Скачать книгу

was ihren Maschencharakter betont, obschon sie gleichzeitig für den Tastsinn überdimensional präsent sein können, zumal für die in ihnen gefangenen Tiere oder Menschen.20 Hartmut Böhme hat diese Kombination von festen Strängen, die die Beute halten können, und von als weniger materiell verstandenen Zwischenräumen zwischen den Stegen, die das Netz für die Beute unsichtbar machen, als wesentlich für das Funktionieren von Jagd- und Fangnetzen beschrieben.21 Die lückenhafte, nicht alles erklärende Interpretation wird somit hier durch als lückenhaft verstandene Gegenstände angeregt. Netze erscheinen in der Panschatantra-Tradition noch öfter in Passagen, die sich für eine ähnlich situationsspezifische, lückenhafte und teilweise wörtliche, teilweise übertragene Lesart anbieten.22 In einigen Versionen von Kalila und Dimna wird der Interpretationsprozess sogar explizit mit dem Auswerfen von Netzen verglichen. In einem dem arabischen Übersetzer aus dem Sanskrit, Ibn Al-Moqafa, zugeschriebenem Vorwort der Sammlung heißt es:

      Ein ähnliches Maß an nüchterner Reflektion ist für den Leser dieses Buches unerlässlich, wenn er es nicht dem Fischer gleichtun möchte, der eines Tages beim Fischfang in einem Fluss eine Muschel auf dem Grund erblickte und sein Netz ins Wasser warf, um sie herauszuholen, darin aber scheiterte und statt dessen einen Fisch fing. Obwohl der Fisch groß genug war, um ihn an diesem Tag zu ernähren, hielt er ihn nicht für bewahrenswert, und sprang in den Fluss, um die Muschel zu erlangen, und als er sie herausgeholt hatte, fand er sie leer und bedauerte, dass er durch seine Gier einen sicheren Vorteil verloren hatte. Am nächsten Tag kehrte er zum selben Fluss zurück, warf sein Netz hinein und fing einen kleinen Fisch. Gleichzeitig bemerkte er eine andere Muschel, beachtete sie aber nicht, da er fürchtete, genauso enttäuscht zu werden wie am vorhergehenden Tag. Aber ein Fischer kam zufällig vorbei und holte die Muschel, von ihrer Schönheit beeindruckt, aus dem Wasser und fand darin eine Perle von großem Wert. Genauso belohnt ein ebenso großer Schatz die Bemühungen desjenigen, deren Erkenntnis tiefer geht als die des Lesers, der sich mit der oberflächlichen Durchsicht dieses Buches begnügt.23

      Trotz der Ansage, dass hier ein Vergleich zum Leseprozess geboten werden soll, wird nur ein Element dieser vielteiligen Geschichte tatsächlich in dieser Weise ausgelegt, nämlich die Tatsache, dass am zweiten Tag der erste Fischer eine perlenhaltige Muschel ignoriert. Dies wird so gelesen, dass man sich mit den Erzählungen intensiv beschäftigen und nicht nach einem einzigen vergeblichen Interpretationsversuch aufgeben soll. Die Lehre des ersten Tages, an dem der Fischer den kleinen Fisch wegen einer leeren Muschel verliert, wird hingegen formuliert als Verlust eines sicheren Vorteils durch Gier, das heißt, „lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“. Wenn man das auf die Rezeption bezöge, im Sinne eines Sich-Begnügens mit einer geringen Erkenntnis, widerspräche dies aber gerade der soeben explizit ausgesprochenen Anregung zum intensiven Auseinandersetzen mit dem Text. Auch die nicht weiter ausgelegte Erfahrung des zweiten Fischers am zweiten Tag, der sofort eine Perle findet, widerspräche der Auslegung, dass immer viel Mühe beim Fischen oder Lesen nötig sei. Es bleibt also viel Raum für kontrastierende individuelle Lesarten, wie es der situationsspezifischen und bewusst lückenhaften Interpretationsmethode dieser Tradition entspricht. Wieder wird dies wie beim fehlenden Herzen und dem Netz mit dem Bild einer doppelten Leerstelle ausgedrückt: mit der leeren Muschel und dem Netz mit seinen leeren Maschen.

