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imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte‘ untersuchen Mary Boyle (Oxford) und Annette Volfing (Oxford) anachronistische Verfahren der literarischen Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte. Das zentrale Ergebnis ihrer Analyse ist, dass so unterschiedliche Textsorten wie mystische Prosa, geistliches Spiel und Bibelepik eigene Strategien verfolgen, um die lineare Struktur geschichtlicher Zeit zugunsten der Präsenz religiöser Erfahrung aufzuheben.

      Die anschließenden Beiträge widmen sich dem biographischen und typologischen Erzählen im biblischen und heilsgeschichtlichen Kontext. Rabea Kohnen (Wien) fragt nach den in der Bibel erzählten Lebensgeschichten, für die es bezeichnend sei, dass sie durch ein übergeordnetes Verständnis von Geschichtlichkeit und Heilsgeschichte verbunden sind. Am Beispiel Johannes des Täufers, einer durch ihre Konkurrenz zu Jesus ambivalente Gestalt, analysiert sie so am Beispiel der volkssprachigen Evangelien-Bearbeitungen im Passional und in der Saelden hort die Doppelheit von biographischem und heilsgeschichtlichem Erzählen. Gerade für das Verständnis von Heilsgeschichte erweist sich der Ansatz als lohnend, da sich zeigt, wie komplex biographisches und geschichtlich-theologisches Erzählen zusammenspielen, um religiöses Heil als überzeitliche Wahrheit zu erzählen. Cora Dietl (Gießen) analysiert den Prosatraktat Vom Antichrist des Österreichischen Bibelübersetzers als hybride Kombination verschiedener Schreibmodi und damit als Konstrukt heilsgeschichtlichen Wissens. Wie sich nämlich beispielhaft für mittelalterliches Erzählen von Geschichte zeigt, vertritt der Text mit seinem narrativen und zuweilen pseudo-historiographischen Darstellungsmodus einen gegen gelehrte Methoden gerichteten Laienstandpunkt, der gerade in den Beglaubigungsstrategien hervortritt.

      Im Blick auf den Sachverhalt, dass im heilsgeschichtlichen Denken der Christen die von Gott erschaffene Welt einen absoluten Anfang und mit dem Jüngsten Gericht ein vorbestimmtes Ende hat, gehen weiteren Beiträge der Frage nach, welche Narrative und Denkformen sich im Kontext dieses Geschichtsverständnisses, sei es weltlicher, sei es in geistlicher Literatur, aufspüren lassen. Sandra Linden (Tübingen) erkundet die in den Prologen volkssprachlicher Geschichtsdichtung greifbaren Vorstellungen, wie historisches Erzählen gestaltet sein soll. Der Ansatz erweist sich als aufschlussreich, da sowohl große Geschichtswerke wie Jans Enikels Weltchronik und Ottokars Österreichische Reimchronik als auch kleinere Erzählungen wie das Annolied poetologische Erörterungen bieten. Nicht zufällig mündet die Analyse in wichtige Fragen: Operiert historisches Erzählen mit anderen Vermittlungs- und Wissensmodellen als fiktionales Erzählen? Welche Begründungsstrategien beglaubigen dieses Erzählen? Greift es auf eigene Autor-Werk-Konzepte zurück, um sich von fiktionalem Erzählen abzugrenzen? In gewisser Nähe zu diesem Fragenbündel erörtert Mathias Herweg (Karlsruhe) die These, das epische Œuvre Heinrichs von Veldeke erhalte seine Kohärenz nicht durch den neuen Stil des höfischen Erzählens, sondern dadurch, dass Veldeke Geschichte als narratives Projekt volkssprachlicher Literatur etabliert. Für die Begründung dieser höchst produktiven These vergleicht er den hagiographischen Sente Servas und den höfischen Eneasroman und zeichnet auf narratologischer Ebene schlüssig nach, wie beide Erzählungen ihre durch biblische Narrative geprägten Episoden in die Reichs- und Heilsgeschichte einfügen.

      Almut Schneider (Göttingen) wirft die Frage auf, in welcher Weise Konrads von Würzburg Trojanerkrieg das Denkmuster der Typologie dem historischen Erzählen als narratives Verfahren unterlegt ist. In einer klug aufgebauten Lektüre, die der Beschreibung des künstlichen Vogelbaums am Hof des Priamos gilt (Trojanerkrieg, v. 17560–17613), kann sie zeigen, wie die Beschreibung antike Deutungsmuster christlich umbesetzt wird. Dabei erweist sich die Typologie als Ordnungsmuster wie Strategie kunstvollen Vergegenwärtigens historischer Ereignisse. Nine Miedema (Saarbrücken) untersucht Verfahren und Strategien der Innenwelt-Darstellung in Rudolfs von Ems Weltchronik und zeigt auf breiter Materialbasis, inwieweit Gedankenreden und Soliloquien nicht nur der Vermittlung faktualen historischen Wissens dienen, sondern eine emotionale Aneignung der erzählten Weltgeschichte ermöglichen. Komplementär bietet Henrike Manuwald (Göttingen) eine subtile Interpretation der geschichtlichen Verortung einer Heiligenvita. Ihr Beispiel ist das Sankt Stephans Leben Hawichs des Kellners, eine Vita, die wegen des spezifischen Umgangs mit der Historizität des Stephanus-Lebens näheres Hinsehen verdient.17 Die Erzählung verarbeitet historische Ereignisse in enger Vernetzung mit der politischen Geschichte, so dass sich der Fokus des Erzählten auf die Einführung einer christlichen Rechtsordnung verschiebt.

