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Vorstellungskraft der Rezipienten in den Erzählerkommentaren und kurzen Exkursen ansprechen. Es soll weiter gezeigt werden, dass es hier um gattungsüberkreuzende Strategien der Vergegenwärtigung geht: Trotz der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Erzählung und Drama lassen sich Ähnlichkeiten zwischen dem imaginierten Engagement des Lesers oder Zuhörers der Bibelepik und der Beteiligung des Publikums beim geistlichen Spiel beobachten. Im zweiten Teil soll die andachtsbezogene Annäherung bzw. Überschneidung der zwei literarischen modi (Erzählung und Drama) mit einem Fallbeispiel aus einer englischen Kartäuserhandschrift weiter erprobt werden: Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160 enthält zwei geistliche Spiele, die ansatzweise als Erzähltexte umgeschrieben worden sind.18

      I. Anachronistische Züge in der deutschsprachigen Bibelepik

      Die vier bereits erwähnten bibelepischen Texte sind alle rhetorisch anspruchsvoll. Timothy Jackson veranschaulicht das darin begegnende Phänomen der „generischen Interferenz im Mittelalter“ unter besonderer Berücksichtigung von lyrischen Segmenten, die in historische Erzählungen (vor allem in Die Erlösung und in Der Saelden Hort) eingebettet sind.1 Die Hybridität dieser Texte geht jedoch sehr viel weiter und manifestiert sich in der Einbeziehung von Gebet, didaktischer Ermahnung, erweiterter poetologischer Metapher und in einigen Fällen von allegorischer Erzählung: Die Erlösung beinhaltet den Streit der vier Töchter Gottes (V. 475–768) und Gottes Zukunft beruht in weiten Teilen auf dem Compendium Anticlaudiani, einer Prosazusammenfassung (und Umdeutung) des Anticlaudianus von Alanus ab Insulis.2 Diese Texte sind auch von intertextuellen Bezügen geprägt. In Die Erlösung finden sich Anklänge an Vergils vierte Ekloge, wenn Christus als zweiter Achill dargestellt wird (V. 1942; 6097).3 Der Saelden Hort vergleicht Salome mit Kriemhild (V. 3095) und verspricht, der Bericht über die Hochzeit in Kana werde genau jene Menschen begeistern, die gerne Geschichten von den prächtigen Höfen des Artus, Alexanders und anderer Könige und Kaiser hören.4 Sogar die angebliche Ablehnung höfischer Romane im Prolog zu Die Erlösung ist so formuliert, dass sie die Vertrautheit des Autors mit den Inhalten und Stilmitteln der weltlichen Literatur unter Beweis stellt:

       geblûmet rede seit der Grâl,

       hêr Iwein und hêr Parzifâl,

       und wie gewarp zu Cornuâl

       Brangêne Isôt Tristan Rewâl,

       und wie die clâre Blanziflûr,

       bestricket in der minne snûr,

       mit Tristande durch amûr

       heim ze Parmenîe fûr.

      solher rede ich niht enger. (Die Erlösung, V. 89–97)5

      Die Bezüge zu den geistlichen Spielen sind nicht derart explizit, sondern liegen in einem gemeinsamen Zugang zu Zeitlichkeit und Performativität: Sowohl die Spiele als auch die bibelepischen Erzählungen ermöglichen es den Rezipienten, Ereignisse aus der biblischen Vergangenheit zu ‚sehen‘ und zu vergegenwärtigen. Die liturgische Grundlage der Spiele, deren deiktische Logik darauf besteht, dass Christus ‚heute‘ geboren oder auferstanden ist, unterstüzt diesen anachronistischen Zugriff. Die deutschsprachigen Osterspiele sind besonders vielschichtig in ihrer Konstruktion von Zeit und Raum. Im Innsbrucker Osterspiel bewegen sich beispielsweise die Marien frei und nahtlos zwischen dem von Pilatus regierten Jerusalem und einer erkennbar mittelalterlichen deutschen Marktstadt.6 Darüber hinaus verwandeln die Osterspiele auch die Zuschauer in aktive Teilnehmer am Erlösungswerk. Walter Haug behauptet, dass der Einzelne „als Mitspieler in einen Konflikt“ eintrete,7 und Bruno Quast betont, dass die „Aufführungsgemeinde“ durch die Teilnahme am exorzistischen „Lachritual“ des „Seelenfangspiels“ zur Heilsgeschichte beitrage: „nur indem sie teilnimmt, stellt sie Erlösung her“.8

