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Sprung, tausendmal geübt… im Grunde eine Leichtigkeit für eine so erstklassige Tänzerin, wie sie es gewesen war. Und doch war ihr dieser Sprung zum Verhängnis geworden.

      »Ich landete völlig falsch«, erzählte sie leise. »Im gleichen Moment spürte ich den stechenden Schmerz und hörte dieses gräßliche Knirschen. Ich wußte sofort, daß etwas Fürchterliches passiert war.«

      Wieder hörte sie ihren eigenen Aufschrei, sah die Ballettmeisterin, die sich mit besorgtem Gesicht über sie beugte, und fühlte die aufsteigende Übelkeit, die von den Schmerzen und ihrer Angst herrührte.

      »Madame Deneuve hat einen Arzt gerufen… ich kam ins Krankenhaus.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie ihr langes, dunkelblondes Haar zu-rück. »Es war eine kleine Klinik… schmutzig und unordentlich… und der Arzt sagte, das Fußgelenk sei kaputt. Ich bekam einen Gipsverband.«

      Mit Grauen erinnerte sie sich an die Wochen im Krankenhaus und an die unerträglichen Schmerzen, die auch mit dem Abnehmen des Gipsverbandes nicht besser geworden waren… und an die Worte des Arztes: »Mit diesen Schmerzen werden Sie von nun an leben müssen.«

      »Es gab in meinem weiteren Leben keine Minute mehr ohne den bohrenden Schmerz in meinem Fußgelenk«, fuhr sie leise fort. »Irgendwann versuchte ich dann, ihn zu ignorieren… ich sagte mir, diese Schmerzen seien die Strafe für meinen Fuß, weil er meine Karriere zerstört hatte. Das machte es leichter. Doch dann kamen die Krankheiten, die Erstickungsanfälle, das Herzrasen und die Schmerzen, die sich einmal auf den Magen, dann auf die Nieren oder auf den Kopf legten.« Sie schwieg einen Moment. »Dr. Breuer, der Chefarzt des Kreiskrankenhauses, hat sich anfangs sehr um mich bemüht, aber mit der Zeit…« Sie zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hielt er mich für eine Simulantin.« Eindringlich sah sie Raimund an. »Aber ich habe nicht simuliert. Die Schmerzen waren wirklich da… und die Atemnot… und das Herzrasen. Ich bin eine kranke Frau, und daran wird sich nie mehr etwas ändern.«

      *

      Raimund Brunner war zutiefst erschüttert über das, was Svenja ihm erzählt hatte, und seine Entschlossenheit, ihr zu helfen, wuchs schier ins Grenzenlose. Doch es war nicht nur Mitleid, das ihn bewegte, sondern ein Gefühl, das viel tiefer ging. Er wußte längst, daß er sich in diese unglückliche junge Frau verliebt hatte – und zwar nicht erst jetzt. Die Liebe zu Svenja hatte begonnen, als er sie zum ersten Mal im Theater gesehen hatte, und obwohl sie mit dem fünfzehnjährigen Mädchen von damals nicht mehr viel gemeinsam hatte, war sein Gefühl für sie geblieben… nein, seit er sie wirklich kannte, war es noch viel stärker geworden. Es war eine so bedingungslose Liebe, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Für Svenja würde er jederzeit durch die Hölle gehen. Und dieser Sturm der Gefühle, der in seinem Herzen tobte, machte ihm ein wenig Angst. Irgendwann würde Svenja die Waldsee-Klinik wieder verlassen, während er seiner Arbeit und seinen Patienten zuliebe zurückbleiben mußte, und er wußte, daß er dann an der Sehnsucht nach Svenja zugrunde gehen würde.

      Gewaltsam schüttelte er diese Gedanken ab. Noch war es schließlich nicht soweit. Noch war Svenja hier. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Sie wartete jetzt sicher schon auf ihn.

      Svenja Birkert wartete tat-sächlich schon, und Raimund spürte, daß sie der Krankengymnastik seit dem langen Gespräch am Waldsee nun sehr viel aufgeschlossener gegenüberstand. Sie gab es weder vor ihm noch vor sich selbst zu, aber Raimund hatte zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren wieder so etwas wie Hoffnung in ihr geweckt. Ein

      Leben ohne den ständigen Schmerz… es wäre zu schön, um wahr zu sein.

      »Das mit deinem Fußgelenk bekommen wir schon hin – vorausgesetzt, du arbeitest auch dabei mit.«

      Immer wieder klangen diese Worte, die Raimund gesagt hatte, in ihr nach. Und sie arbeitete mit, sie arbeitete mit der gleichen Verbissenheit, mit der sie einst getanzt hatte.

      Schon sehr viel früher als die Ärzte der Waldsee-Klinik gerechnet hatten, wagte sie die ersten Schritte auf dem Flur, und dabei hinkte sie kaum noch.

