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»indem wir an etwas anderes dachten«. Wir bemühten uns sehr, um Erfahrungen zu machen, die denen der Verzückten aus dem letzten Jahrhundert glichen, und deren religiöser Fanatismus der menschlichen Wissenschaft einmal von Nutzen sein wird. Ich stellte mich zu Beispiel auf Lamberts Magen und blieb dort mehrere Minuten lang stehen, ohne ihm den geringsten Schmerz zu verursachen. Aber trotz dieser tollen Versuche bekamen wir doch keinen Anfall von Starrsucht. – Diese Abschweifung schien mir notwendig, um meine ersten Zweifel zu erklären, die Herr Lefebvre jedoch völlig verscheuchte.

      »Als sein Anfall vorüber war,« sagte er, »fiel mein Neffe in einen Zustand tiefen Entsetzens, in eine Melancholie, die nichts verscheuchen konnte. Er hielt sich für impotent. Ich überwachte ihn mit der Aufmerksamkeit einer Mutter und überraschte ihn glücklicherweise in dem Augenblick, da er an sich die Operation vornehmen wollte, der Origines sein Talent zu verdanken glaubte. Ich brachte ihn sofort nach Paris, um ihn der Pflege des Herrn Esquirol anzuvertrauen. Während der Reise blieb Louis in einem fast dauernden Schlafzustand und erkannte mich nicht. In Paris hielten ihn die Ärzte für unheilbar und rieten einstimmig, ihn in der tiefsten Einsamkeit zu belassen, die Ruhe nicht zu stören, die für seine, zwar unwahrscheinliche Heilung notwendig war, und ihn in ein luftiges Zimmer zu bringen, in dem immer gedämpftes Licht war.« – »Fräulein von Villenoix, der ich Louis' Zustand verheimlicht hatte«, begann er wieder, wobei er die Augen halb schloß, »deren Heirat aber nun für unmöglich galt, kam nach Paris und hörte dort das Urteil der Ärzte. Sogleich wünschte sie meinen Neffen zu sehen, der sie kaum wiedererkannte. Dann wollte sie, nach Art schöner Seelen, alles Notwendige für seine Heilung selbst tun. ›Ich wäre ja dazu verpflichtet gewesen‹, sagte sie, ›wenn er mein Gatte geworden wäre; sollte ich für meinen Geliebten weniger tun?‹ So brachte sie Louis nach Villenoix, wo beide seit zwei Jahren wohnen.«

      Anstatt meine Reise fortzusetzen, machte ich in Blois halt, in der Absicht, Louis zu sehen. Der gute Lefebvre gab nicht zu, daß ich anderswo als in seinem Hause abstiege, wo er mir das Zimmer seines Neffen zeigte, dessen Bücher und alles, was ihm gehört hatte. Bei jedem Gegenstand entfuhr dem Greis ein schmerzlicher Ausruf, der die Hoffnungen verriet, die Lamberts frühreifes Genie in ihm hatte aufkeimen lassen, und die tiefe Trauer, in die ihn dieser unwiderbringliche Verlust versetzt hatte.

      »Dieser junge Mensch wußte alles«, sagte er und legte den Band auf den Tisch, der die Werke Spinozas enthielt. »Wie konnte ein so gut ausgestatteter Kopf so zerstört werden?«

      »Aber«, antwortete ich ihm, »ist es denn nicht vielmehr eine Wirkung seines gewaltigen Organismus? Wenn er wirklich dieser in all ihren Erscheinungen noch unbeobachteten Krisis zum Opfer gefallen ist, die wir Wahnsinn nennen, so möchte ich dafür in seiner Leidenschaftlichkeit die Ursache sehen. Seine Studien, seine Lebensführung hatten seine Kräfte und Fähigkeiten derart gesteigert, daß darüber hinaus bei der geringsten Übererregung die Natur versagen mußte; die Liebe hat ihn also zerbrochen oder hat ihn zu einer neuen Ausdrucksform erhoben, die wir vielleicht verleumden, wenn wir sie benennen, ohne sie zu kennen. Vielleicht sah er in dem Glück seiner Ehe ein Hindernis für die Vervollkommnung seiner inneren Sinne und für seinen Flug durch die geistigen Welten?«

      »Mein lieber Herr«, entgegnete der Greis, nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, »Ihre Schlußfolgerungen sind sicher sehr logisch; aber selbst wenn ich sie verstände, würde mich dieses traurige Wissen über den Verlust meines Neffen trösten?«

      Der Onkel Lamberts war einer von den Menschen, die nur durch das Gefühl leben.

      Am nächsten Tag brach ich nach Villenoix auf. Der gute Alte begleitete mich bis an das Tor von Blois. Als wir auf dem Wege waren, der nach Villenoix führt, blieb er stehen und sagte:

      »Sie werden begreifen, daß ich nicht dorthin gehe. Aber vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. In Gegenwart von Fräulein von Villenoix tun Sie so, als merkten Sie nicht, daß Louis wahnsinnig ist!« Er blieb unbeweglich an der Stelle stehen, an welcher ich ihn verlassen hatte und von wo er mir nachsah, bis er mich aus den Augen verlor. Ich ging nicht ohne große Erregung auf das Schloß von Villenoix zu. Meine Gedanken wuchsen mit jedem Schritt auf diesem Wege, den Louis so oft zurückgelegt hatte, das Herz voller Hoffnung, die Seele aufgewühlt durch die Erregung der Liebe. Die Bäume und Sträucher, die Abwechselungen dieses gewundenen Weges, der zu beiden Seiten durch kleine Schluchten unterbrochen war, bekamen ein eigenes Interesse für mich. Ich wollte in ihnen die Eindrücke und Gedanken meines armen Freundes wiederfinden. Zweifellos hatten die abendlichen Gespräche am Rande dieser Hecke, bis zu der ihm seine Geliebte entgegenkam, Fräulein von Villenoix in die Geheimnisse dieser edlen und weiten Seele eingeweiht, wie es Jahre vorher auch mir geschehen war.

