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dieses übergreifende Thema, unter dem alle historische Ereignishaftigkeit registriert wird, das Römische rîche, repräsentiert durch die serialisierte Herrschaft seiner Kaiser.

      Der Prozess, in dem nun historische Narrative als ähnliche Ereignisse innerhalb eines nicht-narrativen Rahmens organisiert werden können, lässt sich mit einer von Richard Newald bereits 1960 geprägten Metapher gut beschreiben. Im Bezug auf die Antikenrezeption des Mittelalters spricht er von „Atomisierung“.6 Dieser Prozess löst Narrative aus ihrem historischen Kontext heraus und überführt sie in ein Gemenge aus frei verfügbaren und neu arrangierbaren „Story-Atomen“. Diese Atome beschreibt Newald als aus zwei Komponenten bestehend: erstens einer autoritativen Komponente – meist dem Namen einer zentralen Figur der antiken Erzähltradition – und zweitens aus einer fluiden Menge von mit dieser Komponente assoziierten Figuren, Konstellationen und Ereigniszusammenhängen.

      Als Beispiel hierfür kann in der Kaiserchronik die Tarquinius-Episode mit der Lukretia-Erzählung herangezogen werden (Kaiserchronik V. 4301–4834). Sie wird anachronistisch zwischen der Nero- und der Galba-Episode eingespielt. Der Erzähler ist hier nicht an der Entwicklung einer kausal integrierten Darstellung des Jahrs der vier Kaiser (69 n. Chr.) von Nero bis Vespasian interessiert, sondern möchte die Geschichte von Lukretia erzählen. Dies erfordert die Interpolation von Tarquinius – eigentlich einer der vor-republikanischen legendarischen sieben Könige von Rom – in die Reihe der römischen Kaiser in Folge Julius Caesars. Mit sich bringt der Name ‚Lukretia‘ nicht nur die Einführung der Figur Tarquinius, sondern auch die des Conlatinus, sowie bestimmte Ereigniszusammenhänge, etwa den Wettstreit zwischen den beiden Männern um die Tugendhaftigkeit ihrer Frauen, die Vergewaltigung und den anschließenden Selbstmord Lukretias. Dass es in der Tat Lukretia ist, die vom Erzähler in den Mittelpunkt gestellt wird und die somit als Kern des Story-Atoms angesehen werden sollte, wird durch eine Quellenberufung klar: Denn weder Tarquinius noch Conlatinus werden durch eine solche eingeführt, sondern eben Lukretia, wenn es von ihr heißt: si stât in Ovîdîô gescriben dâ (V. 4337).7

      Von diesem Beispiel ausgehend, möchte ich als nächstes das Episodengerüst der Kaiserchronik näher betrachten, das eine Einbettung atomisierter Inhalte möglich macht. Dieses Gerüst verstehe ich gemäß meinem Ansatz als wichtigstes Organisationssystem von historischer Distanz in der Kaiserchronik. Die Rahmen der einzelnen Episoden des Textes wurden von Ohly als „sich formelhaft wiederholende […] Eingänge und Schlüsse der einzelnen Kaisergeschichten“ beschrieben, wobei er „deren locker parataktische Hintereinanderordnung [als] typische Chronikform“ ansah.8 Schon Ohly und in seinem Gefolge Ferdinand Urbanek haben also das Episodengerüst nicht als starre Struktur, sondern als produktives dichterisches Stilelement begriffen.9 Bei der Beschreibung der Leistung dieses Gerüstes gelangten sie jedoch kaum über Ableitungen aus der Episodenzahl und der Summe der Herrscherjahre hinaus. Während man über die Einzelheiten der angestellten Berechnungen sicherlich streiten kann, ist Ohly und Urbanek doch darin recht zu geben, dass an den zentralen Stellen die wichtigsten Herrschergestalten positioniert sind: in der Mitte der Summe der Herrscherepisoden steht Constantin und in der Mitte der Summe der Herrscherjahre steht Karl der Große. Zwei Kaiser, deren Bedeutung schon inhaltlich von der Kaiserchronik ausführlich und beziehungsreich entwickelt wird, finden sich so auch durch die Episodenform hervorgehoben.

      II. Das Episodengerüst

      In einem nächsten Schritt möchte ich nun über diese Betrachtungen hinausgehen und danach fragen, was genau eine Episode in der Kaiserchronik ausmacht. Versteht man diese schon von Ohly beschriebenen Eingangs- und Schlussformeln, die immer nach ähnlichen Mustern gestrickt und mit großer Konsistenz eingesetzt werden, als Marker für die Episoden der Kaiserchronik, ergeben sich interessante Schlüsse.