      Ohne dass dies der Forschung bisher aufgefallen wäre, verknüpfen neben der Kaiserchronik und Kalila und Dimna eine ganze Reihe von mittelalterlichen Erzählungen das Auslegen von Netzen mit dem Auslegen von Geschichten, oder aber das Herstellen von Netzen mit dem Erzählen von Geschichten, und verbinden dies teilweise mit der antiken lateinischen Text-als-Textil-Metaphorik. Meist geschieht dies wie in der Kaiserchronik implizit, zum Beispiel durch Verbinden des Netzmotivs mit Erzählerkommentaren und/oder auf der Handlungsebene mit Erzähl- und Schreibprozessen. Im Mittelhochdeutschen bietet der Jüngere Titurel ein explizites Beispiel für solch einen Vergleich zwischen Narrativ und Netz. In einem metanarrativen Kommentar vergleicht die Autorfigur sowohl die Interpretation seiner Dichtung als auch die glänzenden Rüstungen und Waffen eines Turniers mit Netzen:

       Der niwen schilte blicke und der zimier wunder waehe,

       netze, kloben, stricke, ich wen, ie man uf erde so vil gesehe,

       da mit diu herzen vreude kunnen vahen.

       swer da niht vreuden ruochte, der wolt ouch vreude nimmer me genahen.

       Seil, reifen, borten, riemen, strick, netz, ich wilz verburgen,

       die maht darumbe niemen, daz di liut sich selben dran erwurgen,

       noch sper, noch swert. niht wan der werlt ze guote

       mit lieden Titurelles ich, Wolfram, niht wan ouch des selben muote. 24

      (‚Der Anblick der neuen Schilde und des wunderbar glänzenden Helmschmucks: Netze, Fesseln, Stricke. Ich glaube, wenn man auf Erden soviel davon sieht, können die Herzen damit Freude fangen. Wer da nicht an Freude dachte, der kam der Freude auch später nicht näher.

      Seile, Stricke, Bänder, Riemen, Fesseln, Netze – ich bezeuge es: die stellt niemand her, damit sich die Leute selber damit erwürgen – auch Speer und Schwert nicht. Nichts als zum Wohl der Welt auch ich Wolfram, mit dem Lied Titurels, nichts als in derselben Absicht.‘)

      Netze fungieren hier als Fangwerkzeuge, die dreifach metaphorisch übertragen werden, ohne dabei eindeutig festgelegt zu werden: zunächst auf die visuelle Faszination der Schilde und Helme als Blick-fang (der Anblick und Glanz der Schilde und Helme ist ein Netz, vermutlich für die Augen oder für Blicke), dann auf das „Einfangen“ von Freude, d.h. das Genießen der Hochstimmung beim Turnier (Herzen könnten mit den Netzen der glanzvollen Ausstattung Freude einfangen), dann auf die Attraktivität von Fiktion (das Lied ist genau wie ein Netz dazu gemacht, die Rezipierenden einzufangen, aber sie nicht zu erwürgen). Hier wird nicht so sehr die Lückenhaftigkeit des Netzes betont (obschon Sichtbarkeit eine Rolle spielt), sondern seine Gefährlichkeit. Wie viele Netze in der mittelhochdeutschen Literatur sind die Netze im Jüngeren Titurel Fallen, die für das eingefangene Tier, den eingefangenen Menschen oder Gott oft lebensgefährlich oder gar tödlich sind, und die Machtkämpfe eindeutig entscheiden, wobei unsere Sympathien auf Seite des Fängers oder des Gefangenen liegen können. Dies wirft ein interessantes Zwielicht auf den Erzähl- und Rezeptionsprozess, der hier als extrem machtvoll und potentiell gefährlich erscheint.

      Auch die Beschreibung des Netzes als löchriges Maschenwerk, als Kombination von Öffnung und Steg, von Loch und Seil, von unsichtbarem und nicht-greifbarem Zwischenraum, und sicht- und greifbarer Faser, die in der Kaiserchronik anklingt, wird als Metaphern für den Erzählprozess fruchtbar gemacht. Vulkanus’ aus Silber und Stahl geschmiedetes Netz, in dem er seine Frau Venus zusammen mit ihrem Geliebten Mars im Bett fängt, ist zum Beispiel in Heinrichs von Veldecke Eneasroman fast unsichtbar:

       Dô meisterde Volcân

       ein netze sô getân,

       als ich û sagen mach,

       daz manz kûme gesach,

       sô cleine wârn die drâte. 25

      Gleichzeitig wird die Festigkeit und Materialität seiner metallenen Stege dadurch betont, dass sich selbst die Götter Mars und Venus bei aller Anstrengung nicht daraus befreien können. Der Einschub des Erzählerkommentars „wie ich euch sagen kann“ an genau der Stelle, an der die Gemachtheit des Netzes erwähnt wird, weist vielleicht darauf hin, dass dieses Netz letztlich aus Worten hergestellt ist.

      In Strickers Daniel von dem blühenden Tal werden die Merkmale eingeschränkte Sichtbarkeit und übertriebene Greifbarkeit in einem Zaubernetz ins Extrem getrieben, in dem Sandinose Daniel beim Eintreten in das Bergreich von der Grünen Aue fängt, was in der Forschung als Metapher für den Erzählprozess verstanden wurde:

       Dâ stuont ein kleinez netze vor,

       daz was mit listen sô gemacht,

      

Скачать книгу