      Die Narrativierungsstrategien eines in der Forschung bisher kaum wahrgenommenen Werkes aus frühhumanistischen Kreisen, der Excerpta chronicarum des Johannes Platterberger und Dietrich Truchseß, erhellt Linus Ubl (Oxford). Er zeigt, wie der ‚Konstruktcharakter‘ der Geschichte auf mehreren Ebenen konsequent transparent gehalten wird – und schon im Titel des Werkes (Excerpta chronicarum statt etwa Liber chronicon) explizit angelegt ist –, um Geschichte als konstruierte und reflektierte Verknüpfung von Vergangenheitspartikeln zu präsentieren. Auch die Zeitlichkeit wird zum Gegenstand reflexiver Betrachtungen, wenn Unstimmigkeiten zwischen unterschiedlichen Quellentexten beobachtet und erörtert werden. Ein Beispiel von anderem Zuschnitt stellt Henrike Lähnemann (Oxford) in ihrem Beitrag zur 1462 beim Bamberger Drucker Albrecht Pfister gedruckten Kompilation der alttestamentlichen Joseph-, Daniel-, Judith- und Esther-Bücher vor. Da die in Manchester beheimatete John Rylands Library eine der größten Sammlungen von Pfister-Drucken weltweit beherbergt, hat der Beitrag einen willkommenen Bezug zum Tagungsort. Die Überlegungen machen deutlich, wie wichtig es ist, die für Drucke und ihren Wahrheitsanspruch zentrale Bezeichnung der historia auf das implizite Geschichtskonzept zu befragen.

      Die erzählerische Formierung der Selbstwahrnehmung und Identität von Gruppen und Gemeinschaften stellen weiterführend gleich mehrere Beiträge zur Diskussion.18 Gerhard Wolf (Bayreuth) fragt nach Formen und Funktionen narrativer Identitätsstiftung in deutschsprachigen Reimchroniken und zieht in einem weiten zeitlichen Panorama dafür das Annolied, die Kaiserchronik sowie Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt Köln heran. Wie der Beitrag überzeugend herausarbeitet, entwerfen die Chronisten selten nur ein einziges Identitätsangebot – sie gestalten stattdessen zumeist mehrere verschiedene Formen politischer, sozialer, religiöser oder ästhetischer Selbstwahrnehmung. Ricarda Bauschke (Düsseldorf) behandelt einen wenig bekannten französischen Text, Le voyage de Charlemagne à Jerusalem, der mit der Karlsepik allerdings eine in der deutschen Literatur überlieferte Gattungstradition aufgreift. In einer eng am Text durchgeführten Analyse des Werkes beleuchtet sie präzise die Interferenzen zwischen parodistischem Erzählmodus einerseits und historischem Erzählen andrerseits.

      An die Diskussion zum identitätsstiftenden Geschichte-Erzählen knüpft Cordula Kropik (Basel) an, indem sie am Beispiel spätmittelalterlicher Sängererzählungen die Interferenz von Helden- und Dichtersage verfolgt. Dabei begnügt sie sich mit Recht nicht mit dem herkömmlichen Verständnis, wonach die Dichtungen eine anachronistische Tradition der deutschen Literatur ‚erfinden‘. Stattdessen erweist sich die narrativ hergestellte Konstruktion einer kulturellen Identität volkssprachlicher Dichter als eine Form von ‚ästhetischem Gedächtnis‘. Julia Frick (Zürich) konzentriert sich auf ein aspektreiches Fallbeispiel aus dem späten Mittelalter, den Trienter Judenprozess, der als zeitgenössisches Ereignis im 15. Jahrhundert literarisch verarbeitet und im Druck verbreitet wurde. In eingehenden Vergleichen der lateinischen und volkssprachigen Textzeugnisse arbeitet sie die hochgradig parteiliche Narrativierung des Prozesses heraus und weist so die narrativ-diskursiven Muster nach, die den Umgang mit den historischen Fakten prägen.

      Grundmuster des historischen Erzählens werden im abschließenden Themenblock aus geschichtswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive kritisch hinterfragt. Aus der differenzierten Perspektive des Historikers fragt Len Scales nach Kennzeichen des ‚staufischen Zeitalters‘ und führt – ausgehend von Beobachtungen zur Stuttgarter Ausstellung Die Zeit der Staufer im Jahre 1977 – in souveräner Weise vor, dass mittelalterliche Zeitgenossen eine als ‚staufisch‘ wahrgenommene dynastische, politische, künstlerische oder literarische Tradition nicht kannten. Der Beitrag, der auf einen öffentlichen Abendvortrag im Historischen Lesesaal der John Rylands Library zurückgeht, verdeutlicht überzeugend, unter welchen speziellen Umständen die Vorstellung eines ‚staufischen Zeitalters‘ überhaupt aufgekommen ist.

      Abgerundet

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