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und die Überordnung Lucretias über seine Gemahlin nicht nur generell zurückweist, sondern zudem mit dem Verweis auf eine im Vergleich höhere Abstammung der Königin begründet, die, ästhetisch wie ethisch verbürgt, mit Hilfe vieler tüchtiger Männer bezeugt werden könne. Doch auch durch diese Engführung von geburtsständischer Qualität und auf äußere wie innere Vollkommenheit gründenden Vorzügen vermag der König seine Deutungshoheit nicht zu sichern, da sein Gegenüber sich im nächsten Schritt mit der bemerkenswerten Aussage vernehmen lässt, er beuge sich lediglich aus politischer Klugheit dem königlichen Urteil (vgl. V. 4456-4458); damit ist dessen Wahrheitsgehalt in Frage gestellt. Die verbale Auflehnung gipfelt in dem Satz: wærestû aver niht alles rîches hêrre, / so beredet ih iz noh vil verre (V. 4459f.). Damit werden die personalen und die transpersonalen Aspekte von Königsherrschaft auseinanderdividiert: Conlatinus erklärt öffentlich, dem König nur deshalb und insoweit folgen zu wollen, als er das rîche verkörpert; die auf persönliche Idoneität gegründete Herrschaft hingegen stellt er infrage. Die daraufhin von Tarquinius offerierte Wette auf die Vorzüglichkeit der beiden Frauen zeigt, dass er die Aussagen des Conlatinus als eine Herausforderung begreift, die nicht unbeantwortet bleiben kann.

      Nimmt man die in dieser Episode praktizierte Sympathielenkung unter die Lupe, ist zum einen hervorzuheben, dass Tarquinius als Herrscher sich Zweifeln an seiner Autorität und Legitimität ausgesetzt sieht, die von seinem – nicht ursprünglich zur römischen Gesellschaft zählenden, sondern von außen, aus der Fremde gekommenen – Fürsten in einer Situation vorgebracht werden, in der er als König nicht nur die Anerkennung römischer Superiorität durchsetzen will, sondern zudem die Interessen ebendieses Fürsten vertritt; der Vorwurf mangelnder Dankbarkeit und triuwe wird zwar nicht direkt ausgesprochen, steht aber im Raum. Allerdings fehlt es keineswegs an einem Gegengewicht auf Seiten Conlatinus’ – nur dass dieses Gegengewicht seine Überzeugungskraft aus einem anderen als dem politischen Diskurs bezieht. Das Erzählen ist nämlich so angelegt, dass das schon in der auf die Einleitung folgenden Episode erwähnte Glück, das Conlatinus in der als Liebesbindung gezeichneten Ehe mit Lucretia erfährt, sein für das weitere Geschehen fatales Lob für seine Frau präludiert (vgl. V. 4339–4346). Indem der Text die Aussagen der Opponenten in unterschiedlichen Werthorizonten verhandelt, stellt er ein Gleichgewicht zwischen beiden her. Diese Konstruktion blockiert zunächst die Möglichkeit, in Tarquinius den von superbia beherrschten Tyrannen zu sehen, als welcher er in der Einleitung der ‚Vita‘ eingeführt und angekündigt wurde.

      Als einwandfrei erscheint das Verhalten des Königs auch bei der Rückkehr aus Rom, nachdem er dort gemeinsam mit dem Trierer die Lebensweise und das Verhalten der beiden Ehefrauen in Augenschein genommen hat. Obwohl das Ergebnis des Vergleichs der beiden Frauen für die Königin und mithin für ihn selbst negativ ist, löst Tarquinius sein beim Abschluss der Wette gegebenes Versprechen ein, die wârhait (V. 4467) ohne jegliches Zürnen anzuerkennen; vor seinen Fürsten erklärt er Conlatinus zum ehrenvollen Sieger und findet überdies glorifizierende Worte für Lucretia (vgl. V. 4553–4562). Der kunic rîche, wie der Erzähler ihn noch in V. 4522 nennt, steht also zu seinem Wort. Gleichzeitig zeigt der Text einen König, der die erfahrene Schmach als Kränkung empfindet und den die Erinnerung an sîn altez wette (V. 4646) auch nach einer ganzen Weile nachts nicht zur Ruhe kommen lässt; die entsprechende Passage (vgl. V. 4645–4649) konterkariert Tarquinius’ bei Abschluss der Wette formulierte Behauptung, einer Zurücksetzung mit Gleichmut begegnen zu wollen (vgl. V. 4467f.), und entlarvt sie als Selbsttäuschung. Allerdings richtet der König seinen Zorn nicht gegen Conlatinus, sondern gegen die Königin, der er den ungastlichen nächtlichen Empfang vorhält. Als diese, über die Frauenwette nachträglich in Kenntnis gesetzt, auf eine Wiederherstellung ihres Ansehens drängt, stellt der König sich sogar explizit vor seinen Fürsten und dessen Ehefrau und erscheint so als Wahrer des Rechts:

       Der kunic ir antwurte:

       ‚dû tuost im zewâre unreht:

       er ist des lîbes ain guot kneht;

       diu frowe ist ain frumec wîp,

      zewiu solt ih ir verderben den lîp?‘ (V. 4662–4666).

