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       dô er in daz netze getrat,

       owê! Wie sere er dô erschrac!

       er viel nider unde lac

       und was in kurzen stunden

       sô sêre mite gebunden

       daz er niht triuwete genesen.

       er wolde vil gewis wesen

       daz in der tîfel hebete.

       mit der hant er strebete,

       und wolde sich gesegnet hân.

       daz muoste er under wegen lân.

       er mochte einen vinger nicht geregen,

       er mohte niht mê gewegen

       wan diu ougen und die zungen,

       dô er sô wart betwungen. 26

      Dieses Netz ist vollständig unsichtbar, während seine materielle Greifbarkeit durch Daniels totale Verwickelung und Lähmung überbetont wird. Beides ist nicht nur rhetorische Übertreibung, sondern magisch erzeugte Wirklichkeit. Nachdem Daniel Sandinose seine Hilfe zugesichert hat, befreit sie ihn aus dem Netz und erzählt ihm die Vorgeschichte des Netzes, das jedes Tier fangen und von keinem Schwert zerschnitten werden kann: Eine Meerjungfrau schenkte es ihrem Vater, dem König von der Grünen Aue, zusammen mit einer Salbe, mit deren Hilfe man im Dunkeln sehen und neben feinsten Haaren auch das unsichtbare Netz sehen kann. Das scheinbar unsichtbare Netz stellt sich somit zumindest in der eingebetteten Erzählung doch wieder als tragbarer, schenkbarer und für Sandinose sichtbarer Gegenstand heraus. Die Betonung zunächst von Unsichtbarkeit, dann Widerstand gegen Entkommensversuche von innen und schließlich von Trag- und Tauschbarkeit des Netzes wiederholt sich im weiteren Handlungsverlauf noch einmal, als der Zwerg, der Artus und Parzival entführt hat, im Netz gefangen wird und wieder dessen Unsichtbarkeit und das Einschnüren des Gefangenen, der wie ein Fisch zappelt, eindrücklich dargestellt wird, bevor Sandinose und Daniel den Zwerg befreien und ihm das Netz im Tausch gegen Artus und Parzival übergeben.

      Sowohl Matthias Meyer als auch Hartmut Bleumer interpretieren das Netz im Daniel – in Zusammenhang mit Strickers Namen und der Tatsache, dass Daniel dem gefangenen Zwerg eine neue Version der vorhergehenden Ereignisse erzählt – als ein Modell für Erzählung.27 Das Netz, das Daniel gefangen nimmt, stehe dabei metaphorisch für den einnehmenden Text. Bleumer bringt darüber hinaus die Unsichtbarkeit des Netzes mit der des Textes zusammen, der gehört statt gesehen werden sollte, um die Einbildungskraft anzuregen.28 In diesem Zusammenhang könnte die Stille, die Daniels an den im Netz gefangenen Zwerg gerichtete Wiedererzählung der vorhergehenden Ereignisse vorhergeht, und die Bleumer als notwendigen „Freiraum“ betont, mit den freien Stellen im Netz in Verbindung gebracht werden.29 Wie das Netz feste Stricke und Lücken benötigt, so benötigt gesprochene Sprache Stille zwischen den Lauten, um zu funktionieren. Damit greift Bleumer zwei verschiedene Merkmale des Netzes auf, um sie auf den Erzählprozess zu beziehen: seine fesselnde, bannende Natur und seine Unsichtbarkeit. Wie die anderen leeren Dinge in der Severus-und-Adelger-Episode und in Kalila und Dimna könnte Daniels Netz darüber hinaus auch allgemein für den Mut zur Lücke in der Interpretation stehen. Ganz im Sinne des offenen Erzähl- und Interpretationsmodells der Panschatantra-Tradition ist das Netz also auch im Daniel ein fruchtbares und vielschichtiges Bild für den Erzählprozess. Weitere Aufmerksamkeit für Netze in der mittelalterlichen Literatur aller Sprachen würde sicher noch viele andere Verwendungsmöglichkeiten aufdecken.

