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Heute geschieht dies wohl aus einer engen Definition von Germanistik oder aus Vorsicht bei fehlenden Sprachkenntnissen heraus, ursprünglich aber aus explizit nationalistischen Gründen. Schon Ernst Ludwig Rochholz bemüht sich 1869 in der ersten Ausgabe der erhabenen Zeitschrift für deutsche Philologie mit klar nationalistischer Motivation, die westliche Tradition der Fabel vom gegessenen Hirschherzen als überlegen darzustellen, und kritisiert Jacob Grimm dafür, durch das Anerkennen des indischen Einflusses auf „unser germanisches thiermärchen“ „uns gerade denjenigen theil der nationalen tradition, den wir den ursprünglichsten zu halten bereits so gute Gründe hatten, am meisten [zu] bestreiten“ und „den altgesicherten einheimischen besitz und wohlstand in fremde hände zu spielen“.8 Transnationales Erzählmaterial wird hier als Eigentum einer Nation reklamiert, das einen bestimmbaren nationalen Ursprung habe, der den rechtmäßigen Besitzer identifiziere. Ohly holt die Adelgerepisode in seiner fundamentalen Studie ganz in diesen „einheimischen Besitz“ zurück, indem er seinen Horizont komplett auf lateinische Versionen aus dem heute als europäisch verstandenen Raum beschränkt. Darüber hinaus erklärt er die „Adelgersage“ in völkischem Ton zu „einem strahlenden Ausdruck bairischen Stolzes und kräftigen Selbstgefühls“, in der „das Bewußtsein stammlicher Eigenart und in Freiheit gewachsener Größe erhöht [wird] durch die Synthese mit der übervolklichen Idee der Verwirklichung des wahren Reiches gegen seinen kaiserlichen Verfälscher […] in einer Situation, wo deutsches Eingreifen für Idee und Bestand des Reiches von entscheidender Bedeutung ist“.9 Ohly beschreibt die Episode hier als Ausdruck einer primären nationalen deutschen Identität, die außerdem über den deutschen Sprachraum hinaus das „wahre“ Römische Reich sichere. Der historische Kontext des Zweiten Weltkriegs, währenddessen die Studie veröffentlicht wurde, zeigt die nationalistische Motivation noch deutlicher, die die Menschenverachtung der Nicht-Deutschen im Nationalsozialismus legitimiert. Uta Goerlitz hat die haltlose Fehlinterpretation dieser Passage – die sich mit Bayern und nicht mit dem anachronistischen Konzept einer deutschen Nation beschäftigt – in der Forschung des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wie hier bei Ohly bereits 2007 treffend analysiert, aber geändert hat dies an der Forschungsorientierung auf den ‚westlichen‘ Kontext wenig.10

      Für Rochholz war der Unterschied zwischen den von ihm so genannten ‚germanischen‘ und ‚orientalischen‘ Versionen gerade der zwischen allegorischer Interpretation und dem sogenannten Apolog (Erzählung ohne angehängte Auslegung), der verschiedene Interpretationspotentiale offen lässt, wobei er natürlich die ‚germanische‘ Allegorie höher bewertet: „das orientalische [thiermärchen] begnügt sich ein apolog zu werden […] Das abendländische, d.h. germanische, macht jedoch seine apologische Form nur zum dienenden gleichnisse und beiwerke einer daran gebauten epischen erzählung.“11 Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass (b) die Kaiserchronik doch dem hier als ‚orientalisch‘ charakterisierten Modell folgt, und nämlich keine Allegorie anbietet, die 1:1 gleichnishaft übersetzt werden kann, sondern einen offeneren Apolog. Sabine Obermaier hat für die globale Buch der Beispiele-Tradition von Fabelsammlungen eine Erzählweise beobachtet, die nicht nur situationsbezogen ist, sondern auch bewusst Lücken lässt: „Doch sind die Fabeln so angelegt, daß sie in der Deutung durch den jeweiligen Erzähler nicht immer ganz aufgehen, die Moral, die der jeweilige Erzähler der Fabel gibt, ist nicht die einzige Moral, die die Fabel […] enthält“.12 In der dominanten ‚westlichen‘ Tradition hingegen geht es bei Fabeln laut Walter Haug gerade um eine Reduktion von Erzählinhalt, der sich dann in seiner Ganzheit auf eine Moral hin interpretieren lassen könne: „Bei der Fabel kann man so gut wie jeden narrativen Überschuß vermeiden. Fügt man gar noch ein Epimythion dazu, wird auch ein Schwanken aus Unverstand ausgeschlossen.“13 Dabei müsse man „freilich den Boden der historischen und pseudo-historischen Wirklichkeit verlassen und sich in den Bereich der Fiktion begeben“, in der „Figuren zu bloßen Trägern einsinniger Eigenschaften und Verhaltensformen“ werden könnten.14 Erst Boccaccios Dekameron mache nach Haug die bewusste Lückenhaftigkeit der Interpretation und den gewollten Erzählüberschuss im Panschatantra–Stil für die ‚europäische‘ Literatur wirklich fruchtbar. Allerdings zeigt durchaus auch schon die Severus-und-Adelger-Episode eine frühe Adaption der nicht auf vollständige Interpretation zielenden Anlage der Panschatantra-Tradition. Dies wird klargemacht dadurch, dass auffallend viele Elemente der Geschichte ohne Auslegung bleiben – in der Interpretation Adelgers zum Beispiel die Rolle des Fuchses oder der Gärtnersfrau selbst –, während eine ideale Fabel 1:1 in ihrer Interpretation aufginge. Vor allem aber zeigt der Kontrast zwischen den beiden Interpretationen der Gärtnersfrau und der Adelgers, dass dasselbe Geschehen ganz verschiedenen, aber gleich erfolgreich ausgelegt werden kann.

