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      »Ich habe noch nicht geschlafen«, entgegnete Dr. Daniel lächelnd, während er den jungen Arzt eintreten ließ.

      Auf seine stumme Aufforderung nahm Dr. Parker Platz, dann kam er gleich zur Sache. »Es geht um ein junges Mädchen, und ich bin ziemlich sicher, daß sie zu Ihrem Patientenkreis gehört. Martina Greiff.«

      »Sie haben recht, Jeff«, nickte Dr. Daniel. »Allerdings verbietet mir die Schweigepflicht, mit Ihnen über Martina zu sprechen.«

      »Das weiß ich. Sie sollen mir auch gar nichts sagen. Vielmehr will ich Ihnen etwas erzählen, und das darf ich in diesem Fall, weil ich nicht als Arzt hier bin, sondern gewissermaßen als Karate-Trainer. Ich beobachtete Martina schon seit ein paar Wochen. Sie hat in rasender Geschwindigkeit abgenommen. Zuerst dachte ich, sie hätte sich für eine dieser Blitzdiäten entschieden, und da ich weiß, daß ein so rascher Gewichtsverlust gerade bei sehr jungen Mädchen zu Kreislaufproblemen führen kann, behielt ich sie ein wenig im Auge. Heute habe ich nun eine sehr erschreckende Entdeckung gemacht.« Er erzählte, was während der Geburtstagsfeier geschehen war. »Zuerst hat sie geleugnet, daß sie sich übergeben hätte, dann erklärte sie, ihr Magen hätte gegen die viele Sahne rebelliert.«

      »Was nicht einmal auszu-schließen ist«, meinte Dr. Daniel.

      »Richtig«, räumte Dr. Parker ein. »Deshalb spreche ich ja auch mit Ihnen. Es ist durchaus möglich, daß sie nach der Diät einfach ausgehungert nach Süßigkeiten war, aber Sie wissen genausogut wie ich, zu welchen Heißhungerattacken es führt, wenn Martina diesen Gang zur Toilette regelmäßig praktizieren sollte.«

      Dr. Daniel erwiderte nicht gleich etwas auf Dr. Parkers Worte. Vielmehr dachte er noch einmal über das Gespräch nach, das er selbst vor knapp zwei Wochen mit Martina geführt hatte. Angesichts Dr. Parkers heutiger Feststellung erschien Martinas Bitte um die Drei-Monats-Spritze nämlich in einem völlig anderen Licht.

      »Sie haben recht, Jeff«, erklärte Dr. Daniel endlich. »Wir sollten Martina im Auge behalten.« Er überlegte einen Moment. »Vielleicht ist es sogar noch besser, wenn ich mal mit ihrer Oma spreche. Möglicherweise ist ihr an ihrer Enkelin eine Veränderung aufgefallen.«

      »Und wenn nicht?«

      »Dann werde ich Martina unter einem Vorwand zu mir bitten«, beschloß Dr. Daniel kurzerhand.

      Dr. Parker nickte, dann stand er seufzend auf. »Hoffentlich irre ich mich.« Er schüttelte den Kopf. »Aber die Art, wie sie Kuchen und Torten wahllos und in entsetzlichen Mengen in sich hineingefuttert hat…«

      »Ich bin froh, daß Sie mit mir darüber gesprochen haben.« Dr. Daniel erhob sich ebenfalls. »Ich denke, es wird unter uns bleiben, wenn ich Ihnen anvertraute, daß ich bei Martinas letztem Besuch hier in der Praxis bereits ein ungutes Gefühl hatte. Sie machte ein paar Äußerungen, die mich irritierten, allerdings gab es für mich keinen Grund, gleich an so etwas zu denken.« Auch er seufzte. »Mal sehen, was ich von Martinas Oma erfahren werde.«

      *

      Rosalinde Greiff war erst Mitte Fünfzig, doch der Kummer um den frühen Tod ihres Mannes und die Sorge um ihre Tochter, die nicht nur ein uneheliches Kind bei ihr zurückgelassen hatte, sondern darüber hinaus auch noch seit Jahren im Ausland lebte und höchstens mal zu Weihnachten etwas von sich hören ließ, hatten sie gebeugt, so daß sie aussah wie eine sehr alte Frau. Als Dr. Daniel das von tiefem Gram zerfurchte Gesicht sah, wäre er in seinem Entschluß beinahe wankend geworden. Konnte er dieser Frau ein erneutes Leid zumuten? Doch es gab kein Zurück – er mußte mit Rosalinde über Martina sprechen. Wenn Dr. Parker mit seinem Verdacht recht hatte, dann mußte Martina schnellstens geholfen werden, bevor sie womöglich in Lebensgefahr geriet.

