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sie in Richtung Bürgersteig ging, griff sie in die Manteltasche und zog ihr Handy hervor, wobei sie feststellte, dass Jo noch einmal angerufen hatte. Sie wusste, dass sie ihn zurückrufen musste, aber das war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Noch einmal spielte sie mit dem Gedanken, die 110 anzurufen, und verwarf ihn wieder.

      Sie machte ein paar Schritte, rutschte aus, verlor den Halt und landete im Schnee.

      Fluchend richtete sie sich wieder auf, wobei ein kurzer, aber heftiger Schmerz in ihrem Knöchel aufflammte. Noch einmal fluchte sie leise, richtete sich so vorsichtig wie möglich auf und bemerkte im selben Moment einen Wagen, der sich näherte. Sie wandte den Kopf und sah die grellen Lichter eines Scheinwerferpaares, die direkt auf sie gerichtet waren. Und die rasend schnell näher kamen.

      Wie gelähmt stand Susanne da. Dann, endlich, machte es klick in ihrem Kopf. Sie wollte zur Seite springen – aber sie konnte sich nicht rühren.

      Es heißt, das Gehirn eines Menschen besteht aus ungefähr hundert Milliarden Nervenzellen, die durch mehr als hundert Billionen Synapsen miteinander kommunizieren. Und jeder einzelne Gedanke entsteht dabei in so unglaublich hoher Geschwindigkeit, dass man ihn bereits verarbeitet hat, ehe er zu Worten geformt ist.

      So hatte Susanne innerhalb des Bruchteils einer Sekunde realisiert, dass der Wagen sie erwischen würde. Trotzdem war es ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Sie stand einfach nur da und starrte in die hellen Scheinwerfer wie ein Reh, das darauf wartete, dass der Kotflügel es erwischte und ihm das Genick brach.

      Aber der Wagen, es handelte sich um einen dunklen Mercedes, wie sie am Rande wahrnahm, erwischte sie nicht. Er kam direkt neben ihr zum Stehen, und die hintere Tür flog auf.

      Und dann ging alles ganz schnell.

      In derselben Sekunde kam ein weiterer Wagen von hinten angefahren, ein roter Polo, der auf den letzten Metern ins Rutschen kam und unsanft mit dem Kotflügel der Limousine kollidierte.

      Es knallte, und der Mercedes wurde einen guten Meter nach vorne geschoben. Die hintere Tür fiel wieder zu und klemmte offensichtlich das Bein des Mannes ein, der gerade hatte herausspringen wollen. Susanne hörte einen Aufschrei und ein heftiges Fluchen.

      Der Polo stoppte nur wenige Zentimeter vor Susannes Füßen. Die Fahrertür flog auf, ein Mann stieg aus und packte sie. Zu Tode erschrocken, schrie sie auf.

      Der Mann schob sie unsanft auf der Beifahrerseite in den Polo hinein. Sie wehrte sich und zappelte wie wild, aber er ließ nicht locker. Keine zwei Sekunden später waren alle Türen geschlossen, und er saß wieder hinter dem Lenkrad, gab Gas, und sie schossen davon. Und das so schnell, so halsbrecherisch, dass Susanne die Luft wegblieb.

      „Halten Sie an! Lassen Sie mich sofort raus!“

      „Das wäre keine gute Idee.“

      Susanne wurde vor Angst ganz heiß. „Halten Sie sofort an!“ Sie wollte sich aufrichten, doch eine scharfe Kurve warf sie zurück in den Sitz. Der Polo kam gefährlich ins Schleudern. „Oh mein Gott! Passen Sie doch auf!“

      „Bleiben Sie ruhig“, sagte der Mann.

      Der Wagen schoss weiter durch die Straßen, und schon bald wusste Susanne nicht mehr, wo sie sich befanden. In diesem Viertel war sie noch nie gewesen, das stand fest. Heruntergekommene Häuser mit eingeschneiten Vorgärten reihten sich aneinander. Sie warf einen Blick zu ihrem Entführer und stellte fest, dass er nicht wie ein klassischer Verbrecher aussah. Nicht wie ein Entführer und schon gar nicht wie ein Mörder oder Vergewaltiger. Er schien nicht sehr groß zu sein, mochte die fünfzig schon eine Weile überschritten haben, trug einen hellen Trenchcoat, der so zerknittert war, als habe er die letzten Nächte darin geschlafen, das graue Haar stand wirr von seinem Kopf ab, und im Gesicht trug er einen struppigen Vollbart. „Haben Sie gesehen, wie viele es waren?“, wollte er wissen.

