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Geschichte bereits im antiken Erzählen strategisch konzipiert und literarisch ausgeformt kommuniziert wird. Erst daraus ergibt sich die Möglichkeit, in der Retextualisierung ein Gegenmodell zu entwickeln. Doch auch mit einem Konzept, nach dem Geschichte Ergebnis einer literarischen Modellbildung ist, in der auch das Wie der Darstellung Bedeutung stiftet und Wissen generiert, bleiben der Kaiserchronist und Konrad letztlich einer exemplarischen Wirklichkeitskommunikation verpflichtet. Allerdings überschreitet ein solches poetisches Erzählen von Vergangenheit die Rhetorik des Exempels nicht nur quantitativ in der Vervielfältigung von topischen Referenzen und qualitativ in einer künstlichen Zuspitzung topischer Regularitäten. Es erweitert Exemplarik um eine zusätzliche Ebene der Sinnstiftung, die nicht an Handlungsinhalte gebunden ist und die nicht zuletzt die Paradigmatik des Exempels im Zeichen der Syntagmatik kontrolliert.

      Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik

       Bettina Bildhauer

      Die Kaiserchronik, verfasst vermutlich in Regensburg um 1150 und eine der frühesten Geschichtserzählungen in deutscher Sprache, thematisiert explizit, wie Erzählen über die Vergangenheit funktionieren sollte – und wie nicht. Dies geschieht, ganz im Sinne eines interaktiven Literatur- und Geschichtsverständnisses, nicht so sehr durch metanarrative Erzählerkommentare im knappen Prolog, sondern performativ in einer einzelnen Episode in der langen Geschichte römischer Kaiser, die diese Chronik aufzeichnet. Es handelt sich, wie schon Ludger Lieb und Stefan Müller zeigten, um die Severus-und-Adelger-Episode mit ihrer vierfach eingebetteten Erzählung vom gegessenen Hirschherzen.1 Diese im Mittelalter in vielen Varianten weit verbreitete Geschichte berichtet hier von einem Gärtner, der einen Hirschen in seinem Gemüsegarten erwischt, und ihm ein Ohr und den halben Schwanz abschneidet, bevor das Tier fliehen kann. Der Gärtner glaubt, den Hirschen endgültig verjagt zu haben. Als der Hirsch trotzdem wiederkommt, sobald seine Wunden verheilt sind, umstellt der Gärtner seinen Garten geistesgegenwärtig mit Netzen: mit vil guoten sinnen / îlt er mit nezzen / den garten allumbe sezzen.2 Er fängt den Hirsch, sticht ihn durch den Bauch und weidet ihn aus. Eine Füchsin stiehlt währenddessen unbemerkt vom Gärtner das entnommene Herz des Hirschen. Der verblüffte Gärtner berichtet seiner Frau das grôze maere, er habe einen Hirschen ohne Herz erlegt, aber diese ist nicht überrascht: hätte der Hirsch ein Herz gehabt, so ihre Pointe, wäre er nach seiner ersten Verletzung erst gar nicht in den Garten zurückgekehrt.

      Die Gärtnersfrau setzt mit ihrer Interpretation der von ihrem Mann berichteten Ereignisse beim fehlenden Hirschherzen ein, und findet dafür eine faktisch falsche, aber dennoch lehrreiche Erklärung. Diese beruht auf einer Konzeption des materiellen Herzens als Sitz der weder sichtbaren noch greifbaren Fähigkeiten von Gedächtnis, Lernvermögen oder Vernunft (heute würden wir diese im Gehirn lokalisieren). Wichtig in unserem Zusammenhang der Modellbildung für Erzählen über die Vergangenheit ist, dass die Geschichte noch ein weiteres Mal eingebettet ist, nämlich in die Rahmenerzählung über den römischen Kaiser Severus, der in einen Machtkampf mit dem bayerischen Fürsten Adelger verwickelt ist. Severus demütigt seinen Gast Adelger bei einem Rombesuch, indem er dessen Haare und Kleidung abschneiden lässt. Adelgers Berater rettet die Situation, indem er erfolgreich anregt, dass alle Bayern in Solidarität mit ihrem Herrscher ebenfalls ihre Ponys und Gewänder kurz schneiden. Severus ist von diesem geschickten Berater so beeindruckt, dass er ihn zwingt, in Rom zu bleiben und von nun an den Kaiser selbst zu beraten. Als Severus später eine weitere hinterhältige Einladung an den bayerischen Fürsten nach Rom ausspricht, schickt Adelger einen Boten nach Rom, der herausfinden soll, was der dort gebliebene Ratgeber von dieser Einladung hält. Weil der Ratgeber inzwischen dem römischen Kaiser Treue schuldet, kann er Adelger nur indirekt warnen. Er inszeniert eine Situation, in der der Bote mithören kann, wie der Ratgeber dem Kaiser eben die Geschichte vom gegessenen Hirschherzen erzählt, die sich, wie er von seinem Vater gehört habe, in der Vergangenheit zugetragen habe. Der Bote kehrt wütend nach Bayern zurück, weil er glaubt, der Ratgeber habe ihn mit einer nutzlosen Erzählung abgespeist. Als aber Adelger die Geschichte hört, versteht er sofort, was gemeint ist. Er ruft seine Gefolgsleute zusammen und erklärt: ‚ich wil iu besceiden diz spel: / Romaere wellent mit nezzen / mir mînen lîp versezzen‘.3 Aber anders als der Hirsch, so sagt Adelger seinen Getreuen weiter, besitze er ein Herz. Statt wie der Hirsch denselben Fehler zweimal zu machen, verweigert Adelger die Einladung, und droht, dass stattdessen die Römer bei einem Angriff mit durchlöchertem Bauch enden würden. Tatsächlich greift Severus an und wird vernichtend geschlagen und getötet.

