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den Punkt, an dem das volkssprachige Erzählen seines Erachtens die funktionalen Implikationen der rhetorischen argumentum-Lehre überschreite, den Punkt also, an dem Rhetorik in Poetik umschlage. Diesen sieht er allerdings nicht schon allein in einer Komplexitätssteigerung durch Vervielfältigung und Ambiguisierung ohnehin schon polyphoner exemplarischer Relationen, wie Friedrich sie beschreibt, sondern darüber hinaus in der programmatischen Künstlichkeit, mit der als poetisch markiertes Erzählen Handlungskonstellationen konfiguriere.14 Im poetischen Text stehe das erfundene Wahrscheinliche nicht mehr wie in rhetorischen Funktionskontexten im Dienst der Verdeutlichung und Plausibilisierung des als faktisch wahr behaupteten und erlange insofern ein eigenes Potential. Weil artifizielles Erzählen nämlich keine Rekonstruktion des Natürlichen biete, sondern eine idealtypische, alles natürlich-tatsächliche übersteigende Konstruktion, mache es das topische Wissen, das dieser Konstruktion zugrunde liege, in einer erkenntnisoptimierenden Weise15 der Reflexion zugänglich. Da es sich bei diesem Wissen zum größeren Teil um ein vorbewusstes, habitualisiertes, also ansonsten nicht diskursiv-begrifflich verfügbares, kulturelles Handlungswissen handle, kommt dem poetischen Erzählen damit eine ebenso zentrale wie singuläre Funktion im Bereich kultureller Selbstvergewisserung zu.16

      Im Folgenden möchte ich die Möglichkeiten und Grenzen des von Friedrich und Hübner aus der Rhetorik abgeleiteten Konzepts poetischen Erzählens von Geschichte in Analysen ausgewählter Figurenhandlungen der Kaiserchronik und des Trojanerkriegs ausloten. Im Zentrum der Analysen sollen mit Lucretia und Jason zwei Figuren stehen, bei denen die stofflichen Herausforderungen an eine höfisch-christliche Erneuerung besonders groß sind. Entsprechend intensiv hat sich die Forschung in beiden Fällen mit den Antagonismen beschäftigt, die die mittelalterlichen Adaptationen beinahe zwangsläufig hervortreiben und diese gerade in jüngerer Zeit auf die Antagonismen der höfischen Kultur selbst bezogen.17 Diskutieren möchte ich vor diesem Hintergrund, ob sich die in beiden Fällen beobachteten Inkonsistenzen der Handlungsführung und daraus resultierende Probleme der Sinnstiftung tatsächlich als Ergebnis eines situativ-exemplarischen Erzählens ohne übergreifende Kohärenzansprüche erklären lassen. Im Rahmen eines solchen Erzählens könnten Figuren ihrer Konzeption nach ja nur schwach als Identitäten profilierte Ankerpunkte oder Rahmen für die Modellierung heterogener Handlungskonstellationen und die Integration situationsspezifischen kulturellen Wissens bieten. Demgegenüber möchte ich fragen, ob es im poetischen Erzählen nicht doch situationsübergreifende Techniken und Verfahren der Figurendarstellung gibt, die eigene Formen der Sinnkonstitution ausprägen. Damit ist auch die Frage verbunden, ob die volkssprachige Geschichtsdichtung rhetorische Argumentationsformen tatsächlich – wie von Hübner und Friedrich angenommen – nur in den Grenzen einer „Epistemologie des Exemplarischen“18 überschreiten.

      II. Lucretia – Marginalisierung im Zeichen historisch-politischer Programmatik

      Die Lucretia-Geschichte, wie sie die deutsche Kaiserchronik erzählt, ist nach Friedrich ein Paradebeispiel für „die mehrdimensionale Paradigmatik des Exempels“1 und sein Konzept eines situativ-exemplarischen Erzählens.2 An verschiedenen Stellen der Handlung würden ganz heterogene topische Vorstellungen aus den Bereichen Herrschaft, Politik, Moral und Minne narrativ aktualisiert, ohne dass diese in ihren jeweiligen Implikationen konsequent gegeneinander abgewogen würden. So gerate das Erzählen zur kasuistischen Form, die nicht an „Kohärenzforderungen der Logik“3 gebunden in allen genannten Bereichen Paradoxien hervortreibe.4

