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eine Tapete mit großen Blumen zierte. „Seit wann ist Edi hier?“, wollte sie wissen.

      „Seit gestern. Er stand plötzlich vor der Tür und bestand darauf, dass wir ihn hereinlassen. Er befand sich in einer sehr schlechten psychischen Verfassung, und natürlich waren wir sofort bereit, ihm unsere Hilfe anzubieten. Seitdem hat er das Zimmer allerdings nicht mehr verlassen.“

      Kurz darauf erreichten sie eine geschlossene Tür.

      „Versuchen Sie es“, sagte Flöter. „Vielleicht redet er ja mit Ihnen.“

      Der Raum war leer und nicht gerade hell erleuchtet, obwohl die Lampe an der Decke eingeschaltet war. Doch es reichte, um ein zerwühltes Bett zu erkennen, vor dem auf dem Boden mehrere scharfe Glassplitter funkelten. Und dass auf die Wand – offenbar mit Blut – das Wort Kraniche geschmiert worden war.

      Und das nicht nur einmal.

      Es stand da zweimal.

      Dreimal.

      Viermal.

      Flöter blinzelte. „Was soll das bedeuten? Hat Edi das an die Wand geschrieben?“

      „Was denken Sie?“, gab Julia zurück.

      „Dann muss er verletzt sein.“ Der Sozialarbeiter sah sich um. „Und wo ist er jetzt? Er kann nicht aus dem Haus gegangen sein, denn dann hätte ich ihn gesehen. Also muss er sich im Badezimmer befinden.“ Er wollte zu der Tür gehen, doch Julia hielt ihn am Arm fest. „Warten Sie. Lassen Sie mich.“ Langsam bewegte sie sich auf die Badezimmertür zu, blieb davor stehen, zögerte, lauschte, aber hinter der Tür war es so still wie in einem Grab. Sie sagte: „Edi, hören Sie mich? Mein Name ist Julia Wagner. Ich möchte nur mit Ihnen reden.“

      Sekunden vergingen.

      Sie erhielt keine Antwort, und es kam auch niemand heraus.

      Julia griff nach der Türklinke und drückte sie nach unten. Dann schob sie die Tür auf, gewappnet für alles, was sie dort erwarten könnte.

      Aber da war nichts. Und niemand. Das Badezimmer war leer. Das Einzige, was herausdrang, war ein fürchterlicher Gestank, eine Mischung aus Urin und Exkrementen.

      Eva, die ein paar Meter hinter Julia stand, hielt sich schnell den Schal vor die Nase. „Meine Güte!“

      Julia presste sich die Hand über Mund und Nase und machte vorsichtig einen Schritt hinein.

      Das Badezimmer war tatsächlich leer, aber auf dem Boden befanden sich Pfützen von Urin und Blut, und die Duschwanne war mit Kot beschmiert.

      „Was um Himmels willen …?“ Flöter sah aus, als würde er sich jeden Moment übergeben.

      Jemand hatte mit einer Mischung aus Kot und Blut das Wort Kranich auf den Badezimmerspiegel geschrieben, und da der Gestank kaum auszuhalten war, zogen sie sich wieder ins Zimmer zurück. Aber auch jetzt schienen sie dem Geruch nicht entkommen zu können. Sie mussten den Raum ganz verlassen.

      „Glaubst du …“, setzte Eva an und hustete. „Glaubst du, das hat Edi geschrieben?“

      „Es ist anzunehmen“, gab Julia zurück.

      „Dann muss er verrückt gewesen sein vor Angst. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

      „Was ist denn nur mit ihm geschehen?“ Flöter machte eine hilflose Geste.

      „Ich dachte, Sie sind hier, um auf ihn aufzupassen“, wandte Julia sich an ihn. „Ist das nicht Ihr Job?“

      „Er ist nicht an mir vorbeigegangen, ich schwöre es. Lieber Himmel, mir … sträuben sich die Haare im Nacken.“ Als er ihren Blick sah, erstarrte Flöter in der Bewegung. „Sie glauben doch wohl nicht, dass ich etwas damit zu tun habe?“

      „Wann genau haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“, wollte Julia wissen.

