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Sphären von Minne und Kampf ausnimmt, deren Narrativierung über weite Strecken die höfische Epik des späteren 12. und des 13. Jahrhunderts prägt. Ohne einen Wechsel des Schauplatzes zu vollziehen, setzt das Erzählen mit der Formel Aines tages kom iz sô in V. 4415 neu an. Die nun folgende zweite Viterbo-Episode entwickelt aus der Situation einer Kampfpause die bereits skizzierte Konfrontation zwischen Fürst und König und holt so den Namensgeber des Abschnitts überhaupt erst in das erzählte Geschehen hinein. Ausgelöst wird diese Konfrontation durch Conlatinus’ superlativisches Lob auf Lucretia. Ein solches findet sich auch bei Livius, während Ovids Version der Geschichte es nicht kennt.8 Dass dieses Verbalverhalten in der Kaiserchronik einen Makel, eine maßlose Zungensünde anzeigt, die alle anderen – Männer wie Frauen – zurücksetzt, verdeutlicht auf komplexe Weise die als dritte Viterbo-Episode inserierte Schilderung der Begegnung zwischen dem Römer Totila und der aus Viterbo stammenden Dame Almenia; sie muss hier ausgeklammert bleiben. Wichtiger ist mir etwas anderes: Über einen allgemeinen Tugend-/Lasterdiskurs hinaus verfolgt die Kaiserchronik eine eminent politische Linie – anders als bei Livius, wo Collatinus’ Behauptung der Superiorität Lucretias als einzelne Stimme aus einem Kollektiv herausgehoben erscheint, ohne jedoch einen individuellen Widerpart zu finden, erwächst Conlatinus in der Kaiserchronik aus der Verletzung einer rhetorischen Regel eine Frontstellung zum König; die sprachliche Maßlosigkeit mutiert in diesem Kontext zur Majestätsbeleidigung.

      Die Episoden, die danach folgen (die Schilderung des Besuchs von König und Fürst in ihren jeweiligen Häusern in Rom, die Szene des ‚Schlafkammergesprächs‘9 zwischen dem Königspaar, Lucretias Vergewaltigung durch Tarquinius, die Veröffentlichung der Schandtat des Königs während eines Gastmahls), lenken die Aufmerksamkeit auf Tarquinius und auf Lucretia, während die Figur des Conlatinus in den Hintergrund tritt. Erst nach Lucretias Selbsttötung nimmt der Text ihn noch einmal deutlicher in den Blick und zeigt ihn als verzweifelten Ehemann und Liebenden (vgl. V. 4776–4792; 4801–4805), dem in Rom ein familiärer Rückhalt für die Bewältigung seiner Trauer fehlt, und schließlich als Königsmörder (vgl. V. 4806–4822), als reke[n] (V. 4827), der aus der Stadt flieht und dessen Spur sich verliert.

      IV. Fazit

      Der Caesar-Abschnitt handelt von der Begründung des Kaisertums in Rom und fungiert damit als fundierender Mythos für die in einer Serie von – überwiegend in sich abgeschlossenen – Einzel-‚Viten‘ der jeweiligen Herrschaftsträger entfaltete Geschichte des Römischen Reiches vom Anbeginn bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts, wie der Prolog der A-Fassung sie ankündigt (vgl. V. 15–23). Als Fluchtpunkt des Abschnitts lässt sich die Akkumulation von Macht durch Caesar benennen: […] er aine habete den gewalt / der ê was getailet sô manicvalt (V. 522f.), die als Erklärung für die Einführung der als Majestätsplural aufgefassten Ihr-Anrede angeboten wird (vgl. V. 520–525). Das Prozesshafte des Vorgangs entfaltet der Text mittels einer bi-polaren Raumstruktur, bei der sich Gebiete gegenüberstehen, die sich, von Rom aus betrachtet, diesseits und jenseits der Alpen befinden und dementsprechend als ‚römisch‘ und als dûtisc bezeichnet werden. Für die Etablierung des Römischen Reiches sind der Darstellung zufolge Aktionen und Vorgänge erforderlich, die die Gewichte und das Verhältnis zwischen den mit Handlungsmacht ausgestatteten Akteuren – den Römern respektive dem Senat als der Führungselite Roms, dem jungen Krieger aus dem Geschlecht der Julier und den Bewohnern der transalpinen Gebiete – verschieben. Fokussiert man, wie die Erzählung es vorgibt, die Figur des Juliers, erscheint die politische Veränderung als ein von ihm vollzogener Seitenwechsel: Sein kriegerisches Handeln gegen transalpine Feinde im Auftrag des Senats schlägt in ein militärisches Handeln gegen den Senat im Verbund mit den einstigen Gegnern um; beides erfolgt indes letztlich, so die vom Text lancierte Perspektive, im Interesse Roms und der römischen Weltmacht. Entscheidend für die (positiv gewertete) Veränderung der Machtverhältnisse ist dabei, dass ein Bündnis zwischen dem Julier und den zuvor mit äußerster Härte bekämpften Einwohnern der transalpinen Gebiete zustande kommt – nur mit deren Unterstützung lässt sich der Weg zur Alleinherrschaft Caesars überhaupt beschreiten. Diese von dem römischen Feldherrn und Politiker begründete kooperative Ordnung präludiert in gewisser Weise die nachfolgend von Caesar unter maßgeblicher Beteiligung der Dûtisken geleistete Errichtung einer Weltordnung unter der Führung Roms. In diesem Kontext erscheint das Vorhandensein von zwei Bezeichnungsweisen für die Einwohner des transalpinen Gebiets mehr als eine Frage der Perspektive in dem Sinne, dass erst und nur für die Nahsicht Eigenarten und Unterschiede innerhalb einer multiplen Einheit erkennbar würden. Dass die einzelnen gentes der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken in dem Moment in der Erzählung hervortreten, in dem der römische Feldherr die Alpen überquert hat und dass sie einzeln von ihm im Kampf besiegt und/oder mit anderen Mitteln gewonnen werden müssen, unterstreicht die von ihm vollbrachte einigende Leistung. Solange bleibt er […] under in, / unz im alle Dûtiske hêrren / willic wâren ze sînen êren, vermerkt der Erzähler in Vers 452–454. Die für den Sturm auf Rom rekrutierten Truppen, die als scar manige (V. 472) zusammenkommen, ziehen schließlich als ain fluot […] ze Rôme in daz lant (V. 476). Der Vorgang ist freilich nicht voraussetzungslos, sondern er ist in der durch die verschiedenen origo-Erzählungen attestierten (kämpferischen) Vorzüglichkeit der einzelnen gentes und über die Behauptung eines gemeinsamen Ahnherrn der Römer und der Franken grundgelegt.