      Schaut man vor diesem Hintergrund auf die Konzeption der Lucretia-Figur, fällt auf, dass sie gegenüber den antiken Prätexten tatsächlich nur schwach profiliert ist.5 Weder die dramatische Racheforderung, die der öffentlichen Selbsttötung bei Livius unmittelbar vorgeschaltet ist,6 noch die anrührende Innensicht Lucretias unter der Vergewaltigung, die ein Zentrum der Bearbeitung Ovids darstellt, aktualisiert der deutsche Text.7 Die Lucretia der Kaiserchronik spricht kaum, eine Innensicht fehlt vollständig, und auch symbolisch verdichtete Handlungsmomente, die in der Erzähltradition fest mit der Figur verbunden sind, wie das nächtliche Spinnen einfacher Wolle in Gemeinschaft mit ihren Mägden spart der deutsche Text aus. Die Selbsttötung schließlich wird nur lakonisch resümierend konstatiert und nicht szenisch inszeniert.8 Jede politische Relevanz ist der Figur schließlich durch die anachronistische Einbindung in den Handlungsverlauf der Chronik genommen: Das Opfer der Lucretia führt keinen revolutionären Umsturz und keine politische Neuordnung herbei, sondern verhallt ohne jede Nachwirkung im staatlichen Gefüge.9

      Die Forschung hat in dieser Rücknahme der starken Handlungsrolle eine Anpassung an das mittelalterliche Herrscher- und Ehe-Ideal gesehen, eine Anpassung, die erzählerisch „nicht immer glatt aufgehe“ und bei der ein reflektiertes Verhältnis zur Antike eine sehr nachgeordnete Rolle spiele.10 Sieht man nun noch einmal genauer hin, kann man erkennen, dass die Reduktion der Figur allerdings nicht, wie immer wieder konstatiert, zu ihrer Hybridisierung führt, sondern einem sehr klaren Konstruktionsprinzip folgt, das offensichtlich gezielt bei der gemeinsamen Tektonik der antiken Realisationen des Stoffes ansetzt. Alle antiken Versionen der Lucretia-Geschichte leben von der Parallelisierung des sexuellen Angriffs auf eine keusche römische Bürgerin mit dem Angriff auf die res publica.11 Das „Verbrechen des Sextus Tarquinus“ wird „zum Sinnbild für die Sitten- und Rechtlosigkeit des Königtums als solchen, während der geschändete Körper der keuschen Lucretia als Sinnbild für die geschändete Körperschaft des römischen Volkes erscheint.“12 Diese metaphorische Relation steuert den Übergang eines privaten Ereignisses in einen politischen Umsturz. Und erst durch diese Relation wird aus der Selbsttötung Lucretias zur Wahrung der eigenen, persönlichen Integrität ein Opfer für die Integrität des Staates. Lucretia animiert – sei es durch den Aufruf zur Rache wie bei Livius oder durch anrührende Hilflosigkeit bei Ovid – die Männer, die sie zu schützen nicht in der Lage waren, eine Ordnung zu schaffen, die fortan Schutz gewährt. Deswegen wird auch Collatinus, geprägt von der Erfahrung als Schutzherr versagt zu haben, neben Brutus zum Schöpfer und Garant dieser neuen Ordnung. Ein solcher Umsturz benötigt auf der Handlungsebene eine affektive Dynamik, die nur der tragische Einzelfall aktivieren kann. Im antiken Erzählen wird der Rezipient durch immersive Darstellungstechniken wie Innensichten, innere Monologe, direkte Rede oder Emotionsdarstellungen an eben dieser Dynamik beteiligt.

      Genau an diesem Punkt setzt die Umkonzeptualisierung der Kaiserchronik an. Statt von immersiver Dynamik ist Lucretias Handeln von einer auffälligen Statik geprägt. Redundante, fast identische Formulierungen markieren ihr gleichbleibendes Agieren in unterschiedlichen Handlungskonstellationen. Als Conlatinus sie in Begleitung des Königs nachts aus dem Bett ruft, um sich von ihr bewirten zu lassen, heißt es:

       Si hiez ir tiske rihten,

       si diente dâ mit michelen zuhten:

       si scancte in diu goltfaz den wîn,

      si bat den gast frô sîn. (Kaiserchronik, V. 4497–4500)

      Als er ihr daraufhin ohne jeden äußeren Anlass ein Glas Wein ins Gesicht schüttet, erträgt sie diese Demütigung offensichtlich unbewegt, ohne ihr Verhalten dem Mann und dem Gast gegenüber zu verändern:

       si schancte dem wirte den wîn,

       si bat den gast frô sîn,

       si enphie im das goltfaz;

       daz tet diu frowe umbe daz,

      daz der wirt frô wære (Kaiserchronik, V. 4511–4515)

      Selbst als sie nach der Vergewaltigung durch den König ihrem Leben ein Ende setzt, bewirtet sie noch unmittelbar zuvor die geladenen Gäste in exakt der gleichen Weise:

       diu frowe nam ir goltvaz,

       si scancte alumbe,

       si bat die fursten alle bisunder,

      daz si frô wæren (Kaiserchronik, V. 4752–4755)

      Diese merkwürdige Unbewegtheit der Figur wird gemeinhin in Zusammenhang mit der besonderen Bedeutung vorbildlicher Haushalts- und Hofführung für ein mittelalterliches

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