      „Heute, gegen achtzehn Uhr. Ich wollte ihn zum Abendessen bewegen, aber er weigerte sich. Er wollte auf gar keinen Fall das Zimmer verlassen. Danach habe ich ihn nicht mehr … gesehen. Und ich bleibe dabei, er kann nicht …“

      Das Telefon im Flur klingelte. Flöter wandte sich kurz um, dann sah er wieder Julia an. Dann erneut zum Telefon. Als er sich in Bewegung setzen wollte, sagte sie: „Verschieben Sie es auf später.“

      „Aber ich muss doch …“

      „Verschieben Sie es auf später. Wir müssen reden. Jetzt.“

      Flöter nickte widerwillig.

      Julia deutete auf die Zimmertür. „Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern, wie sich Ihr letztes Treffen mit Edi in diesem Zimmer abgespielt hat.“

      Der Sozialarbeiter konzentrierte sich. „Er saß auf dem Bett, hatte die Beine angezogen und die Arme darum gelegt. Er zitterte, hatte ganz offensichtlich Angst. Ich kam herein, und er sagte sofort, dass ich die Tür hinter mir schließen soll. Und dass ich das Licht ausmachen soll, was ich natürlich nicht getan habe.“

      „Und weiter?“

      „Er fragte mich, ob ich es auch hören würde.“

      „Was?“

      Flöter schnitt eine Grimasse. „Ein Huschen. Ein Atmen. Ich sagte ihm, dass ich nichts höre. Er sagte: Sie sind hier. Und ich fragte: Wer? Er sagte: Die Teufel. Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, wovon er redete, aber wenn er das Bedürfnis hätte, mit mir darüber zu sprechen, dann wäre ich für ihn da. Er aber sagte Nein, und dann sagte er gar nichts mehr.“

      Julia wartete, und als zu lange nichts mehr von dem Sozialarbeiter kam, fragte sie: „Und dann haben Sie das Zimmer wieder verlassen?“

      „Ja. Was hätte ich sonst tun sollen? Er wollte ja nicht reden. Und essen wollte er auch nichts.“ Mit bleichem Gesicht starrte Flöter auf den Boden. „Ich weiß, ich hätte noch einmal nach ihm sehen müssen.“ Er schaute Julia wieder an. „Aber wenn er das Zimmer verlassen hätte, dann hätte er an mir vorbeigemusst. Ich hätte ihn sehen müssen.“

      „Es sei denn, Sie waren gerade woanders“, stellte sie fest. „Waren Sie irgendwo anders? Irgendwo, von wo aus Sie den Flur nicht überblicken können?“

      „Nein!“

      „Hören Sie, niemand will Ihnen unterstellen, Sie hätten nachlässig gehandelt oder etwas falsch gemacht“, versicherte Julia. „Ich stelle diese Fragen nur, weil sie wichtig sind. Weil es wichtig ist, Edi rechtzeitig zu finden. Verstehen Sie das?“

      Flöter nickte langsam. „Natürlich muss ich irgendwann auch einmal auf die Toilette. Und in andere Zimmer gehen, um nach den restlichen Bewohnern zu sehen. Das ist ja wohl ganz normal.“

      „Natürlich. Hat Edi sich mit anderen Bewohnern unterhalten?“

      „Nein, ich glaube nicht. Er kam ja nicht mehr aus dem Zimmer heraus, nachdem er erst einmal drin war. Und besucht hat ihn niemand. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“ Flöter hob beinahe verzweifelt die Hände. „Es tut mir wirklich leid. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.“

      Julia nickte. Das war es. Alle Fragen waren gestellt. Mehr konnte sie nicht tun.

      Sie verließen das Heim und hörten, wie Flöter die Tür hinter ihnen schloss.

      „Ich kann das gar nicht fassen“, sagte Eva, als sie wieder im Wagen saßen. „So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.“

      „Ich auch nicht.“ Julia steckte den Schlüssel ins Zündschloss, ohne den Motor zu starten.

      „Der Mann muss regelrecht krank gewesen sein vor Angst.“

      „Ja.“

      Eva warf Julia einen Blick zu. „Meinst du, er ist noch am Leben?“

      „Ich hoffe es.“

      „Aber wo steckt er jetzt? Ich meine, wo sollen wir nach ihm suchen? Mainz ist groß. Er kann überall sein.“

      Julia

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