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dass je unterschiedliche Aspekte des Ereignishaften in der Erlösung sukzessive entfaltet und gleichzeitig ihre enge Verflochtenheit hervorgehoben werden. Das Erlösungsereignis wird jedoch in der Erlösung nicht nur in einer historisch-chronologisch Erzählung thematisiert, die ihrerseits durch die Prophetenreihe als voraussagbare Anordnung ausgewiesen und dabei durch die Exponierung des Heilsgeschehens als Erwartung einer Ankunft perspektiviert ist. Vielmehr erscheint das Ereignis der Erlösung zugleich durch die allegorische Gerichtsszene dramatisiert, die es in wiederum eigener Weise inszeniert und ins Überzeitliche doppelt.

      III Unerwartbares Erzählen

      Der ‚Streit der vier Töchter Gottes‘ oder die sog. ‚Tribunalszene‘1 schließt unmittelbar an die Vertreibung aus dem Paradies an, genauer: an einen Erzählerkommentar, der den Sündenfall und den bösen Rat des Teufels beklagt. Nach einer kurzen Exposition, die das Gottesgericht mit seinem Gefolge aus 24 Ratgeber (Ratma[nn] N 100vb, V. 385) und dem Ring der Cherubin und Seraphin einführt, wird zunächst der Thron Gottes beschrieben. Diese einzige mit rund 80 Versen einlässlichere descriptio der Erlösung verschränkt Elemente, die den Löwenthron Salomons oder das himmlische Jerusalem aufrufen, mit einer aufwändigen Maßwerkbeschreibung, die ein dichtes Fachvokabular aufweist. Entworfen wird ein eminent räumlicher Ort, der die Bühne bietet für die ungeschiedene Trinität (ebd., V. 375) und die mit ihr verbundenen Tugenden. An ihm herrscht ein eigenes Zeitregime, das, während es sich selbst narrativ in der Zeit entfaltet, über der erzählten Zeit der Welt steht – ein Ort, an dem Alles immerschon gesagt ist (vgl. etwa N 102ra, V. 539f.).

      Gott selbst eröffnet danach mit der Anklage des Menschen eine Gerichtsszene, die – wie Urbanek zeigen konnte – an konventionellen juridischen Redeformen orientiert und streng symmetrisch gebaut ist.2 Die Reden der Schwestern, es handelt sich um die Allegorien von Barmherzigkeit, Recht, Wahrheit und Frieden, sind dabei nicht nur parallel strukturiert, sondern demonstrieren die Äquivalenz ihrer Geltungsansprüche auch durch die Verwendung des immer wieder gleichen Wortlauts (z.B. N 101vb, V. 530f.): Gedenke her[re] das ich din / Dochter heiſſen vnd bin und (z.B. N 102ra, V. 539f.): Gedencke was der wÿſſage / Von Dir prediget alle tage. Die Plädoyers für die Begnadigung des Menschen und diejenigen für seine Bestrafung sind jeweils in derselben Weise begründet und lassen so das Dilemma augenscheinlich werden, das der Sündenfall produziert hat. Wo Barmherzigkeit und Wahrheit, Friede und Gerechtigkeit alle gleichermaßen sagen können (z.B. N 101vb–102ra, V. 535–537): Wann ich vnd du vns ſcheiden / So iſt ny[mm]e an vns beiden / Wann ich bin du vnd Du biſt ich, konstituiert das Wesen Gottes selbst die Frage der Erlösbarkeit des Menschen als Aporie (ebd., V. 533f.). Als verwirrten Knoten, den es zu enquicken und entstricken gilt (N 103rb, V. 721–723), beschreibt entsprechend der trinitarische Sohn, der den Streit schließlich schlichten wird, das Problem, dessen Lösung in der Menschwerdung und in der Passion Gottes gefunden wird: Haſtu nit barmhertzigkeit [oder Recht, Frieden, Wahrheit; ChrL] / So iſt ein nichte din gotheit (hier: N 102ra, V. 533f.). Die Soteriologie des Textes changiert dabei zwischen verschiedenen (konventionellen) Begründungen dafür, warum eine solche Lösung erfolgreich sein kann.3 Die allegorische Konstellation vermag mit dem ,Töchter Gottes‘-Motiv die Unmöglichkeit bzw. Ausgeschlossenheit sowohl der Nichterlösung als auch der Erlösung des Menschen zu artikulieren. Der Erzähler kommentiert folgerichtig: Sagt an was mocht got da jehen (N 102vb, V. 6558).