      Adelgers Interpretation setzt hier beim Netz an, das er als Metapher für die Falle der Römer stehen lässt und das für ihn lebensgefährlich ist. Seine Interpretationsstrategie, im Gegensatz zu der des Boten, ist durch die Merkmale (a) Situationsgebundenheit, (b) Lückenhaftigkeit und (c) Oszillieren zwischen wörtlicher und übertragener Interpretation geprägt, wie wir im Folgenden sehen werden. Genau genommen gibt es hier vier verschiedene konzentrische Erzählebenen, die erfolgreiche und mangelhafte Interpretationsstrategien illustrieren. (1) Die Gärtnersfrau interpretiert die Geschichte ihres Mannes vom Hirschen ohne Herz; (2) der Bote interpretiert die Geschichte des Ratgebers über den Gärtner und seine Frau inklusive der des Hirschen; (3) Adelger interpretiert die Geschichte des Boten über das Verhalten des Ratgebers in Rom inklusive der eingebetteten Geschichte des Gärtnerpaars und der doppelt eingebetteten Geschichte des Hirschen; und (4) schließlich müssen die impliziten Rezipierenden die gesamte Erzählung der heterodiegetischen Erzählinstanz der Kaiserchronik verstehen.4

      Auf der ersten und dritten Erzählebene sind die Interpretationen der Gärtnersfrau und Adelgers erfolgreich, weil sie (a) die eingebettete Erzählung jeweils situationsspezifisch verstehen: die Frau erklärt das fehlende Herz im Zusammenhang mit der Wiederholungstat des Hirschen als fehlendes Gedächtnis; und Adelger das Netz im Zusammenhang mit der hinterhältigen Einladung der Römer als Falle. Der Bote hingegen scheitert bei der Interpretation, weil er die Geschichte vom Hirschen nicht auf die Erzählsituation in Rom bezieht. Die Rezipierenden, in erster Instanz wohl selber am bayrischen Hof angesiedelt, sollen offenbar dem Modell Adelgers und der Frau folgen und die Geschichte auf ihre jeweilige Situation hin individuell auslegen und zum Beispiel bayerisches Selbstbewusstsein daraus beziehen oder ideales Herrscherverhalten lernen. Dem Erfolg, dem Unterhaltungs- und Lehrwert der Interpretation der Gärtnersfrau und der weitergehenden Übertragung Adelgers tut es hingegen keinen Abbruch, dass sie fiktional im Sinne von kontrafaktisch sind, insofern der Hirsch sehr wohl ein Herz hatte und Adelger und die Rezipierenden das auch wissen.

      Diese Situationsspezifizität des Erzählens in dieser Episode der Kaiserchronik wurde bereits von Lieb und Müller beobachtet.5 Die beiden übrigen genannten Merkmale der vorgeführten Interpretationsstrategie – Lückenhaftigkeit und Oszillieren zwischen wörtlicher und übertragener Interpretation –sind hingegen in der Forschung bisher unkommentiert geblieben. Dies liegt unter anderem daran, dass die gesamte Forschung seit Friedrich Ohlys bahnbrechendem Band Sage und Legende in der Kaiserchronik (1940) diese Episode ausschließlich im Kontext der lateinischen Chronistik betrachtet hat, in der die Geschichte von gegessenen Hirschherzen seit dem siebten Jahrhundert mit einem frühmittelalterlichen bayrischen Herrscher verbunden ist. Eine breitere Perspektive ergibt sich, wenn man die Geschichte von gegessenen Hirschherzen im Kontext der antiken und nicht-europäischen Tierfabelsammlungen sieht, in denen sie ebenfalls weit verbreitet ist. In seiner großen History of the Graeco-Latin Fable postuliert Francisco Adrados, dass die Erzählung auf mesopotamische Quellen zurückgehe und sich in der Antike sowohl eine griechisch-römische als auch eine indische Tradition herausgebildet habe.6 Dokumentiert ist die Geschichte vom gegessenen Hirschherzen als eine der eingebetteten Tierfabeln in der mehrfach gerahmten Erzählsammlung Panschatantra, verfasst im dritten oder vierten Jahrhundert auf Sanskrit. Das Panschatantra wurde im achten Jahrhundert unter dem Titel Kalila wa Dimna ins Arabische übersetzt, von dort im dreizehnten Jahrhundert als Directorium vitae humanae ins Lateinische und aus dem Lateinischen im fünfzehnten Jahrhundert unter anderem als Buch der Beispiele ins Deutsche. Aber sowohl die indische als auch die griechisch-römische Tradition müssen laut Adrados das ganze Mittelalter hindurch die verschiedenen europäischen Versionen immer wieder neu beeinflusst haben, wie sich durch das Auftauchen neuer Details aus der indischen Tradition in späteren europäischen

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