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Himmel im Osten bedeutete außerdem Regen, und weil die grauen Wolken die aufgehende Sonne verdeckten, glich der ansonsten türkisblaue Ozean heute einem blubbernden, schwarzen Sumpf.

      Bevor ich mich in Teufels Küche wagte, wo ich mich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bis zum Ende dieser heiklen Naturerscheinung abarbeiten würde müssen, beschloss ich, an meinem Lieblingsort auf der Insel stehen zu bleiben und meinen Kopf freizukriegen. Es war eine kleine Haltebucht neben dem Golfplatz am östlichen Ende der Fluglandebahn.

      Die überwucherte Steinlandschaft erinnerte mich an eine altertümliche Ruine. An der Einfahrt der Lichtung standen Tempel-, Schrauben- und Brotfruchtbäume, die während der Regenzeit einen süßlichen Duft verströmten. Von vorne bis in den hinteren Teil der Bucht verlief leicht bogenförmig eine Felswand, wohingegen ein Dickicht aus Tempelbäumen die andere Seite einnahm. Abgesehen von verstreut herumliegendem Müll und einer Feuerstelle an der Wand deutete kaum etwas darauf hin, dass hier überhaupt jemand herkam.

      Normalerweise warfen die hohen Kokospalmen immer Schatten, die wie bei einer alten Sonnenuhr in die Mitte der Lichtung fielen. Der Rest des Platzes und auch die Felswand, wo ich mich gerne niederließ, blieben normalerweise vollkommen unbescholten von der erbarmungslosen Tropensonne, die Kwajalein fast immer in Beschlag nahm. Weil ich skandinavische Wurzeln hatte und Hitze und Feuchtigkeit schlecht vertrug, wusste ich den Schatten sehr zu schätzen. An diesem Morgen kamen mir die angenehme Kühle und die Bewölkung deshalb gelegen.

      Gleich hinter der Felswand brauste der Pazifik gegen das Riff. Der Pegel war ein wenig höher als üblich, ungefähr fünf bis sieben Fuß. Selbst so niedrige Wellen hatten allerdings viel Kraft, vor allem wenn sie in einem fort gegen den Stein schlugen, wie sie es schon seit Jahrtausenden taten, wobei der Boden immer spürbar bebte.

      Während ich beschwerlich dort hinaufkletterte, löste sich ein Wedel von einer Palme und knallte hinter mir auf die Erde, sodass ich erschrocken zusammenzuckte. Oben auf dem Felsen konnte ich hinunter auf die schier unendliche See schauen. Überall auf Kwaj wurde einem bewusst, wie unerheblich klein man doch eigentlich war, doch hier ganz besonders. Ich bin nur ein winziger, bedeutungsloser Organismus auf einer riesigen Welt voller Wasser.

      Wie schon an vielen anderen Morgen setzte ich mich, blickte hinaus über das Meer und ließ meine Gedanken umherschweifen. In der Vergangenheit hatte ich im Sommer an genau derselben Stelle gesessen und mich mit der Tatsache getröstet, dass sich genau diese Wassermassen ohne Unterbrechung bis zu Whidby Island in Washington nördlich von Seattle erstreckten, wo Kate gerade mit den Kindern war. Heute Morgen beschwichtigte ich mich erneut mit dieser Vorstellung.

      Mich wunderte es allerdings, dass Kate bis jetzt nicht zurückgerufen hatte. Sie redete nämlich gern und telefonierte fast täglich mit mir, egal ob sie etwas zu erzählen hatte oder nicht. Bevor ich aufgebrochen war, hatte ich etwa zehn Minuten lang die Nachrichten geschaut. Die Zahl der Todesopfer der Rot-Pest stieg immer noch erschreckend schnell, jedenfalls den Medien zufolge. Ich fand nach wie vor, dass dies lediglich überzogene Angstmacherei war.

      Charlie hatte den Urlaub überhaupt nicht antreten wollen, was wirklich seltsam war, denn für gewöhnlich konnte er die Abreise zu Opas Haus schon Wochen vorher kaum abwarten. Dieses Mal aber hatte er mir von einem Albtraum in der Nacht vor ihrem Aufbruch erzählt. Einzelheiten waren ihm zwar nicht im Gedächtnis geblieben – das tun sie nur selten – doch es hatte ihn zutiefst verstört. Dann fiel mir plötzlich ein, was ich selbst vor meiner letzten Unterhaltung mit Kate geträumt hatte.

      Waren unsere Albträume vielleicht Ausblicke in die Zukunft gewesen? Natürlich träumt man mitunter total verrücktes Zeug, das nicht zwangsläufig widerspiegeln muss, was einmal geschehen ist oder geschehen wird, aber ich sehe fast nie über Träume hinweg, weil ich der Ansicht bin, dass es sich dabei um Phasen handelt, in denen wir auf einer Welle reiten, wie ich es nenne; einer unterbewussten, subatomaren Intelligenzströmung, von der ich annehme, dass sie allgegenwärtig und allumfassend ist. Meinem Empfinden nach zwingt dieser Zustand einen Menschen zu der Geistesgegenwart, damit er nicht vor einen Bus läuft, sich nicht von irgendeinem Typen mitnehmen lässt oder seine große Liebe erkennt.