      Bei realen Aufführungen zeigen die Darsteller auf der Bühne zumindest ein Element von mimetischer repraesentatio, das die biblischen Ereignisse in die unmittelbare Erfahrungswelt des Publikums hebt.9 Dennoch sind bei weitem nicht alle Spiele aufgeführt worden oder zur Aufführung bestimmt gewesen: Der Unterschied zwischen Lesetexten und Aufführungstexten ist öfters hinterfragt worden. Robert L.A. Clark und Pamela Sheingorn haben den Begriff des ‚performative reading‘ in Bezug auf französische illustrierte Spielhandschriften entworfen: „The written word does not remain inert on the page; rather, the act of reading transforms it into enacted text, and it is this process that we term performative reading.“10 Jessica Brantley betont ebenfalls für England, dass Privatandacht und Spielaufführung in imaginärer Performativität vernetzt werden.11 Auch im deutschen Kontext ist der private Gebrauch einzelner Spiel- oder Dialogtexte als eine innere Inszenierung gedeutet worden.12 Und kürzlich hat Cornelia Herberichs in ihrer noch unveröffentlichten Habilitationsschrift die Kategorie des geistlichen Lesespiels stark in den Vordergrund gerückt.13

      Der Begriff des ‚performative reading‘ lässt sich nicht nur in Bezug auf die im zweiten Teil zu besprechende Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160 anwenden,14 sondern auch auf die Visualisierungsstrategien der Bibelepik übertragen – so besonders bei Texten, die konkrete Aufforderungen an die imaginatio der Rezipientenschaft stellen. Der Erzähler in Der Saelden Hort ruft seine Leser häufig dazu auf, sich den biblischen Figuren in ihren Tätigkeiten anzuschließen. Manchmal ist der Kontext nur einer der moralischen imitatio, die auf der allegorischen Interpretation bestimmter Details beruht. So schlägt der Erzähler, nachdem er beschreibt, wie Johannes der Täufer in die Wüste aufbricht, ein allegorisches Äquivalent vor:

       dez gang hin in die wúeste,

       sælic frow, guͦter man!

       du leg och sin wafen an:

      den halsperg der gerehtikeit! (Der Saelden Hort, V. 4614–4617)

      Marias Reise in das Hügelland Judäa (Lc 1:39) wird ebenfalls mit der Möglichkeit verbunden, die Berge der Tugenden zu besteigen:

       wiltu nun gnaden werden rich,

       so soltu nach Marien

       dich von den sunden vrien,

       und gang uf hoher tugenden berg,

      heb an, vollbring állú werk! (Der Saelden Hort, V. 1014–1018)

      Das Kind, die Krippe und das Wickeltuch werden einer ähnlichen moralisatio unterworfen, die die Historizität der Inkarnation gewissermaßen beeinträchtigt (V 1317–1325). Die vorgeschlagene imitatio Mariae ist aber nicht nur allegorisch. Der Erzähler ermutigt die Leser, Maria in einer mentalen Rekonstruktion der Heiligen Orte zu folgen: Gang mit der magt wider us, / ze Bethlehem, des brotes hus! (V. 1103–1104). Vor allem sollen sich die Leser die biblischen Episoden visuell vergegenwärtigen. Sie sollen Maria ‚sehen‘, wenn sie ihre Reise zu Elisabeth geistig wiederholen. Diese visuelle Vergegenwärtigung hat auch eine liturgische Verankerung, indem die Leser dazu ermutigt werden, zusammen mit Maria das Magnificat zu singen:

       Nu sich die maget swanger!

       gang mit ir dur den anger

       hin uf den berg ze ir muͦmen,

       so dir der gnaden bluͦmen,

       smaken die din hertze enphat,

       sing mit der magt magnificat,

       si grúetz mit Elsabeth

      und frów dich, so Johannes tet! (Der Saelden Hort, V. 929–936)

      Auch die Worte von Zacharias und Elisabeth eignen sich zur individuellen Sinngebung:

       Bevindestu genaden sus,

       so soltu benedictus

      

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