council geförderten und in Cambridge, Marburg und Heidelberg durchgeführten Großprojektes soll dieser Wunsch jetzt endlich in Erfüllung gehen.8 Vorausgesehen ist eine Edition der drei mhd. Versfassungen der Chronik mit Einleitung, Stellenkommentar und kritischem Apparat. Als Leithandschriften sollen jeweils die Vorauer Handschrift (A), die Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2779 (B), und eine zweite Wiener Handschrift ÖNB Cod. 2685 (C) dienen. Ein zweites, eng damit verbundenes Ziel des Projekts – Kaiserchronik digital – ist bereits abgeschlossen9 und öffnet der Forschungscommunity die gesamte Kaiserchronik-Überlieferung in digitalisierter Form im Rahmen einer Online-Präsentation. Jede Handschrift und jedes Fragment wird von einer recherchierbaren Transkription begleitet in einer Konstellation, die es den Nutzern erlaubt, entweder die Handschriften oder die Transkriptionen aufzurufen und in verschiedenen Kombinationen parallel zu lesen.10

      Diese komplementär konfigurierten Ausgaben haben eigene Stärken und Schwerpunkte. Jene stellt die synoptische Vielfalt des Werkes zum ersten Mal in gut lesbarer Form dar, während diese multiple Vergleiche ermöglicht und feinste Unterschiede der Textvarianz dokumentiert, die in einem traditionellen Apparat sonst verlorengingen. Zusammen dienen beide Editionen dazu, neue Fragestellungen sowie innovative Zugänge zu einem der bedeutendsten Werke des deutschen Mittelalters zu eröffnen. Einige dieser Fragen werden im Folgenden am Beispiel der Tarquinius-Episode erläutert. Der Aufsatz soll konkret und exemplarisch zeigen, wie im deutschen Mittelalter eine Geschichte erzählt, umerzählt und weiter tradiert wurde. In einem ersten Schritt fokussiert er die Varianz der A-Fassung und in einem zweiten den Text der drei Fassungen. Aus Platzgründen kann die Analyse nur diese einzelne Episode behandeln und muss die Frage nach einer möglichen globalen Kohärenzstiftung des Werkes ausklammern, die die Forschung in letzter Zeit beschäftigt hat.11

      I. Varianz von Fassung A

      Ausführliche Studien zur Varianz der drei Fassungen sind in Vorbereitung und folgen in nächster Zeit, so dass wir uns hier auf die bedeutendsten Aspekte der bekannten A-Fassung beschränken.1 Bei der Arbeit an beiden Ausgaben hat sich die A-Fassung immer wieder als ein dynamischer, von Beginn an für Retextualisierungsversuche offener Text gezeigt.2 Text- und überlieferungsgeschichtlich wesentlich ist, dass man an der Überlieferung von A genau dieselben formalen Tendenzen zur Besserung von Reim und Metrum beobachten kann, die für die Fassungen B und C so prägend sind. Wie eingangs erwähnt, wird von der Forschung immer wieder zu Recht behauptet, dass die Redaktionen B und C den alten Text von A modernisieren, und zwar auf eine Weise, die dem durch die höfische Epik bedingten Formwandel Rechnung trägt: Unreine Reime und Assonanzen werden beseitigt; die Toleranz der frühmhd. Dichtkunst gegenüber metrisch langen Versen mit bis zu sieben Hebungen und einer in rhythmischer Hinsicht sehr freien Taktfüllung (Takte – und auch Auftakte – mit drei und sogar mehr Silben sind in der Fassung A keine Seltenheit) wird eingeschränkt: In den Fassungen B und C wird der Vierheber mit geregeltem Wechsel von Hebung und Senkung zur angestrebten – wenn auch nicht immer vollkommen verwirklichten – metrischen Norm. Aus der Überlieferung der A-Fassung geht aber sehr deutlich hervor, dass es offensichtlich möglich war, den in formaler Hinsicht altertümlich wirkenden frühmhd. Text zu aktualisieren, ohne am Versbestand drastische Änderungen vorzunehmen. Dies war Schröder wohl bekannt, wie in folgendem Satz deutlich zum Ausdruck kommt: „Die hss. 2 und 4 [nach unseren Siglen: M und H] haben die gleiche tendenz, den vers von überflüssigem zu entlasten und mit bequemen mitteln einen reinen reim zu schaffen (2 freilich weit mehr als 4); sie treffen daher massenhaft in auslassungen und gelegentlich auch einmal in einer naheliegenden reimbesserung zusammen“.3 Dem Editor des neunzehnten Jahrhunderts, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Archetypus der A-Fassung möglichst getreu zu rekonstruieren, war diese Tatsache allerdings uninteressant.4 Seine Gleichgültigkeit hat sie der Forschung auch dauerhaft verschleiert.

      Als Beispiel für die metrische Modernisierung des A-Textes nehmen wir folgende Zeilen aus der Tarquinius-Episode.5 Der Kontext ist folgender: Die Römer, die vor Viterbo lagern, um sich für die heimtückische Behandlung ihres Freundes Conlatinus zu rächen, unterhalten sich in einer Kampfpause. Bevor Conlatinus voller Selbstbewusstsein behauptet, die beste Frau in Rom zu haben, und mit verhängnisvollen Konsequenzen mit Tarquinius darüber eine Wette schließt, geht es allgemein um verschiedene höfische Themen:

      V. 4423–25

A1 an den selben stunden
redeten si von sconen rossen unde von guoten hunden,
si redeten von vederspil,
[…]
H an den selben stunden
redeten sie von rossen unt guten hunden,
si redeten von vedirspil,
[…]
M an den selben stunden
von rossen si reden begunden,
von hunden unt von vederspil.
a2 an den selben stunden
reten si von schœnen rossen unt von guoten hunden.
si reten ouch von vederspil.

      Der zweite Vers (V. 4424) hat sieben Hebungen in A1 (rédeten sí von scónen róssen únde von gúoten húnden; wenn man nach dem Heuslerschen System zählt, und die weibliche Kadenz als zweihebig auffasst, sind es sogar acht Hebungen), aber nur fünf (bzw. sechs) im Text von H, der das Adjektiv schœne getilgt und die Präpositionalphrasen von einem einzigen von abhängig gemacht hat (rédeten sí von róssen unt gúten húnden). Das Fragment a2 weist eine andere Lösung auf. Die Interpunktion und Rechtschreibung – Reimpunkt hinter rossen; die unmittelbar darauffolgende Konjunktion un(t) bzw. un(de) groß geschrieben – legen nahe, dass der Schreiber den metrisch sehr langen V. 4424 als zwei kürzere Verse von je vier (bzw. fünf) und drei (bzw. vier) Hebungen aufgefasst hat, obwohl diese Spaltung des Verses den Reim zerstört: Das Substantiv rossen steht verwaist da. Die Münchener Handschrift kürzt die zweite der beiden Präpositionalphrasen (von guoten hunden) und bringt sie in dem nächsten Vers unter, in dem durch die Tilgung von si redeten Platz geschaffen worden ist; V. 4424 bekommt an die Stelle der guoten hunde ein neues Reimwort begunden. Das metrische Ergebnis ist ein Dreiheber (bzw. Vierheber); die Änderungen erzielen darüber hinaus ein höheres Maß an syntaktischer Integration, da

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