      Aber was mich am meisten beschäftigte und meiner Pilgerfahrt neben den fast religiösen Gefühlen, die mich leiteten, beinahe einen Anstrich von Neugier gab, war dieser wunderbare Glaube von Fräulein von Villenoix, von dem der Greis mir erzählt hatte: war sie mit der Zeit von dem Irrsinn ihres Geliebten angesteckt worden, oder war sie so tief in seine Seele eingedrungen, daß sie alle Gedanken verstand, selbst die verwirrtesten? Ich verlor mich in diesem wunderbaren Gefühlsproblem, das die schönsten Eingebungen und die schönste Aufopferung der Liebe noch übertraf. Denn daß einer für den andern starb, war ein fast gewöhnliches Opfer. Aber für eine einzige Liebe treu leben, ist ein Heroismus, der einst Fräulein Dupuis unsterblich gemacht hat. Wenn der große Napoleon und Lord Byron dort Nachfolger hatten, wo sie geliebt hatten, dann darf man die Witwe Bolingbrokes bewundern; aber während Fräulein Dupuis von der Erinnerung an mehrere Jahre des Glückes zehren konnte, hatte Fräulein von Villenoix nur die Liebe in ihren ersten Erregungen gekannt und war für mich daher der Typ von einer Aufopferung im weitesten Sinne des Wortes. War sie selbst fast irrsinnig geworden, so war sie erhaben; aber verstand, erklärte sie den Irrsinn, dann gesellte sie zu der Schönheit eines großen Herzens das Wunder einer Leidenschaft, die wert war, ergründet zu werden.

      Als ich die hohen Türme des Schlosses sah, deren Anblick den armen Lambert so oft erregt haben mochte, klopfte mein Herz heftig. Ich hatte mich in sein Leben und in seine Lage hineinversetzt, indem ich mir alle Ereignisse unserer Jugend zurückrief. Endlich kam ich in einen großen stillen Hof und ging bis in die Vorhalle des Schlosses, ohne jemandem zu begegnen. Aus das Geräusch meiner Schritte kam eine alte Frau herbei, der ich den Brief übergab, den Herr Lefebvre an Fräulein von Villenoix geschrieben hatte. Bald kam dieselbe Frau zurück und führte mich in einen niedrigen Raum, der mit schwarzen und weißen Marmorfliesen ausgelegt war und dessen Fensterläden geschlossen waren; ganz im Hintergrund desselben erblickte ich endlich Louis Lambert.

      »Nehmen Sie Platz, mein Herr!« sagte eine sanfte Stimme zu mir, die mir tief ins Herz drang.

      Fräulein von Villenoix stand neben mir, ohne daß ich sie bemerkt hatte, und hatte mir geräuschlos einen Stuhl gebracht, auf den ich mich jedoch anfangs noch nicht setzte. Die Dunkelheit war so tief, daß mir Fräulein von Villenoix und Louis nur wie zwei dunkle Massen vorkamen, die sich von dem Hintergrund dieser dämmerigen Atmosphäre abhoben. Ich setzte mich nieder, von einem Gefühl ergriffen, wie es uns oft gegen unsern Willen unter den düsteren Bogen einer Kirche überkommt. Meine Augen, vom Sonnenlicht noch geblendet, gewöhnten sich nur langsam an diese künstliche Nacht.

      »Der Herr ist dein Schulfreund!« sagte sie zu ihm.

      Lambert antwortete nicht. Endlich konnte ich ihn sehen, und es bot sich mir ein Anblick dar, wie er sich einem für immer ins Gedächtnis eingräbt. Er stand und hatte beide Ellenbogen auf eine aus der Holztäfelung hervorspringende Leiste gestützt, sodaß sein Oberkörper unter der Last des nach vorn geneigten Kopfes nachzugeben schien. Sein Haar, das so lang war wie Frauenhaar, fiel auf seine Schultern und umgab sein Gesicht, daß es den Büsten glich, welche die großen Männer aus der Zeit Ludwigs XIV. darstellen. Sein Antlitz war vollkommen bleich. Er hatte die nicht zu bezwingende Angewohnheit, ein Bein gegen das andere zu reiben, wodurch ein gräßliches Geräusch entstand. Neben ihm auf einem Brett lag eine mit Moos gestopfte Matratze.

      »Er legt sich nur sehr selten hin«, sagte Fräulein von Villenoix zu mir, »aber wenn er es tut, dann schläft er immer gleich mehrere Tage hintereinander.«

      Louis blieb so, wie ich ihn jetzt sah, Tag und Nacht stehen, mit starren Augen, ohne, wie wir es zu tun pflegen, die Lider zu bewegen. Nachdem ich Fräulein von Villenoix gefragt hatte, ob ein

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