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hat kaum ein Wort gesagt…«

      »Wann war das?« wollte Dr. Daniel wissen.

      »Vor über zwei Stunden«, gestand Bianca. »Ich habe sie gefragt, ob sie einen Spaziergang machen möchte, und sie hat bejaht. Sie kam mir gleich schon so seltsam vor, und eigentlich wollte ich ihr in den Park folgen, aber dann… auf der Station war so viel los. Als ich vor zehn Minuten in ihr Zimmer geschaut habe, war sie noch immer nicht da.« Mit

      einer fahrigen Handbewegung strich Bianca ihr halblanges dunkles Haar zurück. »Ich mache mir solche Vorwürfe.«

      »Das müssen Sie nicht, Bianca«, entgegnete Dr. Daniel beruhigend. »Nicole ist sehr selbständig, und es spricht auch absolut nichts dagegen, wenn sie allein in den Klinikpark geht. Das hat sie schon mehrfach getan, und sie hat immer wieder zurückgefunden. Es bestand für Sie also auch diesmal kein Grund, sie zu begleiten.« Er schwieg einen Moment. »Wir werden jetzt nach ihr suchen. So unübersichtlich ist der Park ja nicht, daß jemand verlorengehen könnte.«

      »Und wenn sie… zum Waldsee gegangen ist?« gab Bianca ihrer ärgsten Befürchtung Ausdruck. »Ich meine… sie war so komisch… hat kaum ein Wort gesagt, dabei ist sie doch sonst immer so aufgeschlossen.«

      Während Bianca noch gesprochen hatte, hatten sie und Dr. Daniel die Klinik bereits durch den rückwärtigen Ausgang verlassen.

      »Hat Nicole über Schmerzen geklagt?« wollte Dr. Daniel wissen.

      Bianca schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie dachte eine Weile nach. »Es schien mir, als hätte sie es ziemlich eilig, die Klinik zu verlassen.«

      »Seltsam«, murmelte Dr. Daniel und dache dabei unwillkürlich daran, wie glücklich Nicole gewesen war, als er gestern abend noch nach ihr gesehen und sie untersucht hatte. Voller Begeisterung hatte sie von dem jungen Sanitäter Mario Bertoni erzählt, und Dr. Daniel hatte gespürt, daß sich zwischen den beiden jungen Leuten eine zarte Romanze entwickelt hatte.

      Zusammen mit Bianca durchstreifte Dr. Daniel den Klinikpark. Gestern hatte es noch einmal geschneit, doch die stille Hoffnung des Arztes, daß Fußspuren über die Richtung Aufschluß geben würden, die Nicole eingeschlagen hatte, erfüllte sich nicht. Zu viele Patienten waren heute schon im Park gewesen.

      »Wenn sie hier spazierengehen würde, müßte man sie doch sehen«, meinte Bianca und blickte suchend über die schneebedeckte Wiese. Sie und Dr. Daniel hatten jetzt etwa die Mitte des Klinikparks erreicht, und hier standen kaum noch Bäume, die die Sicht hätten verdecken können. Man konnte ohne große Mühe bis zum Waldrand sehen.

      Dr. Daniel nickte. Auch seine Sorge wuchs jetzt.

      »Bianca, wir werden uns trennen«, erklärte Dr. Daniel. »Gehen Sie zu Nicoles Wohnung. Möglicherweise ist sie ja einfach nur aus irgendeinem Grund aus der Klinik geflüchtet und hat den Weg nach Hause eingeschlagen. Kennen Sie die Adresse?« Er wartete Biancas Bestätigung ab, dann fuhr er fort: »Ich werde in der Zwischenzeit den Wald in der Umgebung des Sees absuchen.«

      »In Ordnung, Herr Doktor«, stimmte Bianca rasch zu, dann lief sie los, während Dr. Daniel eiligst den Weg zum Waldrand zurücklegte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Wenn Bianca recht hatte, dann war Nicole jetzt seit ungefähr zweieinhalb Stunden in der Kälte unterwegs. Falls sie in Bewegung war, wäre das auch in der kalten Winterluft nicht weiter schlimm gewesen, doch wenn sie sich irgendwo hingesetzt hatte… oder gar…

      Dr. Daniel wagte es nicht, den bedrohlichen Gedanken zu Ende zu führen, und dabei fragte er sich wieder, was Nicole nur veranlaßt haben könnte, so etwas zu tun.

      Vielleicht ist sie ja doch zu Hause, dachte er ganz hoffnungsvoll.

      »Nicole!« rief er, doch er bekam keine Antwort.

      Inzwischen hatte er den Waldsee erreicht, den eine dicke Eisschicht überzog. Dr. Daniel blieb am Ufer stehen und blickte suchend über den vereisten See. Er wollte sich schon abwenden und im immer dichter werdenden Wald weitersuchen, als er plötzlich etwas Rotes zwischen den Bäumen am Ufer entdeckte.

