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gewußt, worüber sie gesprochen hatte.

      Mit einem Ruck warf Nicole die Decke zurück, stand auf und trat an den Kleiderschrank. Hastig zog sie ihren Pyjama aus, schlüpfte in Thermohose und Pulli, warf sich den Anorak über und griff nach ihrem Stock, bevor sie ihr Zimmer verließ.

      »Na, Frau Kortenhagen, machen Sie wieder einen kleinen Spaziergang?« fragte Schwester Bianca, und an ihrer Stimme erkannte Nicole, daß sie lächelte.

      »Ja«, flüsterte sie nur, dann setzte sie hastig ihren Weg fort. Sie wußte nicht, daß Bianca ihr erstaunt nachschaute. Normalerweise war Nicole nicht so kurz angebunden – ganz im Gegenteil. Für ein fröhliche, kleine Plaude-rei konnte man die junge Frau eigentlich immer haben.

      Nicole hatte jetzt die Treppe erreicht und ging in die Eingangshalle hinunter. Sie zögerte kurz, dann verließ sie durch den rückwärtigen Ausgang die Klinik und machte sich auf den Weg zum Waldsee.

      Und erst hier, in der Stille und Einsamkeit der kalten Winterlandschaft, die sie umgab, brach alles aus ihr heraus. Nicole schrie auf wie ein weidwundes Tier, schlug die Hände vors Gesicht und fühlte einen wahren Sturzbach von Tränen aus ihren Augen strömen – aus diesen Augen, die nicht sehen konnten. Zum ersten Mal verfluchte sie ihre Blindheit, verfluchte das Schicksal, das ihr bei der Geburt nur das Augenlicht und nicht gleich das Leben genommen hatte. Was hatte sie nur getan, um so gestraft zu werden – gestraft mit Blindheit und mit dem Mitleid des Mannes, den sie mehr liebte als alles andere auf dieser Welt.

      »Mario«, stöhnte sie auf. »Mario, ich liebe dich doch so sehr.«

      Sie wußte, daß nichts diese Liebe jemals aus ihrem Herzen würde reißen können, nichts – nur der Tod. Ein Tod, der Mario vor ihr und sie selbst von dieser unglücklichen Liebe befreien würde?

      »Mario!«

      Es war ein letztes Aufbäumen, und es klang wie ein Hilfeschrei – ein Hilfeschrei, den niemand hörte…

      *

      »Karinchen, was ist denn nur mit dir los?«

      Die sanfte Stimme ihres Vaters ließ Karina erschrocken hochfahren. Jetzt wischte sie mit einer hastigen Handbewegung über ihre Augen, doch Dr. Daniel sah nur allzu deutlich die Tränenspuren auf ihren Wangen.

      Spontan setzte er sich neben seine Tochter und legte einen Arm um ihre Schultern.

      »Seit du gestern aus der Klinik gekommen bist, bist du ja wie umgewandelt«, meinte er. »Was ist passiert?«

      »Jeff hat mich getäuscht«, erklärte Karina. »Mehr will ich dazu nicht sagen, Papa.«

      Aufmerksam sah Dr. Daniel sie an. »Und das tut so weh?«

      Heftig schüttelte Karina den Kopf. »Nein, es tut überhaupt nicht weh. Ich bin einfach nur wütend, weil ich mich habe reinlegen lassen.«

      Doch ihr Gesicht drückte etwas völlig anderes aus, und Dr. Daniel konnte dies sehr wohl deuten. Trotzdem ließ er es vorerst dabei bewenden. Zuerst wollte er mit Dr. Parker über diese Angelegenheit sprechen.

      Die Gelegenheit dazu ergab sich dann schon wenige Stunden später.

      »Jeff, ich wüßte gern, was zwischen Ihnen und Karina vorgefallen ist«, kam Dr. Daniel gleich zur Sache.

      Dr. Parker atmete tief durch. »Ich habe versucht, ihr zu helfen, aber sie hat das leider ganz falsch aufgefaßt.« Er senkte den Kopf. »Vielleicht hätte ich es ihr aber auch anders sagen sollen. Aus psychologischer Sicht habe ich mich vermutlich benommen wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.«

      Dr. Daniel seufzte. »Warum sprechen Sie eigentlich in Rätseln, Jeff? Können Sie mir nicht einfach klipp und klar sagen, was vorgefallen ist?«

      Dr. Parker zögerte. »Karina hatte Probleme mit der Intubation. Ich habe es ihr gezeigt, und dann ließ ich sie selbst intubieren – allerdings unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sie mußte den Eindruck bekommen, daß es um Leben und Tod ginge, was in Wirklichkeit gar nicht der Fall war.«

      Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Mein lieber Jeff, das sind wirklich nicht erschöpfende Auskünfte, die ich da von Ihnen bekomme.« Er schwieg einen Moment. »Meine Tochter hüllt sich ebenfalls in Schweigen. Sie sagte mir nur, daß sie von Ihnen getäuscht worden wäre.«

      Dr. Parker nickte. »So muß es für sie auch ausgesehen haben, aber… ich wollte das nicht. Ich wollte ihr wirklich nur helfen.« Jetzt war er es, der seufzte. »Ich wünschte, ich könnte es ihr erklären, aber… sie will mich nicht mehr sehen, und dafür habe ich unter den gegebenen Umständen eigentlich sogar Verständnis.« Er sah Dr. Daniel an. »Bitte, fragen Sie nicht weiter, Robert. Ich möchte zu dieser Angelegenheit nichts mehr sagen.«

      Dann drehte er sich um und ging.

      »Soll ich dir sagen, was passiert ist?«

      Dr. Daniel fuhr herum und sah sich seinem Sohn Stefan gegenüber, der in der Waldsee-Klinik seine Assistenzzeit abgeleistet hatte und nun noch bis Ende des Jahres als Arzt hier arbeitete. Dann würde er in der Sommer-Klinik seinen Facharzt machen.

      »Weißt du es denn?« fragte Dr. Daniel zurück.

      Stefan nickte. »Ich habe es zufällig mitbekommen, weil ich noch im OP war. Jeff und Karina haben mich übrigens nicht bemerkt, und ich möchte auch nicht unbedingt, daß sie etwas davon erfahren.«

      »Mein Dienst ist seit fünf Minuten beendet«, entgegnete Stefan, dann verließ er an der Sei-

      te seines Vaters die Klinik. An

      der Uni geht es gerade um die Anästhesie, und damit hat Karina schwere Probleme.« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht liegt es letztlich an Professor Schneider. Er hat mich ja auch schon fürchterlich getriezt, als ich noch Student war.«

      Dr. Daniel seufzte. »Ich kenne ihn. Er sieht immer rot, wenn Söhne oder Töchter von Ärzten Medizin studieren. Irgendwie scheint er nicht daran zu glauben, daß die Liebe zur Medizin in der Familie liegen könnte.«

      »Wie auch immer. Er muß Karina jedenfalls ziemlich zugesetzt haben, und daraufhin hat sie sich vor der gesamten Studienklasse bist auf die Knochen blamiert, weil sie es nicht schaffte, den Tubus in die Luftröhre zu bringen.«

      »Du bist ja wirklich gut informiert«, stellte Dr. Daniel fest. »Davon hat mir Karina kein Wort erzählt.«

      Stefan grinste. »Aber ihrem Bruderherz hat sie sich anvertraut.« Dann wurde er wieder ernst. »Zumindest bis zu ihrer Blamage. Alles weitere habe ich nur noch durch Zufall mitbekommen.« Er schilderte, was sich im Operationssaal zugetragen hatte.

      »Als Karina erfuhr, daß der junge Mann nur eine leichte Narkose bekommen hatte und kein Muskelrelaxans, wie sie angenommen hatte, war sie mehr als verärgert«, schloß Stefan schließlich. »Sie nannte Jeff unter anderem einen hinterhältigen Schuft und erklärte, daß sie ihn nie wieder sehen wolle.« Er schwieg einen Moment. »Dabei liebt sie ihn«, fügte er dann leise hinzu.

      Dr. Daniel nickte. »Diesen Eindruck hatte ich auch schon gelegentlich, aber sie streitet es ganz entschieden ab.«

      »Ich schätze, sie weiß es einfach selbst noch nicht, oder sie will es zumindest nicht wahrhaben«, vermutete Stefan. »Aber ich kenne meine Schwester. Hätte das ein anderer Arzt mit ihr gemacht, wäre ihre Reaktion völlig anders ausgefallen. Jeffs Betrug – wenn man das, was er getan hat, so bezeichnen will – hat sie mitten ins Herz getroffen.«

      *

      Dr. Daniel hatte nach dem Gespräch mit seinem Sohn die Praxis noch nicht ganz erreicht, als ihm seine Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau aufgeregt entgegenkam.

      »Herr Doktor! Ein Anruf aus der Waldsee-Klinik!« rief sie schon von weitem. »Frau Kortenhagen ist verschwunden!«

      Dr. Daniel seufzte auf. »Heute geht’s aber wirklich wieder rund.« Dann machte er kehrt, bestieg sein Auto und fuhr, so schnell es die winterlichen Straßenverhältnisse erlaubten zur Klinik zurück.

      In heller Aufregung

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