      »Es tut mir leid, daß ich Sie um die Mittagszeit zu Hause überfalle«, meinte Dr. Daniel, »aber ich muß dringend mit Ihnen sprechen… und das möglichst, bevor Ihre Enkelin aus der Schule kommt.«

      Rosalinde erschrak sichtlich. »Ist mit Martina etwas nicht in Ordnung?«

      »Genau das möchte ich herausfinden, Frau Greiff«, entgegnete Dr. Daniel. »Ist Ihnen an Ihrer Enkelin in letzter Zeit eine Veränderung aufgefallen?«

      »Sie hat ganz schrecklich abgenommen«, antwortete Rosalinde sofort, dann zuckte sie die Schultern. »Aber ich glaube, das wollte sie ja auch. Sie scheint von den anderen Mädchen ihres Alters oft gehänselt worden zu sein.«

      Dr. Daniel nickte. »Wissen Sie, mit welcher Art von Diät Ihre Enkelin abgenommen hat?«

      Rosalinde schüttelte den Kopf. »Eine Weile hat sie ja kaum noch gegessen, aber jetzt… manchmal ißt sie so entsetzlich viel, daß ich denke, ihr müßte übel davon werden.« Sie überlegte einen Moment. »Sie ist auch nicht mehr so ausgeglichen wie früher. Oft wird sie von einer Minute zur anderen richtig zornig und aggressiv.«

      Rosalindes Worte bestätigten Dr. Daniels Verdacht.

      »Frau Greiff, ich fürchte, Ihre Enkelin hat ein ganz schwerwiegendes Problem«, begann er so vorsichtig wie möglich. Er wollte dieser vom Schicksal ohnehin schon so gebeutelten Frau nicht noch mehr Kummer bereiten als unbedingt nötig, andererseits war es gerade in diesem Fall wichtig, daß sie Bescheid wußte. »Ihre Enkelin ist krank… man könnte beinahe sagen, süchtig. Zuerst wollte sie vermutlich einfach nur ein paar Pfund abnehmen, um so zu sein wie die anderen Mädchen ihres Alters. Doch jetzt scheint ihr die Situation völlig entglitten zu sein. Der Gedanke ans Abnehmen ist bei ihr offensichtlich zu einer Zwangsvorstellung geworden.«

      Rosalinde schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, Herr Doktor. Das Kind ißt doch.«

      Dr. Daniel nickte. »Ja, Frau Greiff, sie ißt, aber danach geht sie auf die Toilette und erbricht alles – absichtlich.«

      Rosalinde erbleichte.

      »Nein!« rief sie verzweifelt. »Das glaube ich nicht! So etwas würde Martina niemals tun! Sie ißt doch so gern!«

      »Frau Greiff, Ihre Enkelin muß dringend in ärztliche Behandlung«, erklärte Dr. Daniel und bemühte sich dabei um einen besonders beruhigenden Ton, doch Rosalinde war zu aufgeregt, um es überhaupt wahrzunehmen. Rasch stand Dr. Daniel auf, ging um den Wohnzimmertisch herum und griff nach Rosalindes Hand. »Sie macht es erst seit ein paar Wochen. In einer speziellen Klinik hat sie gute Chancen, wieder gesund zu werden.«

      Noch immer lag tiefste Verzweiflung in Rosalindes Augen. Sie wollte nicht glauben, was Dr. Daniel da sagte, dabei wußte sie doch, daß es die Wahrheit war. Noch nie hatte sich Martina so oft in der Toilette eingeschlossen, wie in den vergangenen Wochen… meistens nach dem Essen.

      In einer speziellen Klinik…

      Rosalinde legte eine Hand vor die Augen und schluchzte auf. »Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit?«

      »Nein, Frau Greiff, leider nicht. Martina muß behandelt werden und zwar so schnell wie möglich. Je mehr Zeit vergeht, um so schwieriger wird es, und um so geringer sind auch die Erfolgsaussichten.«

      Rosalinde nickte, dann sah sie Dr. Daniel ratlos an. »Wie soll ich mich Martina gegenüber denn jetzt nur verhalten? Ich kann doch nicht einfach so tun, als wüßte ich von nichts.«

      »Nein, Frau Greiff, das sollen Sie auch gar nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich gerne hierbleiben, bis Ihre Enkelin aus der Schule kommt. Wir könnten dann gemeinsam mit ihr sprechen und sie von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugen. Das wäre nämlich in jedem Fall besser, als wenn man sie dazu zwingen würde, was aufgrund ihres Alters ja immerhin möglich wäre.«

      Verzweifelt vergrub Rosalinde das Gesicht in den Händen. »Das ist alles so schrecklich! O mein Gott…«

      Impulsiv legte Dr. Daniel einen Arm um die bebenden Schultern der Frau, dabei spürte er, daß es für Rosalinde im Moment keinen Trost geben konnte.

      »Ich bitte Sie nur um eines, Frau Greiff«, fuhr er behutsam fort. »Wenn Martina nach Hause kommt, dann lassen Sie sie erst hier hereingehen. Wir müssen das Gespräch möglichst gefühlsam beginnen. Wenn Ihrer Enkelin

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