Strategien heilsgeschichtlichen Erzählens in der Volkssprache

      Am Anfang – der Kuss

       Erzählen vom Ereignishaften in der Erlösung

       Christina Lechtermann

      Geschichte wird, bevor sie in Strukturen beschrieben wird, in Ereignissen erzählt. Auch auf vormoderne volkssprachige Geschichtserzählungen trifft dies, wo sie nicht reine Sukzessionslisten sind, in einem sehr grundsätzlichen Sinne zu. Solche Geschichtserzählungen berichten dabei auch von Geschehnissen, deren Bedeutung, Effekt und Reichweite sie als exzeptionell abhebt. Auf einen entsprechenden Begriff bringen können sie dies jedoch nicht, denn lexikalisch ist das ‚Ereignis‘ als Abstraktum im mittelhochdeutschen Erzählen nicht greifbar: In den einschlägigen Wörterbüchern ist zwar das Verb erougen/eröugen (,vor Augen stellen‘, ,zeigen‘) belegt, ein zugehöriges Substantiv scheint jedoch, anders als im Althochdeutschen (ar-/ir-ougnessi) nicht existiert zu haben. Ein emphatischer Ereignis-Begriff, mit seiner spezifischen Verschränkung von Vorfall, Zäsur, Unerwartbarkeit und Plötzlichkeit, ist nach Ausweis etymologischer Wörterbücher ein Produkt des 18. Jahrhunderts.1 Differenzieren mittelhochdeutsche Texte zwischen dem ‚Gewicht‘ von Geschehensformen, ihrer Reichweite, Geltung, Wirkung, Erwartbarkeit und Plötzlichkeit, finden sie dafür in unterschiedlichen Zusammenhängen und Textsorten je eigene, aber auch gattungsübergreifend verwendete Begriffe (z.B. aventiure, dinc, geschiht, sache, wunder), verbinden diese mit adjektivischen Fügungen oder akzentuieren ihre zeitliche Logik, etwa – wie Klaus Grubmüller gezeigt hat – das dynamische Moment des erzählten Augenblicks durch die in der Volkssprache gegebene etymologische Nähe zum ‚Blitz‘.2 Ich möchte im Folgenden am Beispiel der Erlösung zeigen, wie ein vormoderner Text die Exzeptionalität heilsgeschichtlichen Geschehens thematisiert, wie Ereignisse erzählt werden, bevor ein begrifflich abstrahierbares Konzept das Ereignis konstituiert.

      I Erzählen und Ereignis

      Zu Beginn des 14. Jahrhunderts entsteht, vermutlich im rheinfränkischen Raum, ein verspaariger Text, der seit seiner ersten Ausgabe durch Karl Bartsch im Jahr 1858 den Titel Die Erlösung trägt.1 Auf dem alten Einband einer seiner Handschriften ist er als Geschichte der Welt ausgewiesen: Von der beschaffung diser werlt bis auf das jungst gericht gereymt.2 Der Text erzählt nach einem strophischen Prolog sehr knapp von der Erschaffung des Menschen und dem Sündenfall, ehe sich mit dem sogenannten ‚Streit der Töchter Gottes‘ eine ausführlichere allegorische Gerichtsszene über die Erlösungsfähigkeit des gefallenen Menschen anschließt. Dem Urteilsspruch folgt eine Prophetenreihe, die einzelne Prophezeiungen, z. T. unter Einbezug kurzer lateinischer Zitate, präsentiert. Mit der Verkündigung an Zacharias und Elisabeth beginnt der dritte und längste Abschnitt. Er bietet ein Leben-Jesu/Marienleben, das sich über ausgewählte Stationen bis zur Himmelfahrt Marias erstreckt. Im letzten Abschnitt wird – wieder deutlich gerafft – von der Geburt des Antichrists, von Enoch und Elias, den Prophetien und Vorzeichen sowie dem Vollzug des Weltgerichts berichtet. Sünden- und Gnadenkataloge sowie ein Gebet schließen den Text ab.

      Die Erlösung wird von der Forschung wie folgt charakterisiert: Ursula Henning spricht von einem „(h)eilsgeschichtliche(n) Epos“ und liest den Text als Überschau von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht.3 Ferdinand Urbanek bezeichnet ihn als heilsgeschichtliches „Bibelepos“.4 Elke Ukena-Best beschreibt ihn in Synthese vorausgehender Zuordnungsversuche als „Heilsgeschichte und Christus-‚Biographie‘ in der Tradition höfischer Bibelepik“ und liest ihn als dreigeteilt, wobei einer ‚Epoche der Vorausdeutung‘, die ‚Epoche der Erfüllung‘ und die ‚Epoche der Zukunft‘ folge.5 Jens Haustein betont die „theologische Denkform“ der Typologie. Diese sei vom Verfasser der Erlösung literarisch gestaltet worden und der Text sei insgesamt konstituiert „als Abfolge von Ereignissen, die mit anderen, vor- oder zurückliegenden, im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung stehen“, wobei das Geschehen immer wieder „nur in seiner Prophezeiung“ präsent gehalten wird, ohne als solches auch erzählt zu werden.6 Aleksandra Prica untersucht die Erlösung vor allem mit Blick auf den „Konflikt zwischen Anpassung und Verselbständigung, der angesichts jeder Thematisierung der Heilsgeschichte“ in (abgrenzender) Bezugnahme auf höfische Dichtung und als „Konflikt zwischen Poetik und Exegese“ zu beobachten sei.7 Dieser sei hier derart komplex

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