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Nähe.«

      Rosalinde nickte unter Tränen. »Ich werde tun, was Sie für richtig halten, Herr Doktor.«

      *

      Mit langsamen, schleppenden Schritten ging Martina nach Hause. Der Unterricht war heute sehr beschwerlich gewesen. Sie hatte sich kaum konzentrieren können, und nur der Gedanke, daß es ihr letztes Schuljahr war, gab ihr ein wenig Mut.

      Als Martina das Gartentor öffnete, sah sie Dr. Daniels Auto neben dem niedrigen Jägerzaun stehen, doch sie maß dem nicht weitere Bedeutung bei. Sie schloß die Haustür auf und betrat den Flur.

      »Oma?« rief sie, obwohl es ihr im Grunde gleichgültig war, ob die Großmutter zu Hause sein würde oder nicht. Seit sie nicht mehr aß, war ihr so ziemlich alles gleichgültig geworden – mittlerweile sogar Jan. Er liebte sie ohnehin nicht, auch wenn sie sich ständig etwas anderes einzureden versuchte. Ebensowenig wollte sie sich eingestehen, daß ihr Herz in Jans Gegenwart längst nicht mehr so heftig klopfte. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, sie wäre zu gar keiner Liebe mehr fähig. Ihr Herz schlug zwar noch, aber es war kein Gefühl darin. Es wirkte wie ein verschlossenes Tor, für das niemand einen Schlüssel besaß. Ihr ganzes Fühlen und Sehnen lag nur noch in ihrem Magen… einem ewig hungrigen Magen, dessen Forderungen sie nicht erfüllen durfte, weil sie noch immer zu dick war. Sie mußte unbedingt abnehmen.

      Allein dieser Gedanke weckte schon wieder ihren Heißhunger… und das schlechte Gewissen. Sie war schwach. Sie schaffte es nicht, ihrem Körper die Nahrung zu entziehen. Er verlangte immer mehr, und wenn sie sich ihrer Schwäche hingab, wurde alles noch viel schlimmer. Dann mußte sie auf die Toilette…

      Jetzt stürzte ihre Großmutter auf den Flur. Martina bemerkte ihr entsetzlich blasses Gesicht, doch sie hatte das Interesse an ihren Mitmenschen längst verloren. In ihrem Kopf drehte sich alles ums Essen und Abnehmen.

      »Sag dem Doktor, daß es nicht wahr ist!« stieß Rosalinde Greiff hervor. »Komm, Martina, du mußt sagen, daß du gesund bist.«

      Das junge Mädchen erschrak zutiefst. Und dann stand Dr. Daniel plötzlich im Türrahmen.

      Er weiß alles, durchzuckte es Martina. In diesem Augenblick gab es in ihrem Kopf nur noch einen Gedanken: Flucht!

      Sie fuhr herum, riß die Tür auf und rannte hinaus.

      »Martina! Bleib hier!« hörte sie Dr. Daniels Stimme, doch sie konnte nicht aufhören zu laufen. Vor ihren Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen, ihre Beine wurden bleischwer, sie lief wie auf Watte. Dann fühlte sie den Schmerz, als sie gegen etwas Hartes stieß, doch sie lief einfach weiter. Ihre Beine brannten, und um sie herum war alles dunkel, aber sie lief immer weiter, bis sich ihre Beine nicht mehr bewegten und sie in ein tiefes,

      dunkles Loch stürzte.

      *

      »Oh, mein Gott«, stöhnte Rosalinde Greiff, als sie sah, wie ihre Enkelin zu Boden stürzte, sich auf dem harten Asphalt wälzte und mit Armen und Beinen um sich schlug. Dann erlahmten ihre Bewegungen, und sie lag plötzlich ganz still da.

      In diesem Moment erreichte Dr. Daniel das junge Mädchen und nahm es kurzerhand auf die Arme, um es zum Haus zurückzutragen. Es war leider alles völlig anders gelaufen als geplant. Rosalinde Greiff hatte ihm fest versprochen, zu warten, bis Martina das Wohnzimmer betreten würde, doch dann war sie plötzlich doch aufgesprungen und nach draußen gelaufen. Für Dr. Daniel hatte es keine Chance gegeben, sie zurückzuhalten, ebensowenig wie er Martina noch rechtzeitig hatte erreichen können. Trotzdem machte er sich den Vorwurf, daß er mit dieser Entwicklung der Dinge eigentlich hätte rechnen müssen.

      Inzwischen hatte er das Haus wieder erreicht und Martina auf dem Boden vorsichtig in eine stabile Seitenlage gebracht. Mit Hilfe einiger Kissen lagerte er jetzt ihre aufgeschürften, blutenden Beine hoch.