      Prüfend setzte Dr. Daniel einen Fuß auf den zugefrorenen See, doch das Eis war fest genug, um ihn zu tragen.

      »Nicole!« rief er noch einmal, und jetzt sah er, wie sich die Gestalt am anderen Ende des Sees ein wenig bewegte.

      So schnell es die glatte Eisfläche unter seinen Schuhen erlaubte, überquerte Dr. Daniel den See und ging dann vor der völlig apathisch wirkenden Nicole in die Hocke.

      »Er ist zugefroren.«

      Dr. Daniel hatte Mühe, die leise gesprochenen Worte zu verstehen, zumal Nicole bereits so unterkühlt war, daß ihr das Sprechen schwerfiel.

      Kurzerhand nahm Dr. Daniel die junge Frau auf die Arme und ging mit ihr den Weg zurück, den er gekommen war. Kraftlos hing Nicole in seinen Armen und entwickelte dabei ein beachtliches Gewicht. Dazu kam, daß der Weg über den eisigen See mit jedem Schritt anstrengender wurde, so daß Dr. Daniel schon nach wenigen Minuten zu keuchen begann.

      Endlich hatte er das andere Ufer erreicht und setzt Nicole für ein paar Augenblicke ab, um zu verschnaufen. Teilnahmslos ließ die junge Frau alles mit sich geschehen.

      »Herr Doktor, sie ist nicht…« begann Bianca, die gerade aus dem Ort zurückkehrte und Dr. Daniel zwischen den Bäumen am Ufer gesehen hatte. Jetzt entdeckte sie auch Nicole und stieß einen Schreckenslaut aus, bevor sie sich im Laufschritt auf den Weg zur Klinik machte.

      Inzwischen hatte Dr. Daniel Nicole wieder auf die Arme genommen und ging mit ihr auf den rückwärtigen Eingang der Klinik zu. Auf halbem Weg kamen ihm die beiden Krankenpfleger entgegen, die von Bianca alarmiert worden waren.

      Nun ging es eiligst in die Klinik zurück, und hier wurde Nicole gleich versorgt. Durch die warme Kleidung, die sie getragen hatte, war die Unterkühlung glücklicherweise noch nicht allzuweit fortgeschritten. Viel mehr Sorge bereitete Dr. Daniel die Teilnahmslosigkeit seiner jungen Patientin, die einen völlig apathischen Eindruck machte.

      »Nicole, was ist passiert?« fragte er behutsam und setzte sich dabei ohne große Umstände auf die Bettkante. »Warum warst du da am See?«

      Langsam wandte Nicole ihm ihr Gesicht zu, und Dr. Daniel erschrak vor der Hoffnungslosigkeit, die er in ihren Zügen erkennen konnte.

      »Er ist zugefroren«, wiederholte sie, schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Wäre jetzt nicht Winter, hätte ich es schon hinter mir.«

      Dr. Daniel runzelte besorgt die Stirn. »Nicole, ich hoffe, daß ich dich da eben falsch verstanden habe.«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Doktor, Sie haben ganz richtig verstanden. Ich will nicht mehr leben.«

      »Nicole!« rief Dr. Daniel entsetzt. »Um Himmels willen, wie kommst du denn nur auf einen so schrecklichen Gedanken. Erst gestern…«

      »Gestern war auch alles noch ganz anders«, fiel die junge Frau ihm traurig ins Wort. »Gestern glaubte ich noch, daß Mario mich lieben würde, doch heute weiß ich, wie es wirklich ist.«

      »Und… wie ist es?« hakte Dr. Daniel nach.

      Nicole schwieg so lange, daß er bereits dachte, sie würde seine Frage überhaupt nicht mehr beantworten. Dann aber begann sie plötzlich zu sprechen – leise und monoton, wie eine Puppe, die man aufgezogen hat. Sie erzählte, was vorgefallen war, so, als würde sie über einen wenig interessanten Zeitungsbericht sprechen. Doch gerade diese innere Gleichgültigkeit erschreckte Dr. Daniel. Nicole wirkte, als wäre ihr Lebenswille erloschen.

      »Woher weißt du, daß diese Frau die Wahrheit gesagt hat?« fragte Dr. Daniel und hoffte, daß er Nicole aus dieser fürchterlichen Lethargie befreien könnte.

      »Ich weiß es«, erwiderte Nicole nur, dann wandte sie Dr. Daniel ihr Gesicht wieder zu. »Und sie hat recht. Ich werde Mario nie sagen können, daß er gut aussieht. Ich könnte ihm höchstens sagen, daß seine Stimme in meinen Ohren wie Musik klingt und daß ich sie im Herzen trage.«

      »Für mich ist das eine weit schönere Liebeserklärung«,

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