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wenn er etwas davon erfährt«, prophezeite Karina. »Er wird schon toben, wenn er hört, daß nur ein Sanitäter zum Nachtdienst da war, und wenn er dann noch herauskriegt, daß du diesen einen hast weggehen lassen, dann kannst du dein Testament machen.«

      »Wirst du es ihm sagen?« wollte Stefan wissen.

      »Unsinn«, wehrte Karina ab. »Glaubst du vielleicht, ich würde meinen lieben Bruder in Schwierigkeiten bringen?«

      »Na, siehst du. Und die Wahrscheinlichkeit, daß während dieser Viertelstunde, in der der junge Bertoni weg ist, ein Notfall gemeldet wird, ist nicht sehr wahrscheinlich.«

      »Mögest du recht behalten«, entgegnete Karina nur.

      *

      Blaß und schmal lag Nicole im Gästebett, das Dr. Daniel ihr zur Verfügung gestellt hatte. Ihr Blick schien aus dem Fenster zu gehen, obwohl sie den im letzten Sonnenlicht glitzernden Schnee nicht sehen konnte, ebensowenig wie den mächtigen Kreuzberg, der unmittelbar vor dem Fenster aufragte. Sie bemerkte auch nicht, daß Dr. Daniel in regelmäßigen Abständen nach ihr sah.

      Er machte sich große Sorgen um die junge Frau. Manchmal, wenn sie schlief, lag auf ihrem Gesicht ein glücklicher Ausdruck, doch wenn sie dann erwachte, wirkte sie nur noch trauriger und niedergeschlagener als zuvor.

      »Nicole, kann ich etwas für dich tun?« fragte Dr. Daniel, als er gegen halb zehn Uhr abends noch einmal zu ihr ins Zimmer kam.

      Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. »Manchmal habe ich das Gefühl, als müßte ich aufspringen und zur Klinik laufen… dorthin, wo Mario ist. Aber dann…« Sie schwieg und dachte an Fionas Worte: ›… Mario ist eitel, er will immer wieder hören, wie gut er aussieht. Ich kann es ihm sagen – Sie werden dazu nie in der Lage sein.‹

      Nicole spürte, wie diese Worte immer mehr Kraft über ihren Körper und ihre Seele gewannen.

      Ich werde noch verrückt, dachte sie. Nein, ich bin es schon. Verrückt vor Sehnsucht nach Mario.

      »Ich sollte ihn hassen«, flüsterte sie. »Für das, was ich jetzt durchmache, sollte ich ihn hassen, aber… ich liebe ihn. Ich liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt.«

      »Dann solltest du ihm auch eine Chance geben«, meinte Dr. Daniel. »Konfrontiere ihn mit dem, was diese Frau gesagt hat, und bitte ihn, dir die Wahrheit zu sagen.«

      Nicole senkte den Kopf. »Dazu fehlt mir leider der Mut, Herr Doktor. Was diese Frau gesagt hat, tat weh, aber das alles noch einmal aus Marios Mund hören zu müssen – das wäre mehr, als ich ertragen könnte. Daran würde ich zugrunde gehen.«

      *

      Dr. Daniel hatte das Gästezimmer nach dem Gespräch mit Nicole gerade verlassen, als es an der Haustür klingelte. Rasch lief er die Treppe hinunter und öffnete.

      »Herr Bertoni.« Dr. Daniel war sichtlich überrascht. »Was führt Sie um diese Zeit noch zu mir?«

      »Ihr Sohn hat gesagt… ich meine… ich suche Nicole«, stammelte Mario. »Wissen Sie, wo sie ist?«

      Dr. Daniel zögerte einen Moment, dann ließ er den jungen Mann eintreten und begleitete ihn in die Praxis.

      »Hier können wir uns ungestört unterhalten«, erklärte er. »Ich weiß tatsächlich, wo Nicole ist, aber ohne ihre Einwilligung darf ich Ihnen das natürlich nicht sagen.«

      Mit beiden Händen fuhr sich Mario durch die tiefschwarzen Locken.

      »Ich verstehe das einfach nicht«, seufzte er. »Ich liebe Nicole, und eigentlich dachte ich, sie würde für mich das gleiche fühlen. Vor drei Tagen waren wir noch zusammen und… ich war so glücklich mit ihr. Dann war sie plötzlich verschwunden…« Er zuckte die Schultern. »Ich verstehe das nicht«, wiederholte er.

      Aufmerksam betrachtete Dr. Daniel den jungen Mann. Er hatte nicht den Eindruck, als würde Mario ihm etwas vorspielen. Seine Verzweiflung wirkte echt… ebenso echt wie seine Liebe zu Nicole.

      »Sie haben Nicole also nicht nur aus Mitleid besucht und ihr nicht nur Gefühle vorgespielt. um sie über ihre Blindheit hinwegzutrösten?« fragte er, obwohl er sich die Antwort bereits denken konnte.