      »Guten Tag, Frau Birkert.«

      Svenja drehte sich um und sah direkt in Dr. Daniels lächelndes Gesicht.

      »Seit wann sind Sie denn schon auf den Beinen?« wollte er wissen und griff impulsiv an ihren Arm, dabei brauchte Svenja gar keine Stütze mehr.

      »Heute das erste Mal«, erklärte sie stolz, dann glitt ein glückliches Leuchten über ihr Gesicht. »Ich habe kaum noch Schmerzen.«

      »Das freut mich zu hören«, erwiderte Dr. Daniel und bestaunte insgeheim das Wunder, das Raimund Brunner an Svenja bewirkt hatte.

      »Ich freue mich, daß Sie Ihren Lebensmut offenbar wiedergefunden haben«, sagte Dr. Daniel aus diesen Gedanken heraus mit einem warmherzigen Lächeln.

      »Lebensmut«, wiederholte Svenja leise und wurde dabei wieder ernst. »Ich weiß nicht so recht, Herr Doktor. Wenn ich wieder tanzen könnte, aber so…«

      Mit einer väterlichen Geste ergriff Dr. Daniel Svenjas Hände. »Ich weiß von Ihrer Mutter, wieviel Ihnen das Ballett bedeutet hat, aber glauben Sie mir, das Leben hat noch eine ganze Menge mehr zu bieten.«

      »Das sagt Raimund auch«, meinte Svenja, dann sah sie Dr. Daniel aufmerksam an. »Sie sind nicht nur Arzt geworden, um Geld zu verdienen, nicht wahr?«

      Dr. Daniel nickte. »Richtig. Ich bin Arzt aus Leidenschaft, und ein schwerkranker Patient ist für mich tausendmal schlimmer als eine unbezahlte Rechnung.«

      »Das dachte ich mir. Und nun stellen Sie sich vor, Sie könnten aus irgendeinem Grund nicht mehr als Arzt tätig sein. Hätten Sie da noch Lebensmut?«

      Dr. Daniel mußte sich eingestehen, daß er die Sache aus diesem Blickwinkel noch nicht betrachtet hatte.

      »Sie haben recht«, erklärte er. »Es wäre durchaus möglich, daß auch ich meinen Lebensmut verlieren würde.«

      Da lächelte Svenja. »Wissen Sie eigentlich, wie gut es tut, von Ihnen immer eine ehrliche Antwort zu bekommen? Ich bin inzwischen sehr froh, daß Dr. Breuer mich in die Waldsee-Klinik überwiesen hat. Die Ärzte und Schwestern sind so nett zu mir, dabei habe ich es ihnen allen gerade anfangs äußerst schwer gemacht, und auch jetzt habe ich immer noch ziemliche Tiefs, die zu Herz- und Atembeschwerden führen. Trotzdem wurde noch nie jemand ungeduldig mit mir, und Sie sind sowieso ein Arzt wie aus dem Bilderbuch.«

      Dr. Daniel errötete bei diesem Lob ein wenig, dann tätschelte er ihre Hand. »Es ist schön, so etwas gesagt zu bekommen, obwohl ich mich selbst eigentlich nicht so sehe, wie Sie es ausgedrückt haben. Schließlich ist es meine Pflicht als Arzt, den Menschen, die sich mir anvertrauen, zu helfen.«

      »Sie tun sehr viel mehr als das, und ich wünschte, ich wäre Ihnen schon vor Jahren begegnet… oder hierher in diese wundervolle Klinik gekommen. Ich glaube, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen.«

      »Vieles läßt sich jetzt noch nachholen«, meinte Dr. Daniel.

      Da senkte Svenja den Kopf.

      »Ja, vielleicht«, murmelte sie. »Hier in der Klinik fühle ich mich so sicher… geborgen, aber wenn ich erst wieder draußen bin…« Sie zuckte die Schultern. »Manchmal denke ich, ich werde nie darüber hinwegkommen…«

      Dr. Daniel wußte genau, wovon sie sprach. »Doch, Frau Birkert, Sie werden darüber hinwegkommen. Sie werden erkennen, wieviel Schönes das Leben noch zu bieten hat – auch wenn man kein Star mehr ist.«

      *

      »Sag mal, Robert, du bist ja schon wieder hier«, stellte Dr. Metzler überrascht fest, dann grinste er. »Hast du deine Praxis vorübergehend geschlossen?«

      Dr. Daniel seufzte. »Wenn ich das nur könnte.« Mit einer flüchtigen Handbewegung fuhr er sich durch das dichte blonde Haar. »Allmählich wächst mir tatsächlich alles ein bißchen über den Kopf, aber was soll ich tun? Frau Rauh hat die seelische Unterstützung, die ich ihr neben meiner gynäkologischen Tätigkeit bieten kann, bitter nötig. Ich glaube, wir verdanken es überwiegend den Entspannungs-übungen mit Herrn Brunner und den Gesprächen,

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