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160, Bl. 141r: Beispiel der Ausradierung eines narrativen Textstückes

      Donald Baker, John Murphy und Louis Hall sind der Auffassung, die Spiele seien ursprünglich in der Form erweiterter Meditationen konzipiert worden, der Schreiber habe dann die Idee gehabt, sie in Spiele zu verwandeln.8 Rosemary Woolf und James Hogg meinen dagegen, dass die Texte ursprünglich als Spiele kopiert wurden;9 und Jessica Brantley lässt die Frage offen.10 Obwohl der meditative Zweck dieser Texte sicherlich außer Frage steht, ist der Ansatz von Woolf und Hogg überzeugender als der von Baker, Murphy und Hall: Der Schreiber scheint anfangs die Spieltexte in eine erzählende Meditation umschreiben zu wollen – vielleicht auch um die narrative Einheitlichkeit der ganzen Handschrift zu verstärken. Kurz nach Beginn seiner Arbeit hat er sich dann aber wohl entschieden, dass die ursprungliche, dramatische Form sich doch besser zur Meditation eigne. Diese Entscheidung mag damit zusammenhängen, dass der anfängliche Versuch, die Spiele zu narrativieren, zu einem Tempuswechsel geführt hat, wobei die Vergangenheit (z.B. saide) auf Kosten der Gegenwart privilegiert worden ist. Zwar finden wir gelegentliche Kompromissformulierungen, die das Präsens verwenden, aber dennoch einen historischen Ereignisverlauf zum Ausdruck bringen, zum Beispiel Bl. 147v: Joseph redy to tak crist down sais [] [,Joseph, der bereit ist, Christus herunterzutragen, sagt‘]. Darauf folgen jedoch keine weitere Beschreibungen. Der Schreiber scheint endgültig zu der Schlussfolgerung gelangt zu sein, dass die in einer Meditation erzielte Vergegenwärtigung im dramatischen Modus (mit den damit verbundenen Visualisierungsstrategien) doch am besten zu erreichen sei.

      Die Gebete und Illustrationen in der Verschronik legen bereits einige kleine meditative Pausen in der Erzählung der Weltgeschichte ein. Dennoch scheint der Schreiber sich einen größeren Umfang an solchem Material gewünscht zu haben – wie etwa die vielen kurzen Exkurse anzeigen, die kunstvoll in die deutsche Bibelepik eingebaut sind. Sie leiten den Leser zu einem ‚performative reading‘ an, indem sie ihm Anweisungen geben, wie er die Höhepunkte der Heilsgeschichte mittels aktiven Einsetzens der imaginatio vergegenwärtigen und sinnlich erleben mag. Der Kartäusermönch, der diese Handschrift verfertigt hat, ist als Schreiber bzw. Kompilator und nicht als Autor zu betrachten. Wie sich erkennen lässt, neigt er offensichtlich nicht dazu, die narrativen Texte, die er sich ausgesucht hat, so zu bearbeiten, dass meditative ‚Pausen‘ nahtlos in die Narrativierung eingesetzt werden; wie bereits erwähnt ist die Handschrift schon in der Kombination von Textblöcken nicht konsequent. Der Mönch scheint aber einen Sinn für das Vergegenwärtigungspotenzial von geistlichen Spielen gehabt zu haben. Während die Autoren der im ersten Teil besprochenen Texte analoge Strategien entwickelt und diese an ihre narrativen Texte angepasst haben, hat dieser Schreiber sich mit dem Anheften nicht-narrativer Texte außerhalb der Reihe, also nach dem eigentlichen Ende der Weltgeschichte, begnügt. Seine Korrekturen zeugen von einem anfänglichen Unbehagen beim Wechsel der modi und von der Annahme, der Gebrauch von der grammatischen Vergangenheit passe besser zum übergreifend historischen Unternehmen. Schließlich scheint er aber akzeptiert zu haben, dass das Spiel als Spiel seinen meditativen Bedürfnissen durchaus entsprochen und die vorausgehenden Textblöcken auf produktive Weise ergänzt hat.

      III. Fazit

      Der vorliegende Beitrag hat die Bedeutung von Anachronismen in Texten herausgearbeitet, welche die biblische Vergangenheit in die meditative Gegenwart des mittelalterlichen Lesers bringen wollen. Schilderungen von Pilgerreisen, seien diese imaginiert oder real, stellen für das Individuum eine Möglichkeit dar, sich die biblische Vergangenheit anzueignen und die absolute Linearität der Zeit zu überwinden. In der Bibelepik wird die Berichterstattung von Ereignissen typischerweise durch Gebete oder Exkurse unterbrochen, die die Möglichkeit einer imaginären Teilnahme an biblischen Szenen eröffnen. Ähnlich werden Prophezeiungen oft als Kunstgriff verwendet, um zeitliche Unschärfe einzuführen. Die weit verbreitete Verwendung von Anachronismen ist in vieler Hinsicht analog zur Engführung von Zeit und Raum, die man im religiösen Drama antrifft. In MS e Musaeo 160 begegnen wir schließlich einem ungewöhnlichen Schreiber bzw. Kompilator, dessen experimentelle Korrekturen sowohl sein Bewusstsein für die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Spiel und Erzählung unterstreichen wie auch seinen Wunsch, die Vorteile des Spielmodus (vor allem das Vergegenwärtigungs- und Meditationspotenzial) für seine Weltgeschichtskompilation zu nutzen.