      Was das Gegenüber von römischen Herrschern und ‚deutschen‘ Gegnern angeht, liegt dem Tarquinius-Abschnitt eine andere Konfiguration zugrunde. Ein Fürst aus Trier, „einer, der aus einem anderen lande, einer anderen patria stammt als die Bewohner Roms“1 und als solcher zumindest in zweiter Linie auch den ‚deutschen Landen‘ zugeordnet wird, gelangt als politischer Flüchtling nach Rom, wird zur Stütze des römischen Gemeinwesens und macht Karriere in Nähe zum Herrscher. Das Erzählinteresse liegt hier indes auf der durchaus mit gewissen Ambivalenzen gezeichneten Entstehung einer Störung im Verhältnis zwischen dem römischen König aus dem Geschlecht der Tarquinier und seinem nicht-römischen Fürsten, die im Falle der Herrscherfigur mit einer Negativierung einhergeht; ihre Komponenten sind: Empfänglichkeit für falschen Rat, mangelnde Selbstbeherrschung, Loyalitätsbruch, Missbrauch der Gastfreundschaft, Erpressung und Ausübung mentaler wie körperlicher Gewalt. Die Vergewaltigung Lucretias und die Selbsttötung, die sie heraufbeschwört, markieren eine Grenzüberschreitung, die, sobald sie öffentlich gemacht wird, den König für das römische Gemeinwesen nicht mehr tragbar macht; der Senat fasst den Beschluss,

       daz Tarquinjus niemer mêre

       newurde ir kunic noh ir rihtære.

       er wære von grôzen sculden ûz genomen,

      daz er niemer mêr zir râte solte komen (V. 4797–4800).

      Tarquinius bleibt nur die Flucht aus der Stadt. Seine Entfernung aus dem Königsamt und sein Ausschluss aus der politischen Führungselite Roms werden als Reaktionen eben dieser Führungselite auf das spektakuläre Selbstopfer Lucretias im Dienste der gesellschaftlichen Ordnung profiliert. Greifbar wird hier ein Verständnis des Politischen, bei dem die Spielräume herrscherlicher Macht durch die Notwendigkeit einer moralischen Legitimation des Herrschers begrenzt werden. Beim Aufweis des Funktionierens dieser Ordnung hätte man es belassen können. Stattdessen verschiebt der Text die Aufmerksamkeit am Ende des Abschnitts ein weiteres Mal hin zu Conlatinus und nun zu dem von ihm verübten Königsmord. Dass auch er eine anmaßende, sich gegen geltendes Recht stellende Grenzüberschreitung darstellt, welche das Gemeinwesen nicht hinnehmen kann, kommt im Ausklang des Abschnitts im Fluchtmotiv zum Ausdruck, in dem der Auftakt des Erzählens, das abbreviaturhafte Hereinzitieren von politischen Vorgängen in Trier, noch einmal nachhallt, sodass die Erzählung zu einer Kreisstruktur findet. Eine Verurteilung von Conlatinus’ Handlungsweise gibt es freilich nicht – der Text akzentuiert, im Gegenteil, dessen übermächtiges Leid angesichts der Zerstörung seines persönlichen Glücks und bringt auf diese Weise eine zusätzliche Motivationsebene zur Geltung. Dass ‚Privates‘ und ‚Politisches‘ dabei trotz der im Text zumindest angedeuteten Problematik des fürstlichen Handelns nicht in Widerspruch geraten, sondern weitgehend parallel geführt werden können, dafür sorgt nicht zuletzt die in der Kaiserchronik praktizierte Engführung

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