      Vor der Folie des nahen, dramatischen Modus der allegorischen Gerichtsszene präsentiert der Text die Lösung der Aporie als Ereignis eigener Art.4 Dies gelingt, indem der entscheidenden Rede des Gottessohns an kritischer Stelle, nämlich genau am Umschlagpunkt zwischen argumentativer Begründung von Verdammnis und argumentativer Begründung der Rettungsmöglichkeit des Menschen durch einen Exkurs des Erzählers eine prägnante Zäsur gegeben wird. Urbanek fasst diesen Einschub als Mittel auf, die antithetische Struktur der Rede zu akzentuieren, versteht ihn jedoch vor allem als Inserat „einer sprach-solistischen Kadenz“ des Erzählers.5 Mit dieser Zäsur einher geht jedoch zugleich eine im Überzeitlichen der himmlischen Gerichtssituation situierte Evokation von Zeitverhältnissen, die Dauer, präsentisches Jetzt und zeitliche Zerdehnung ineinander verschränken und die dort, wo es – am Ort des Ununterscheidbaren und immer schon gesagten – mangels linearer Temporalität rechtbesehen kein Ereignis geben kann, über das Erzählen Ereignishaftigkeit implementieren. Denn was nach der vorläufigen Versicherung des Sohnes gegenüber Wahrheit und Gerechtigkeit, dass der Mensch durch Ungehorsam den Tod verdient habe, eingefügt ist, gilt gleichermaßen für die Leidens-Frist wie den momentanen, in der Rede des Erzählers beinahe schon geschehenen Tod des Menschen, der nur durch die konjunktivisch erhoffte, nicht aber vollzogene Hilfe von Barmherzigkeit und Frieden noch abgewendet werden kann:

       Owee der langen zale

       O wee der bermelichen zÿt

       Eÿa wie es nu gefangen lÿt

       Inn der helle pÿne

       Es en ſÿ daz jme erſchyne

      Vw[er] hilff vnd uw[er] troſt (N 104rb, V. 860–865)

      Der Erzähler spitzt das präsentische nu im Bild einer Waagschale noch einmal zu, deren Sinken aktuell, gerade jetzt, beobachtet werden kann – die sich nu ſencket hin zu tale (ebd., V. 877). Außerhalb der geschichtlichen Welt-Zeit der Erzählung doch im Jetzt des Erzählens soll sie von Frieden und Barmherzigkeit, die der erste Abschnitt des Exkurses adressiert, wieder ausgeglichen werden:6

      Nu weſent getruwelich [bereit]

       Wie jre die wagen richtet widder

      Die die warheit hat geweg[en] nÿder (N 104rb-va, V. 890–892)

      An dieses Bild des Erzählers schließt sich ein selbstreflexiver Exkurs an; darin wird die Erzählung als Schiff beschrieben, das am Strand geankert und die Segel aus Trauer für einen Moment niedergelassen hat.7 Nach der Einladung an diejenigen, die nach Wahrheit streben, mit an Bord zu kommen, soll jetzt das Segel aufgezogen und wieder Fahrt aufgenommen werden. Mit einem erneuten Nu, das N sogar verdoppelt,8 wird der zweite Teil der Entscheidungs-Rede eingeleitet, in der Christus die argumentative Position von Friede und Barmherzigkeit übernimmt, den Plan der Menschwerdung als Lösung für das Dilemma konkretisiert und dabei das Bild der umschlagenden Waage vom Erzähler aufgreift:

       Alſo will ich ſelbs an lybe

       Weſen das gewychte

       Das die wage richte

       Vſſer duffen in den lufft

      Inn den hy[mm]el vſſer crufft (N 105rb, V. 1016–1020)

      Durch die allegorische Narrativierung und Dramatisierung des Entscheidungsmomentes, d.h. des Urteils, das sich in der Menschwerdung vollzieht, kann das Ereignishafte der Erlösung angesprochen werden, wenngleich es auch hier nicht ausgesprochen wird: Denn anders als das Sinken der Waage, das der Erzählerkommentar mit Nu markiert, und anders als die entsprechende Bitte um Ausgleich, die mit Nu eingeleitet ist, steht der Zuwurf des Gewichts noch aus. Der Wendepunkt des Heils, das Umschlagen der Waage, das im Bild des ankernden Schiffes zugleich als besonderer Erzählmoment ausgestellt wird, als Stocken, in dem die Erzählung zum Erliegen kommt, für einen Augenblick anlandet, ist so deutlich markiert.

      Dass dennoch das Unerwartbare, die unmögliche Möglichkeit, die Lösung der Aporie, die der Sündenfall provozierte, das Ereignis, das weltgeschichtlich noch aussteht, durch die doppelte Zeitlogik bereits erfolgt und auch vollzogen ist, verdeutlicht der Text durch das Motiv des Kusses zwischen Gerechtigkeit und Frieden, das die Erlösung auch wörtlich dem Psalm Davids entnimmt:

       Miſericordia et veritas

       Frauwe Barmhertzigkeit

       Vnd auch ire ſweſter warheit

       Gegeneinander gingen

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