      So ist das Einsetzen des Episodenrahmens nicht ohne weiteres zu lokalisieren. Caesar, der im Einklang mit der weiteren mittelalterlichen Tradition als erster römischer Kaiser dargestellt wird,1 erhält beispielsweise keine entsprechende Einführungsformel, vielmehr wird sein Narrativ nahtlos aus der Einführung des salvatio Romae-Motivs heraus entwickelt. Bei der salvatio Romae handelt es sich um eine Art magisches Frühwarnsystem, das die Römer alarmiert, sobald sich eine der von ihnen eroberten Provinzen gegen sie wenden sollte. Als diese Vorrichtung anzeigt, dass das Dûtisc volch (V. 246) sich gegen das Römische Reich erhoben hat, wird Julius Caesar ausgesandt, um diese Rebellion niederzuschlagen. Erst später mit der Ermordung Caesars treten zum ersten Mal die typischen Elemente des den Abschluss der Episode markierenden Rahmens in Erscheinung:

       diu rîche er mit michelem gewalte habete

       die wîle daz er lebete,

       daz buoch saget uns vur wâr:

       niewan fiunf jâr.

       Rômâre in ingetrûwelîche sluogen,

      sîn gebaine si ûf ein irmensûl begruoben. (V. 597–602)

      Die Berufung auf ein buoch als Quelle, die genaue Zählung der Jahre der Herrschaftszeit und die Darstellung der Todesumstände – oft erweitert um einen kurzen Bericht zum Schicksal der Seele nach dem Tod – geraten in den folgenden Kaiserepisoden zu verlässlich wiederkehrenden Elementen der Schlussformeln. Ähnlich verhält es sich bei der Einführung von neuen Kaisern. Erstmals bei Augustus, Caesars unmittelbarem Nachfolger, und später bei den anderen Kaisern lassen sich hier stereotype Elemente erkennen. Dies ist etwa beim Herrschaftsantritt des Tiberius der Fall, wenn es heißt:

       Das buoch kundet uns sus,

       daz rîche besaz dô Tybêrîus,

      der gewan Rômæren michel êre. (V. 671–673)

      In der Durchsicht der Antrittsformeln der antiken römischen Kaiser begegnet eine dreiteilige Struktur. In der Regel wird auch hier erstens das buoch als Quellenautorität aufgerufen, ehe – zweitens – der Name des nun die Kaiserwürde übernehmenden Herrschers folgt. Drittens wird abschließend oft noch eine kurze Perspektive auf die Herrschaft des jeweiligen Kaisers gegeben.

      In fast allen Episoden antiker Kaiser ist die Beziehung zwischen der Person des Herrschers und seinem Reich durch das im Präteritum stehende Verb (er) besaz ausgedrückt. Dabei umfasst die Semantik von mhd. besitzen drei verschiedene Herrschaftsdimensionen.2 Als erstes die inaugurale: der Herrscher besteigt den Thron. Als zweites die sukzessive: der neue Kaiser beerbt einen ihm vorausgegangenen Herrscher. Und drittens die judikative: er fungiert als oberster Richter, als voget und rihtære, wie die entsprechende Formel in der Kaiserchronik (meist) lautet.3 In dieser Weise findet das an zentraler Stelle der Eingangsformel lokalisierte Verbalsyntagma (er) besaz jedoch nur für die antiken Kaiserepisoden konsequente Anwendung. Bei den mittelalterlichen tritt sie in der Regel zurück, taucht aber öfter in anderen Kontexten der Episode wieder auf. Dieses Detail kann in aufschlussreicher Weise als Beitrag zu einer der längsten und übergreifendsten Diskussionen in der Kaiserchronik-Forschung gelesen werden: der Frage, warum der römisch-antike und der mittelalterlich-deutsche Teil der Chronik narrativ so auffällig unterschiedlich gestaltet sind. Bereits Scheunemann stellte 1936 den „Wirklichkeitsbericht“ des deutschen Teils der „geformten Wirklichkeit“ des römischen Teils, die vielmehr auf „epische Darstellung“ abziele, gegenüber.4 Ohly begründete diese Ausdifferenzierung im hinteren Teil der Chronik damit, dass der Verfasser bei den antiken Herrschern mehr Spielraum zur narrativen Ausgestaltung hatte und bei den deutschen Herrschern, in Abwesenheit von größeren Sagen- und Legendentraditionen, eher auf historische Berichte angewiesen war. So rückten die antiken Herrschergestalten in den Fokus des Erzählinteresses.5 In jüngerer Zeit hat Christoph Petersen einen umgekehrten Ansatz entwickelt. Nach einer hilfreichen Aufschlüsselung der zentralen Unterschiede zwischen antiken und mittelalterlichen Teil der Kaiserchronik6 attestiert er dem römisch-antiken Teil einen negativen Bedeutungsgehalt, bedingt durch einen „Aufschub des im Anfang der Geschichte schon angelegten Zieles“,7 dem Aufstieg eines deutschen Reiches. Dieses Sinndefizit des römisch-antiken Teils müsse nun durch eine überbordende „Mythopoiesis“8 kompensiert werden, derer es im mittelalterlich-deutschen

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