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als müsse sie einen Wettbewerb im Zeitungsblättern gewinnen. Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. In ihrem Kopf schien etwas zu explodieren.

      Wie gebannt starrte sie auf das Bild einer jungen, hübschen Ballettänzerin, die sich grazös auf die Fußspitzen gehoben hatte. Svenjas Blick überflog die wenigen Zeilen unter dem Bild.

      Den großen Solopart wird Melanie Cordes übernehmen. Kritiker vergleichen ihre herausragenden Leistungen mit denen von Svenja Birkert, einer Tänzerin, die vor Jahren einmal sehr berühmt gewesen ist, deren Name heute aber höchstens in Ballettkreisen noch ein Begriff ist.

      Svenja schleuderte die Zeitung zu Boden, dann vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und begann verzweifelt zu schluchzen. Seit Jahren hatte sie keine Zeitung mehr angeschaut, aber ausgerechnet heute…

      Plötzlich fuhren Svenjas Hände an ihren Hals. Keuchend rang sie nach Atem. Ihre zitternden Finger fanden den Knopf, mit dem sie die Schwester alarmieren konnte. Es dauerte keine Minute, bis Bianca Behrens, die Stationsschwester der Gynäkologie, hereinkam und die Lage mit einem Blick erfaßte.

      Mit raschen, geübten Handgriffen legte sie der Patientin eine Sauerstoffmaske an, dann informierte sie Dr. Metzler und Dr. Daniel. Der Chefarzt war innerhalb weniger Augenblicke zur Stelle, bei Dr. Daniel dauerte es kaum mehr als zehn Minuten, und ihm gelang, was Dr. Metzler zuvor vergeblich versucht hatte. Svenja beruhigte sich und konnte auch ohne Sauerstoffmaske wieder normal atmen.

      »Was ist denn geschehen, Frau Birkert?« wollte Dr. Daniel wissen, als er mit der jungen Frau allein war.

      Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Es war… nichts.«

      Doch Dr. Daniel entging die am Boden liegende Zeitung nicht, und obwohl er von dem Bild, das Svenja zuletzt angeschaut hatte, nur einen Teil sehen konnte, wußte er, daß die abgebildete Ballettänzerin Svenjas plötzliche Atemnot ausgelöst haben mußte.

      »Was ist passiert?«

      Mit dieser bangen Frage stürzte Raimund Brunner ins Zimmer. Er hatte die offene Tür gesehen und auch die kaum merkliche Hektik noch gespürt, die Svenjas Erstickungsanfall auf der Station hervorgerufen hatte.

      Wenn sich Dr. Daniel über Raimunds allzu deutliche Besorgnis wunderte, so verstand er es geschickt zu verbergen.

      »Es ist wieder alles in Ordnung«, erklärte er. »Frau Birkert litt unter plötzlicher Atemnot.«

      »Ich habe das sehr oft«, gestand Svenja flüsternd ein.

      Raimund sah zuerst sie, dann Dr. Daniel an, und plötzlich fiel sein Blick auf die am Boden liegende Zeitung. Er bückte sich und hob sie auf. Das Bild der Ballettänzerin sprang ihn förmlich an. Er las den Text, bevor er die Zeitung umdrehte und sie Svenja zeigte.

      »Deswegen?«

      Abrupt wandte sie den Blick ab, und Dr. Daniel war bereits versucht dazwischenzugehen. Er war kein Psychiater, daher wußte er nicht, ob es richtig war, Svenja gegen ihren Willen mit dem Ballett zu konfrontieren. Andererseits war es vielleicht nötig, sie zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Problem zu zwingen, und das war auch der Grund, weshalb Dr. Daniel zögerte. Er wollte erst mal abwarten, was nun geschehen würde.

      »Die schreiben über mich, als wäre ich tot!« begehrte Svenja auf. »Und für dich bin ich wohl auch tot!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und setzte leise hinzu: »Für die bin ich längst tot und begraben.«

      Mit einer heftigen Handbewegung schleuderte Raimund die Zeitung beiseite.

      »Du bist nicht tot!« erklärte er eindringlich. »Du bist am Leben!«

      Dr. Daniel spürte, daß er hier nicht mehr gebraucht wurde. Zwischen diesen beiden Menschen gab es eine Bindung, und Dr. Daniel vermutete, daß es die Liebe zum Ballett war, die sie verursacht hatte. Raimund würde Svenja mit Sicherheit mehr helfen können als jeder Arzt.

      Svenja brach in Tränen aus, was Dr. Daniel an der Tür noch einmal innehalten ließ. Er drehte sich um und sah, wie sich Raimund zu ihr aufs Bett setzte und sie tröstend in die Arme nahm. Leise verließ Dr. Daniel das Zimmer. Raimund und Svenja bemerkten es überhaupt nicht.