      »Rufen Sie in der Waldsee-Klinik an«, bat er Rosalinde Greiff, doch sie schien zu keiner Bewegung fähig zu sein. Völlig verstört starrte sie ihre bewußtlose Enkelin an.

      Dr. Daniel mußte selbst zum Telefon eilen. Es wurde ein kurzes Gespräch, und kaum zwei Minuten später stand der angeforderte Krankenwagen auch schon vor der Tür. Die Sanitäter schoben die Trage mit Martina gerade hinein, als das junge Mädchen aufwachte. Im nächsten Moment begann sie zu strampeln und zu schreien.

      »Ruhig, Martina, ganz ruhig«, versuchte Dr. Daniel das aufgeregte Mädchen zu besänftigen. »Du hattest einen Kreislaufzusammenbruch, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

      »Nein! Nein!« schrie Martina und versuchte, von der Trage herunterzukommen, doch das ging nicht, weil sie angeschnallt war. »Ich will hier raus! Ich will sofort raus!«

      »Beruhige dich, Martina«, bat Dr. Daniel noch einmal, doch nicht einmal seine tiefe, warme Stimme zeigte Erfolg. Mit beiden Händen umfaßte er das Gesicht des Mädchens und hielt es auf diese Weise ruhig. »Du hast dich verletzt. Deine Wunden müssen versorgt werden, und dann müssen wir versuchen, deinen Kreislauf zu stabilisieren. Das ist alles. Also bitte, Kind, beruhige dich.«

      Doch Martina befand sich in einem Stadium, in dem sie Argumenten bereits nicht mehr zugänglich war.

      »Sie wollen mich mit Essen vollstopfen!« schrie sie hysterisch. »Sie wollen, daß ich wieder dick werde!«

      Dr. Daniel sah ein, daß hier mit Reden nichts zu machen war. Gewissenhaft zog er eine Spritze auf und injizierte sie rasch und geschickt. Das Beruhigungsmittel wirkte schnell und ließ Martinas Widerstand erlahmen.

      In diesem Moment hielt der Krankenwagen mit einem Ruck an, die Türen wurden aufgerissen, dann holten die Sanitäter die fahrbare Trage heraus und brachten Martina in die Notaufnahme. Hier wartete bereits der Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler.

      »Robert, was ist denn da passiert?« fragte er. »Verkehrsunfall?«

      Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Sie hatte einen Kreislaufzusammenbruch.« Er sah Dr. Metzler ernst an. »Ich fürchte, daß sie magersüchtig ist, möglicherweise handelt es sich auch um Bulimie.«

      »Das werden wir gleich feststellen«, meinte Dr. Metzler, dann beugte er sich über Martina. Sie sah ihn an, schien aber nicht wahrzunehmen, was um sie herum vorging.

      »Ich mußte sie ruhigstellen.«

      Dr. Metzler nickte, dann griff er nach dem Metallspatel.

      »Mach mal deinen Mund auf, Mädchen«, bat er, doch Martina reagierte gar nicht. Vorsichtig schob Dr. Metzler den Spatel zwischen die leicht geöffneten Lippen und drückte die Zunge ein wenig nach unten. Martina mußte würgen und öffnete dabei den Mund so weit, daß Dr. Metzler einen guten Einblick bekam.

      »Meine Güte«, murmelte er, dann richtete er sich auf und sah Dr. Daniel an. »Der Rachen ist stark entzündet, und die Backenzähne sind bereits angegriffen. Sie muß sich in den vergangenen Wochen sehr oft übergeben haben.«

      »Mit Sicherheit«, stimmte Dr. Daniel zu, überlegte kurz und meinte dann: »Es wird wohl am besten sein, wenn du erst mal versuchst, den Kreislauf zu stabilisieren. Ich hole in der Zwischenzeit von Frau Greiff die Einwilligung zur künstlichen Ernährung.«

      Dr. Metzler nickte. »Die ist auch dringend nötig.« Er betrachtete das abgemagerte Mädchen. »Was geht in einem solchen Kind nur vor?«

      »Sie ist wegen ihrer Körperfülle immer gehänselt worden, kein Junge hat sich für sie interessiert, und Diäten hat sie nicht durchgehalten.« Sanft streichelte Dr. Daniel über Martinas Haare, die merklich dünner geworden waren und allen Glanz verloren hatten. »Ich hielt sie eigentlich für sehr gefestigt, dabei muß sie in Wirklichkeit schrecklich unsicher, vielleicht sogar labil sein… und sehr, sehr unglücklich.«

      *

      Rosalinde Greiff war im Krankenwagen mitgekommen. Entsetzt und verstört hatte sie zugeschaut, wie sich Dr. Daniel und ein anderer Arzt um ihre Enkelin bemüht hatten. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was da vor wenigen Minuten eigentlich passiert war. Martinas Flucht, ihr Taumeln, und dann der Sturz auf die Straße…

      »Kommen

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