      „Nein.“

      „Es müssen in jedem Fall zwei gewesen sein. Einer ist gefahren, und ein anderer wollte Sie in den Wagen ziehen.“

      Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die zu Susannes Entsetzen noch enger war als die vorherige. Mit dem Heck rammte der Polo eine Straßenlaterne, und um ein Haar wären sie durch einen Bretterzaun gebrochen.

      „Lieber Gott im Himmel! Wollen Sie uns umbringen?“

      „Natürlich nicht. Ich gehöre doch zu den Guten.“

      „Ach wirklich?“

      „Was zum Teufel ist in dem Haus passiert?“

      „Ich …“ Aus den Augenwinkeln sah Susanne schon wieder etwas auf den Polo zukommen. „Ach du Scheißeeee!“

      Kurz vor der Stelle, wo die kleine Seitenstraße in eine Querstraße mündete, stand ein Transporter mit offener Heckklappe, aus der zwei Männer etwas heraushievten. Sie konnte nicht erkennen, was es war, aber die beiden Männer hielten es zwischen sich und starrten wie versteinert in Richtung des heranrasenden Polos.

      „Bremsen!“, schrie Susanne.

      Doch genau das tat der Mann nicht. Im Gegenteil. Er nahm Maß, trat das Gaspedal erst recht durch, und sie schossen haarscharf links an den beiden Männern vorbei.

      Zitternd wischte Susanne sich den Schweiß von der Stirn. „Jesus Christus! Wenn Sie mich umbringen wollen, warum schießen Sie mir dann nicht einfach eine Kugel in den Kopf?“

      Der Mann warf einen Blick in den Rückspiegel und sagte: „Sie scheinen verschwunden zu sein. Und jetzt frage ich Sie noch einmal: Was ist in dem Haus passiert?“

      „Die Anwältin ist tot.“

      „Was?“

      „Sie wurde ermordet.“

      „Oh, verdammt.“

      „Ja, so kann man es auch sagen. Was waren das für Leute, und warum wollten sie mich entführen?“

      „Vermutlich, weil Sie ihnen irgendwie in die Quere gekommen sind. Was haben Sie in dem Haus gemacht?“

      Susanne kam nicht dazu, zu antworten. Urplötzlich bogen sie an einer völlig unscheinbaren Einmündung ab. Eine Einbahnstraße, die sie von der falschen Seite nahmen. Ein anderer Wagen kam ihnen entgegen, hupte erbost und ließ mehrmals die Scheinwerfer aufleuchten.

      „Mein Gott, Sie sind ja völlig wahnsinnig!“

      „Ich versuche, unser beider Leben zu retten. Also bleiben Sie ruhig und genießen Sie die Fahrt.“

      „Das ist nicht witzig!“

      „Nein, das ist es tatsächlich nicht.“ Der Mann warf einen weiteren Blick in den Rückspiegel. „Die Sache ist ernst. Verdammt ernst.“

      Susanne überlegte, aus dem Wagen zu springen, zu fliehen. Aber natürlich ging das während der vollen Fahrt nicht. Im Augenblick hatte sie keine andere Wahl, als sitzen zu bleiben und abzuwarten.

      Aber irgendwann mussten sie ja wieder stehen bleiben.

      Dann konnte sie fliehen.

      Hoffentlich bald.

      6. KAPITEL

      Wahnsinnig vor Angst

      Mainz

      „Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mann, der sich als Thorsten Flöter und verantwortlicher Sozialarbeiter vorgestellt hatte. Er war groß, deutlich über einen Meter achtzig, blond, mit einem Pferdeschwanz. Ein leichter Dialekt klang in seiner Stimme mit.

      „Wir sind auf der Suche nach Edi Kern“, sagte Julia.

      „Richtig. Sie hatten angerufen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, einen Moment zu warten? Ich bin gleich wieder da.“

      „Gleich“ war, wie sich herausstellte, schamlos übertrieben. Julia und Eva mussten sich in Geduld üben.

      Als Flöter endlich zurückkam, war er wieder die Freundlichkeit in Person. „Tut mir leid, dass Sie warten mussten“,

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