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die Atomisierung ihres ursprünglichen Kontextes beraubt, erfolgt die Semantisierung historischer Ereignisse allein durch ihre Einordnung in die Herrschaftszeit eines Kaisers. Historische Begebenheit ist dadurch weder einfach Ereignis, das zufällig in die Herrschaft eines Kaisers fällt, noch wird sie beispielsweise kausal durch das politische Wirken eines Kaisers bedingt. Vielmehr wird historische Ereignishaftigkeit zu einer Funktion imperialer Herrschaftszeit allein bedingt durch die lineare Entfaltung eines imperialen Herrschaftskontinuums. Angelegt findet sich dieses Kontinuum im Grunde schon im Prolog, wenn es heißt:

       Ein buoch ist ze diute getihtet,

       daz uns Rômisces rîches wol berihtet,

       gehaizzen ist iz crônicâ

       iz chundet uns dâ

       von den bâbesen unt von den chunigen,

       baidiu guoten unt ubelen,

       die vor uns wâren unt Rômisces rîches phlâgen

      unze an dîsen hiutegen tac. (V. 15–23)

      Die quantitative Achse des römischen Reiches ermöglicht die retrospektive Projektion der Gruppenidentität, die Autor und Publikum der Kaiserchronik – das uns des Prologes – miteinander teilen, in die römische Vergangenheit.17 Die Aufgabe, das Römische Reich zu phlegen, ist dabei das vereinende Merkmal, in dem Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen. In derselben Weise, wie Identität zurückprojiziert werden kann, funktioniert die Achse auch in die andere Richtung, wenn die historische Verantwortung, das Römische Reich zu phlegen, bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts, unze an dîsen hiutegen tac, verlängert wird. Die Vergangenheit der Kaiserchronik ist der Gegenwart ihres Publikums qualitativ ähnlich genug, um mentale Projektionen entlang dieser Achse in beiden zeitlichen Richtungen zu ermöglichen.

      III. Personalisierte Exemplarik

      In der Kaiserchronik lassen sich nun verschiedene Funktionen dieses quantitativen Kontinuums identifizieren, welche die römische Vergangenheit für ihr deutschsprachiges, mittelalterliches Publikum als Auseinandersetzungsort mit seiner historischen Identität und gegenwärtigen Rolle modellieren: So werden historische Exempla gestiftet, aetiologische Erklärmodelle gesponnen und Kontinuitäten konstruiert. Die wichtigste dieser Funktionen, die Entwicklung historischer Exempel, möchte ich nun im letzten Abschnitt meines Beitrages kurz vorstellen und wiederum anhand eines Beispiels illustrieren:

      Dass Geschichte durch Exemplarik zu didaktischem Nutzen gebracht werden kann, ist als Konzept so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Ciceros berühmtes Diktum von historia als magistra vitae1 spiegelt sich in zahlreichen historiographischen Prologen von der Antike bis ins zwölfte Jahrhundert und darüber hinaus.2 Doch schon lange vor Cicero entwickelte Aristoteles in seiner Rhetorik eine Methodologie der historischen Exemplarität. Ohne eine direkte Linie von Aristoteles zur Kaiserchronik ziehen zu wollen, sei diese kurz vorgestellt: Aristoteles schrieb Exempeln, die auf πράγματα προγενομένα, „tatsächlichen vergangenen Fakten“3 beruhen, eine besondere Autorität zu, da diese sich aus den unveränderlichen Mustern von Ereignis und Motivation speisen. Diese seien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stets dieselben. Um dies zu illustrieren, bietet Aristoteles selbst ein Beispiel an: Wann immer in der Vergangenheit die Könige von Persien Griechenland attackierten, eroberten sie zuvor zunächst Ägypten. Daraus ließe sich ableiten, dass auch in Aristoteles’ Gegenwart, sollte der König von Persien Ägypten angreifen, Griechenland sich auf Krieg vorbereiten müsse. Historische Distanz wird nur quantitativ registriert: Wenn zuerst Darius und später Xerxes zunächst nach Ägypten zogen, bevor sie sich gegen Griechenland wandten, so wird auch der nächste Perserkönig diesem Muster folgen und dasselbe tun. Das historische Schema bleibt unverändert, so dass ein darauf aufbauendes rhetorisches Exempel Überzeugungskraft aus der Autorität der Tatsächlichkeit der Vergangenheit beziehen kann. Aristoteles formuliert es folgendermaßen:

      Leichter zu beschaffen sind nun zwar die Argumentationen die aus Fabeln, nützlicher bei Beratungen sind aber solche, die aus Tatsachen gewonnen werden, denn im allgemeinen ist das Bevorstehende dem Vergangenen ähnlich [ὅμοιος].4

      Um diese Art von Exemplarität entwickeln zu können, bedarf es also einer quantitativen Achse entlang derer zeitlich abgeschlossene und eigenständige, aber qualitativ ähnliche Stufen von Geschichte organisiert werden können. Für Aristoteles’ Beispiel ist dies die politische und militärische Situation zwischen Griechenland und Persien vom späten sechsten bis ins frühe vierte Jahrhundert vor Christus. Im Falle der Kaiserchronik stellt das Rahmenwerk der Kaiserepisoden diese quantitative Achse bereit. Damit das historische Beispiel greifen kann, muss die Konstanz der historischen Identitäten der angesprochenen oder vom Beispiel betroffenen Gruppen angenommen werden. An ihr können – wie oben dargestellt – gegenwärtige Identitäten in die Vergangenheit zurückgespiegelt und historische Exempel in die Gegenwart projiziert werden.

      In der Kaiserchronik werden in dieser Weise verschiedene Kaiser zu historischen Exempla entwickelt. Zeitnah zur Verfassung der Kaiserchronik pries Johann von Salisbury den hohen normativen Wert von personalisierter historischer Exemplarik, den er nur hinter dem Gesetz und der Gnade Gottes zurückstehen sah.5 In der wissenschaftlichen Diskussion zur Kaiserchronik wurde die moralisch-exemplarische Dimension ihrer Geschichtsschreibung zunächst von den frühen Opponenten von Ohlys typologischer Lesart betont.6 In rezenteren Beiträgen finden sich Untersuchungen zur Exemplarität der Chronik freilich nicht mehr klar geschieden, sondern vielmehr verknüpft mit den auf Ohly zurückzuführenden Ansätzen zum „Kombinationssinn“ der Kaiserchronik wieder. So etwa bei Markus Stock, nach dessen Auffassung „Äquivalenzrelationen“ zwischen den paradigmatischen Spiegelungen von Figuren und Ereignissen zwischen bestimmten Episoden zur Konzentrierung und Konkretisierung der exemplarischen Botschaft der jeweiligen Episoden führen.7

      Als beispielhafte imperiale Handlungsträger fallen in der Kaiserchronik vor allem Titus, Trajan und Heraclius auf. An den Taten dieser Kaiser kann ein gegenwärtiges Publikum praktische Entscheidungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund historischer Analogien befragen, unterstützten oder zurückweisen.8 Am ausdrücklichsten geschieht dies sicherlich bei Heraclius, in dessen Episode – im Gegensatz zu den anderen – das einschlägige Vokabular von bîspel (V. 11209), bilde (V. 11211) und exemplum (V. 11339) die Vorbildfunktion des überlieferten historischen Narrativs besonders hervorhebt. Es sollte betont werden, dass eine konkrete Ausweisung von Exemplarität in dieser Form nicht die Regel in der Kaiserchronik ist und die hier versammelten Signalwörter ansonsten kaum in dieser Deutlichkeit genutzt werden.

      Vor der Schlacht gegen Kosdras und seine heiden wendet sich Heraclius an sein Heer:

       owol ir helde snelle,

       ich sage iu ze aim bîspelle:

       ain liut haizet Hebrêî,

      dâ sult ir nemen pilde bî; (V. 11208–11211)

      Das hier von Heraclius explizit seinem Heer als Publikum anempfohlene Beispiel greift nun zurück in die tiefere Vergangenheit der Bibel. Im vierten Buch Mose, Numeri 13–14, stehen die Hebräer vor den Mauern Jerichos, doch viele wagen aufgrund der Gerüchte, die sie über die furchterregenden Bewohner Kanaans gehört haben, nicht gegen sie zu kämpfen. Als Strafe wird ihnen der Zugang ins gelobte Land verwehrt werden. Diese biblische Konstellation nutzt Heraclius in der Kaiserchronik als historische Analogie, um seine Truppen anzuspornen. Diejenigen, die Heraclius nicht in die Schlacht gegen die heiden folgen, werden zu jenen Hebräern, denen der Zugang ins gelobte Land verwehrt wurde. Heraclius’ Ansprache wird sofort verstanden und bestätigt, wie aus der Reaktion seiner Soldaten ersichtlich ist:

       Rômære racten ûf ir hant

       unt gelobeten, daz er daz lant

       niemer mêr mit in gewunne,

      

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