      Entsetzt starrte Mario ihn an. »Wie kommen Sie denn auf einen solchen Gedanken? Ich liebe Nicole. Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt… als sie im Krankenwagen lag und wir sie in die Waldsee-Klinik gebracht haben. Sicher, damals wußte ich noch nicht, daß sie blind ist, aber dann… im Klinikpark… ich hätte vor lauter Freude am liebsten einen Luftsprung gemacht, als ich sie so unverhofft wiedersah.« Er schwieg kurz. »Ich gebe offen zu – als ich erfuhr, daß sie blind ist… es war ein Schock für mich, aber dann… dann kam zu meiner Liebe noch grenzenlose Bewunderung hinzu.« Er stand auf und trat direkt vor Dr. Daniel hin. »Herr Doktor, ich kann und will ohne Nicole nicht mehr leben, und notfalls werde ich ganz Steinhausen auf den Kopf stellen, um sie zu finden.«

      Dr. Daniel zögerte einen Moment, dann meinte er: »Warten Sie hier, Herr Bertoni. Ich werde mit Nicole sprechen. Ich kann Ihnen nicht versichern, daß sie Sie sehen will, aber ich werde jedenfalls mein Möglichstes für Sie tun.«

      Für einen Moment dachte Mario an seinen Dienst, doch seine Liebe zu Nicole war stärker… seine Liebe zu ihr und das Bedürfnis mit ihr über ihr seltsames Verschwinden zu sprechen. Er mußte einfach wissen, warum sie das getan hatte… warum sie an seiner Liebe zweifelte, und dabei hoffte er inständig, daß es während seiner Abwesenheit von der Klinik zu keinem Notfall kommen würde.

      *

      Dr. Jeffrey Parker verabschiedete sich an diesem Abend sehr viel früher von seinen Vereinskameraden als sonst, aber er konnte sich jetzt wirklich nicht auf Karate konzentrieren, denn vor seinem geistigen Auge stand immer nur Karinas entsetztes Gesicht. Und ihre harten Worte hallten noch in seinen Ohren nach: »Du hinterhältiger Schuft! Ich will dich nie wieder sehen!«

      Er stieg ins Auto und lehnte mit einem tiefen Seufzer die Stirn gegen das Lenkrad. In den vergangenen Tagen hatte er sich immer wieder gewünscht, er könnte das, was an jenem Tag im Operationssaal passiert war, ungeschehen machen. Was er getan hatte, war falsch gewesen, doch es war nun zu spät, um noch darüber nachzugrübeln, was hätte sein können…

      Noch einmal seufzte Dr. Parker, dann ließ er den Motor an und fuhr langsam los. Es war keine weite Fahrt von hier bis zu seiner kleinen Wohnung in Steinhausen, doch bei den momentan herrschenden Straßenverhältnissen würde sie mehr Zeit in Anspruch nehmen als üblich.

      »Was soll’s?« murmelte sich Dr. Parker zu. »Auf mich wartet ja niemand.« Und das stimmte ihn zum ersten Mal, seit er nach Deutschland gekommen war, richtig traurig. Der Wunsch, es würde jemand zu Hause sein und auf ihn warten, wurde so übermächtig in ihm, daß es beinahe schmerzte. Und er verband diesen Wunsch mit einem ganz bestimmten Gesicht. Doch seine letzte Erinnerung an dieses Gesicht waren nur zornfunkelnde Augen und harte Worte, die ihn mitten ins Herz getroffen hatten.

      Auf der dunklen, schneebedeckten Straße vor ihm tauchte ein schwer mit Holz beladener Sattelschlepper auf. Dr. Parker nahm das Tempo noch mehr zurück, denn an ein Überholen war auf der gewundenen Landstraße ohnehin nicht zu denken. Der Sattelschlepper wurde langsamer, weil es jetzt bergauf ging. Dr. Parker schaltete in den zweiten Gang zurück, dann warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. In fünf Minuten würde er zu Hause sein.

      In diesem Moment hörte er ein eigenartiges Geräusch, das er erst deuten konnte, als einer der vereisten Holzstämme von dem Sattelschlepper herunterrutschte. Obwohl Dr. Parker sofort bremste und auszuweichen versuchte, rammte der Stamm noch den rechten Kotflügel seines Autos. Der Wagen drehte sich halb um die eigene Achse, während ein zweiter Holzstamm das Heckfenster durchschlug und mit solcher Wucht gegen den Fahrersitz prallte, daß Dr. Parker nach vorn geschleudert wurde. Das Lenkrad preßte sich gegen seine Brust,

      und er junge Arzt fühlte noch die schier unerträglichen Schmerzen, als etliche Rippen brachen.

      Unter dem Donnern der herabfallenden Baumstämme liefen vor Dr. Parkers geistigem Auge wie im Zeitraffer Bilder seines Lebens vorbei. Seine Verlobung

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