      »Am Leben, ja«, schluchzte Svenja. »Aber was ist das für ein Leben… ohne Ballett…«

      »Das Leben besteht nicht nur aus Tanz«, entgegnete Raimund mit sanfter Stimme, dann suchte er Svenjas Blick. »Du bist noch so jung…«

      Doch Svenja schüttelte den Kopf. »Mit dreißig ist man nicht mehr jung… jedenfalls nicht mehr jung genug.«

      »Für das Ballett«, fügte Raimund hinzu, weil er genau wußte, woran Svenja bei ihren letzten Worten gedacht hatte. »Du hast recht«, fuhr er dann fort. »Für das Ballett bist du nicht mehr jung genug, aber alles andere liegt doch noch vor dir.« Er schwieg einen Moment. »Tanzen kann man nicht nur im Ballett, sondern auch… mit einem jungen Mann.«

      Svenja schüttelte wieder den Kopf »Mein Fußgelenk ist kaputt. Jeder Schritt tut mir weh…« Sie errötete, weil sie gerade etwas eingestanden hatte, was sie bis jetzt immer verschwiegen hatte.

      »Das mit deinem Fußgelenk bekommen wir schon wieder hin – vorausgesetzt, du arbeitest mit«, erwiderte Raimund ernst. »Du wurdest hier operiert, und wenn wir beide ganz gezielt Krankengymnastik betreiben, dann…«

      Svenja winkte ab. »Nichts und niemand kann mir das wiedergeben, was ich damals verloren habe. Was bin ich denn noch wert? Früher einmal war ich ein Star, doch jetzt… jetzt bin ich vergessen. Keiner will mehr etwas mit mir zu tun haben.«

      Da nahm Robert sie fest bei den Schultern und schüttelte sie sanft. »Bin ich denn niemand?«

      »Ach, du! Du tust doch nur deine Arbeit!«

      »Wenn das wirklich so wäre, glaubst du, dann würde ich mir die Mühe machen, mit dir zu sprechen… dich von der Notwendigkeit der Gymnastik zu überzeugen? Ich habe es dir vorhin schon gesagt. Das ganze Leben liegt noch vor dir!«

      »Leben!« Svenja spuckte das Wort förmlich aus. »Die letzten zehn Jahre meines Lebens habe ich mehr in Krankenhäusern verbracht als zu Hause, weil ich ständig diese Erstickungsanfälle hatte. Aber das war ja nicht das einzige… ich bin genau das, was man kränklich nennt. Gleichgültig, welche Krankheit irgendwo kursiert – ich bekomme sie bestimmt.«

      Raimund schüttelte den Kopf. »Du bist nicht kränklich, Svenja. Das redest du dir nur ein, weil du Angst vor deinem Leben hast… einem Leben ohne Ballett. Du warst als Tänzerin so gut, daß du Angst hast, bei etwas anderem im Vergleich dazu zu versagen.«

      Svenja senkte den Kopf. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß Raimund recht hatte, doch instinktiv spürte sie, daß ihre Angst die Ursache für die vielen Krankheiten der letzten Jahre gewesen war.

      Entschlossen stand Raimund auf, schlug Svenjas Bettdecke zurück und nahm sie kurzerhand auf seine starken Arme.

      »So, Svenja, jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang«, erklärte er, und noch bevor die junge Frau protestieren konnte, hatte er sie schon in den Rollstuhl gesetzt, den sie im Moment wegen ihres frisch operierten Fußgelenks benutzen mußte, dann legte er ihr eine Decke um die Beine und hielt ihr eine Jacke hin, damit sie nur noch hineinzuschlüpfen brauchte.

      Ohne weiteren Kommentar schob er sie den Gang entlang bis zum Lift und verließ die Klinik dann durch den rückwärtigen Ausgang, der in den Klinikpark führte. Jetzt, im Herbst, blühten nur noch vereinzelte Blumen, doch im Frühling und Sommer glich die Wiese einem bunten Teppich. Schmale Wege schlängelten sich bis zum glasklaren, von hohen Tannen umrahmten Waldsee hinunter, und dorthin brachte Raimund die junge Frau.

      »Tief einatmen, Svenja!« befahl er. »Spürst du diesen herben Duft der Tannen? Fühlst du den sanften Wind im Gesicht? Das ist das Leben… das wirkliche Leben.« Er drehte den Rollstuhl herum, dann ging er vor Svenja in die Hocke und sah ihr tief in die Augen. »Und jetzt erzähl. Erzähl mir alles.«

      Tränen schossen in ihre schönen großen Augen, der Schmerz von damals wurde an die Oberfläche geschwemmt und drohte ihr nun

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