      Beim Aufwachen war es mir nach vielen Träumen so vorgekommen, als ob ich darin tatsächlich anderen begegnet sei, und so bin ich schließlich zu der Annahme gelangt, dass diese Welle sich im unbewussten Zustand – ob wir schlafen oder nicht – buchstäblich auf die von anderen realen Personen trifft, die zur gleichen Zeit ähnliche Träume haben wie wir. Wir interagieren also auf einer tieferen Ebene miteinander, die aber genauso wirklich ist wie ein Zusammenstoß auf der Straße. Ich glaube auch, dass das dahintersteckt, wenn wir an jemanden denken, der kurz darauf anruft, oder vom Treffen mit einem vollkommen Fremden träumen.

      Meine feste Überzeugung, die ich aus solchen gelegentlichen »Wellenritten« gewonnen habe, ist, dass diese Welt mehr zu bieten hat, als man mit bloßem Auge wahrzunehmen vermag. Obwohl ich Religionen grundsätzlich ablehne, bin ich doch kein Atheist. Vielmehr denke ich, falls man Gott irgendwo finden kann, dann mit großer Sicherheit in diesem Zustand.

      Als ich meinen Aufbruch lange genug hinausgezögert hatte, fuhr ich weiter zur Wetterstation, wo ich den Rest des Tages damit verbrachte, mich durch einen wahren Datenwust zu kämpfen und von einer Besprechung zur nächsten zu hasten. Jeder wollte während dieser Schicht irgendetwas von mir, und zu dem Zeitpunkt, als uns der Taifun richtig nahekam, war ich froh, als einer der Letzten im EOC einzutreffen, um das Unwetter gemeinsam mit dem Krisenstab auszusitzen.

      Die Station war so gut vorbereitet worden, wie man es erwarten konnte, meine Kollegen saßen alle schon auf ihren Posten, und die restlichen Bewohner des Atolls hatte man in ihre zugeteilten Notunterkünfte gebracht. Jetzt konnten wir nur noch abwarten und hoffen, dass alles gut gehen würde.

       19:45 Uhr – Notfalloperationszentrum (EOC) Kwajalein

      Wir hatten nun schon seit mehreren Stunden keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Ich erhielt deshalb auch keine weiteren Daten mehr über den Sturm, konnte mich also nur noch auf das Radar berufen. Unser Gerät hielt Windgeschwindigkeiten von hundertzwanzig Knoten aus, und das Anemometer im Zentrum schlug noch unter der Hunderter-Marke aus. Solange das Radar funktionierte, bekam ich alle Informationen, die ich brauchte. Das Auge des Taifuns befand sich mittlerweile weniger als zwanzig Meilen südöstlich von uns und würde Kwajalein innerhalb der nächsten Stunde erreichen. Leider lag ich, wie es aussah, mit meiner Vermutung richtig, denn das Unwetter würde die Insel ganz genau treffen. Der Trog in den Höhenlagen würde einen Tick zu spät kommen, um dem Sturm entgegenwirken zu können.

      Der Luftdruck fiel immer weiter, während der Wind immer kräftiger wurde – momentan hatte er schon fünfundsiebzig Meilen die Stunde mit einer Spitzengeschwindigkeit von knapp neunzig. Und er würde gewiss noch einmal zunehmen, wenn das Auge erst einmal auf das Land traf. Wir erhielten bereits Schadensmeldungen von überall her auf dem Atoll: zersplitterte Fensterscheiben in der Wohnsiedlung des Stützpunktes, von ihren Anlegestellen losgerissene Fracht- und Segelschiffe, leichte Überschwemmungen am Nordufer. All dies würde sich später häufen, doch die Unterkünfte waren zumindest bis auf Weiteres sicher.

      Ich lief zu dem einzigen Fenster in dem Raum, einem einfachen Bullauge, und schaute hinaus. Sehen konnte ich nichts als eine schwarze Wand. Als auf einmal etwas gegen die Scheibe knallte und diese einen Sprung bekam, zuckte ich erschrocken zusammen. Wie gut, dass diese zusätzlich mit einem dünnen Drahtnetz verstärkt war, sonst wäre mir vielleicht Glas ins Auge geflogen oder Schlimmeres passiert.

       20:33 Uhr – Notfalloperationszentrum (EOC) Kwajalein

      Der Wind heulte laut, während ich an meinem Arbeitstisch saß und die Messanzeige im Auge behielt. Nordostwind von neunzig bis maximal hundertfünfzehn Meilen pro Stunde – mit weitem Abstand die höchste Geschwindigkeit, die ich je selbst irgendwo abgelesen hatte. Das Gebäude knarrte bedrohlich, und ein stetes Pfeifen hatte sich im Raum eingestellt, weil der beschleunigende Wind draußen ganz in der Nähe gegen ein Hindernis blies. Das Radarbild wurde schon seit einer Weile nicht mehr aktualisiert, vermutlich weil Wasser in die Glasfaserleitungen eingedrungen war, die kreuz und quer über die Insel verliefen. Ich warf einen Blick auf das Barometer: 979,5 Millibar. Bei derart starkem

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