      Zum rex iniustus wird Tarquinius erst in dem Moment, in dem er sich zum willigen Erfüllungsgehilfen seiner Frau machen lässt und die ihm zugedachte Rolle in ihrem perfiden Plan zur Schändung Lucretias übernimmt. Dass die Idee und auch die Einzelheiten dieses Plans der Königin als einer im Vergleich zu den Stoffgestaltungen bei Livius und bei Ovid neu eingeführten Figur zugewiesen werden,6 mag mit Blick auf das Bild des Königs wie eine Entlastungsstrategie wirken. Andererseits will bedacht sein, dass in der Kaiserchronik, anders als bei Livius und bei Ovid, nicht mehr der Königssohn Sextus Tarquinius agiert, sondern – in Übereinstimmung mit der Gesamtanlage des Textes – der König selbst. Was ihn korrumpierbar macht, was zu seiner Absetzung durch den römischen Senat und schließlich zu seiner Ermordung führt, wird dabei klar benannt: Es ist sein geschlechtliches Verlangen, sein Bedürfnis nach dem Verkehr mit der eigenen Ehefrau und sein Begehren nach Lucretia, der Frau seines wichtigsten Fürsten.

      Innerhalb des durch Einleitungs- und Schlusspassagen auf den König fokussierten Rahmens folgt der erzählerische Bogen der Figur des Fürsten Conlatinus. Mit einem Rückblick auf sein früheres Leben in Trier hebt die Erzählung an, und mit einem unbestimmten Ausblick auf sein weiteres Dasein als Flüchtling klingt sie aus. Eingeführt wird Conlatinus als [a]in furste (V. 4305). Noch bevor sein Name fällt, hebt die Erzählung Trier als denjenigen Ort hervor, an dem der als rîter vil gemait (V. 4309) charakterisierte Fürst einst gelebt hat. Erscheint die Prolepse auf seine spätere, für beide im Unglück endende Verbundenheit zu König Tarquinius noch als Bemühen, die Figur des Königs im Interesse narrativer Kohärenz präsent zu halten (vgl. V. 4306–4308), verschiebt sich das Erzählinteresse bereits nach wenigen Versen ganz eindeutig zu Conlatinus hin, hin zu seinem Totschlag an einem anderen Trierer Fürsten, der für seine Flucht aus der Stadt ursächlich war. Hintergründe des Vorfalls bleiben ausgespart. Umso auffälliger erscheint der Umstand, dass der Erzähler Conlatinus’ Tat als Folge eines verfehlten Handelns eines ebenfalls nicht weiter konkretisierten Trierer Kollektivs einstuft (vgl. V. 4310–4313, besonders V. 4310: Trierære tâten im sô grôziu lait). Im Urteil des Erzählers ist der tötende Conlatinus der helt vil guot (V. 4311) – die Übeltäter sind die anderen. Es wird sodann von dem Wirken des Fürsten an seinem Zufluchtsort Rom berichtet, an dem er freundlich und zuvorkommend aufgenommen wird, von einem auf persönliche Tapferkeit und ruhmreichen Waffendienst gründenden Aufstieg, welcher schließlich in eine Integration des Nicht-Römers in die römische Gesellschaft durch eine vom Senat befürwortete Vermählung mit der Römerin Lucretia mündet. Die politische Dimension dieser Heirat (Bindung des Exulanten an das römische Gemeinwesen; Konsolidierung von Conlatinus’ zunächst prekärer Position) kleidet der Text in die Rede von den grôzen êren, die die Römer dem ellenthaften entgegenbringen möchten (vgl. V. 4323f.), sowie in die Mitteilung, dass […] die snellen / erwelten in selben ze gesellen (V. 4325f.). Zur Seite gestellt wird dem politischen Aspekt der Verbindung zwischen Conlatinus und Lucretia indes noch eine andere Betrachtungsweise, die auf das Lebensglück abhebt, das beide in ihrer Ehe finden. Auf dieser Doppelperspektivierung beruht die weitere Konstruktion der Handlung ganz erheblich; sie ist es, die dem nachfolgenden Erzählen Kohärenz verleiht.

      Die darauf folgenden Viterbo-Passagen7 nuancieren das bis dahin gezeichnete Bild der Figur. Die erste installiert Conlatinus als Ereignisträger, dem die Erzählung folgt. Sie modelliert ihn als jemanden, der die Anziehungskraft von Ritterspielen und von einem kultivierten Umgang mit höfischen Damen verspürt – beides Momente, die Viterbo ein Profil verleihen – und infolgedessen in der Stadt haimlîch wird (V. 4359). Dabei wahrt der Passus den Zusammenhang mit dem zuvor Erzählten, indem er Conlatinus um ein Haar zum Opfer eines von den hêrren von Triere (V. 4358) eingefädelten Mordanschlags werden lässt. Von einem kurzen in Rom lokalisierten Zwischenspiel unterbrochen, entfaltet die Passage sodann das Szenario der für beide Seiten verlustreichen Belagerung Viterbos durch die Römer. Das zunächst in Verbindung mit Viterbo erwähnte Element höfisch-kultivierter Geselligkeit weicht jetzt einer Vergegenwärtigung kriegerischer Kampfhandlungen, bei der sich die Möglichkeit

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