      Lebensgeschichte / Heilsgeschichte

       Erzählen von Figuren der Bibel am Beispiel Johannes des Täufers

       Rabea Kohnen

      Die Bibel ist für mittelalterliche Christen beides: Grundlage ihres Glaubens und Quelle historischen Wissens. In der Verbindung beider Bereiche liegt die Vorstellung einer Beziehung zwischen Gott und den Menschen, die sich in der Zeit entfaltet und auf Wiedervereinigung und Erlösung zielt. Dieses im 19. Jahrhundert auf den Begriff ‚Heilsgeschichte‘ gebrachte Konzept war und ist in der Theologie umstritten,1 hat für die Auseinandersetzung mit historischen Gegenständen aber weiterhin große Bedeutung.

      In geistlichen und weltlichen Erzählungen des Mittelalters wurden seitens der Literaturwissenschaft durchaus unterschiedliche Konzepte und Denkmodelle unter dem Begriff der Heilsgeschichte subsumiert, wie die Vorstellung von Zeitaltern der Weltgeschichte, typologische Verfahren der Bedeutungsgenerierung, allgemeiner Denkmuster von Prüfung und Erlösung und die Vorstellung einer generellen Entwicklung der Welt zum endgültigen Heil.2 Das Konzept Heilsgeschichte wird jedoch kaum diskutiert, sondern zumeist als Konsens vorausgesetzt, was insbesondere bei der Arbeit mit weltlichen Texttypen nicht immer unproblematisch ist.3

      Das sich in der Vielzahl der Beiträge zeigende Interesse deutet jedoch insgesamt darauf hin, dass es lohnenswert sein könnte, die Frage, was heilsgeschichtliches Denken eigentlich ist und wie es in narrativen Zusammenhängen funktioniert, deutlich zu stellen und an einer methodischen Schärfung zu arbeiten. In diesem Sinne werde mich in Folgenden dem chronologischen Zentrum der christlichen Heilsgeschichte, der Lebenszeit Jesu, zuwenden und am Beispiel Johannes des Täufers der Frage nachgehen, wie sich ein heilsgeschichtliches Interesse in der mittelhochdeutschen Dichtung entfalten kann und wie es zu dem für Dichtung insgesamt typischen Interesse an Lebensgeschichten, am biographischen Erzählen von Figuren,4 in Beziehung tritt.5 Gleichermaßen ist zu fragen, wie die narrative Arbeit an Lebens- und Weltgeschichte in Bezug zu theologischen Interessen an der jeweiligen Figur in einer systematischen Perspektive treten. Aus der Beobachtung des Zusammenspiels von biographischen, historiographischen und theologischen Interessen an der Figur des Johannes und seiner Geschichte erhoffe ich mir Erkenntnisse über die Möglichkeiten heilsgeschichtlichen Erzählens in der deutschsprachigen Bibeldichtung des Mittelalters und vielleicht auch darüber hinaus.

      I. Johannes der Täufer in den Evangelien

      Die Evangelien berichten drei Abschnitte aus dem Leben des Täufers: Kindheit, Wirken und Tod.1 Nur Lukas erzählt, wie Zacharias und Elisabeth nach der Verkündigung des Engels Gabriel in hohem Alter doch noch einen Sohn bekommen. Noch im Mutterleib hüpft Johannes vor Freude, als die ebenfalls schwangere Maria seine Mutter besucht. Sein Vater Zacharias verliert durch sein Zweifeln am Gotteswort zunächst seine Stimme, wird nach der Geburt seines Sohnes jedoch zum Propheten. Als Mann lebt Johannes asketisch in der Wüste, predigt das Herannahen des Weltenendes und ruft zu Reue und Umkehr auf. Er tauft seine Anhänger, zu denen zumindest für eine Zeit auch Jesus gehört, im Jordan. Bei der Taufe Jesu offenbart sich die Göttlichkeit des Täuflings durch eine Erscheinung. Mit seinem Finger weist Johannes auf Jesus und nennt ihn das Lamm Gottes. Als Johannes die Ehe von König Herodes mit dessen Schwägerin Herodias kritisiert, lässt ihn das Königspaar ins Gefängnis werfen. Von dort aus sendet er seine Jünger zu Jesus, um sich dessen Identität als Messias zu versichern. Bei einem Hoffest des Herodes ringt die schöne Tochter der Herodias ihrem Stiefvater durch einen Tanz ein Blankoversprechen ab und fordert in Absprache mit ihrer Mutter den Kopf des Täufers. Johannes wird hingerichtet und von seinen Jüngern bestattet. Jesus lobt Johannes als den größten unter den von Frauen Geborenen.

      Ohne hier auf die vielfältigen Unterschiede in den Darstellungen der vier Evangelien eingehen zu können,2 zeichnen sich mehrere Interessen an der Figur des Täufers ab. Zum einen wird Johannes in historischer Perspektive als Vorläufer Jesu gezeichnet,

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