      Als eng verwandtes drittes Merkmal des Erzählstils der Fabelsammlung neben situationsspezifischen und offenen Interpretationsoptionen beobachtet Obermaier, dass (c) die Interpretation hier teilweise allegorisch, teilweise wörtlich vorgehen sollte: „Falsch lesen […] heißt also nicht einfach nur das Geschriebene wörtlich zu nehmen, sondern auch: nicht zu erkennen, wann ein Text wörtlich und wann ein Text im übertragenen Sinne zu verstehen ist.“15 Obwohl Obermaier sich auf ganze Episoden bezieht, gilt dies auch für einzelne Elemente in der Severus-und-Adelger-Episode der Kaiserchronik, besonders für das Netz und das fehlende Herz, an denen in die Auslegungen ansetzen und an denen sich das Problem der Bedeutungsherstellung und -übertragung kristallisiert. In der Interpretation der Gärtnersfrau steht das fehlende Herz implizit abstrahierend für fehlendes Lernvermögen, aber alle anderen Elemente der Erzählung – Hirsch, Gärtner, Garten, Netze – bleiben wörtlich unübertragen. Adelger benutzt hingegen eine primär figurative Lesart: er bezieht explizit den Hirschen auf sich, den Gärtner auf Severus, den Garten mit seinen Stiegen auf Rom mit seinen Toren, und implizit den abgeschnittenen Schwanz und die Ohren des Hirschs auf seine eigenen von Severus abgeschnittenen Kleider und Haare. Das Netz und das fehlende Herz bleiben jedoch in seiner Interpretation unaufgelöste, aber leicht verständliche tote Metaphern für eine Falle bzw. für fehlendes Lernvermögen; man könnte sogar von Metonymien sprechen, vom Materiellen als pars-pro-toto für das Abstrakte: vom Herzen als pars-pro-toto für das Erinnerungsvermögen, und vom Netz als pars-pro-toto für Fallen. Im Falle des durchlöcherten Bauchs des Hirschs werden ebenfalls unaufgelöste und übertragene Interpretation kombiniert: der durchlöcherte Bauch bleibt eine nicht weiter erklärte tote Metapher oder Metonymie für den Tod; der Hirsch selber aber wird figurativ gelesen, diesmal nicht für Adelger, sondern für die Römer stehend. Der Bote kann mit der Geschichte hingegen nichts anfangen, da er alles nur wörtlich nimmt.

      Diese Erzählstrategie – situationsspezifisch; Leerstellen lassend, teilweise wörtlich, teilweise metaphorisch interpretierbar – ist zusammengefasst mit Obermaier „eine Erziehung zum kritischen, situationsbezogenen Denken, eine ‚Einübung in Flexibilität‘“.16 Dabei zitiert Obermaier wieder Haug, der diese „Einübung in Flexibilität“ Exempelsammlungen wie dem Panschatantra zuschreibt und mit der Funktionsweise der im Mittelhochdeutschen verbreiteten Fabeln kontrastiert.17 Der Widerspruch, dem sich exemplarisches Erzählen laut Haug zu stellen hat, ist, dass eine Erzählung nur dann exemplarischen Charakter beanspruchen kann, wenn sie uneindeutig auf eine Lehre reduzierbar ist, dass sie aber dadurch ihren Charakter als historisch-faktischen Einzelfall aufgeben muss und damit die „Autorität des Historisch-Faktischen“ verliert.

      Die Geschichte vom Hirschherzen in der Severus-und-Adelger-Episode besteht aber gerade darauf, sowohl historisches Geschehen wiederzugeben als auch exemplarisch verwendbar zu sein, und sich somit eben nicht auf ein eindeutiges Exemplum reduzieren zu lassen. Dieses narrative Modell funktioniert wohl nicht für die gesamte Kaiserchronik, mit ihrer von Mathias Herweg überzeugend beschriebenen Experimentierfreudigkeit mit verschiedenen Gattungs- und Erzählvorbildern.18 Dennoch könnte man alle anderen Erzählstrategien wie Typologie (Ohly), Topologie (Udo Friedrich) oder Struktur als Bedeutungsträger (Markus Stock, Karl Stackmann, Tibor Pésza) letztlich als Teil dieser Offenheit des Panschatantra-Modells interpretieren, der verschiedene Erzähl- und Interpretationsstrategien nebeneinander vorführt.19

      Es ist wohl kein Zufall, dass die lückenhaften Interpretationen sowohl Adelgers als auch der Gärtnersfrau beim Netz mit seinen vielen leeren Maschen beziehungsweise der Leerstelle des fehlenden Herzens ansetzen (der durchlöcherte Bauch mag auch zu diesen Leerstellen gehören). Netze

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