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war, und war versunken in dem Gefühl einer Zärtlichkeit, wie in einem bodenlosen Abgrund. In solchen Augenblicken verdichtete sich und verschmolz mein ganzes Leben, meine Gedanken und meine Kräfte zu dem, was man Begierde nennt; es gibt kein anderes Wort für diese namenlose Trunkenheit! Und jetzt kann ich Dir gestehen, daß ich an dem Tage, da ich die Hand zurückwies, die Du mir mit so schöner Geste reichtest – was Dich an meiner Liebe zweifeln ließ – ich mich in einem Zustand des Wahnsinns befand, in dem man einen Mord ersinnt, um eine Frau zu besitzen. Ja, hätte ich Deinen Händedruck, den Du mir botest, ebenso tief gefühlt, wie Deine Stimme in meinem Herzen widerhallte, ich weiß nicht, wohin mich die Leidenschaftlichkeit meines Verlangens geführt hätte. Aber ich kann schweigend viel erdulden. Warum soll ich von meinen Schmerzen sprechen, da meine Sehnsucht Wirklichkeit geworden ist? Jetzt darf ich aus unserm ganzen Leben eine einzige Liebkosung machen! Liebe Geliebte, es liegt ein solcher Glanz aus Deinen schwarzen Haaren, daß ich mit Tränen in den Augen viele Stunden damit hätte zubringen können, Deine geliebte Gestalt anzuschauen, wenn Du mir nicht, Dich wegwendend, gesagt hättest: »Genug, Du machst mich schamrot!« Morgen wird also unsere Liebe bekannt! Ach, Pauline, die Blicke der andern, die allgemeine Neugier schnürt mir das Herz zusammen. Wir wollen nach Villenoix gehen und dort, fern von allen, bleiben. Ich wünschte, kein Geschöpf mit menschlichem Antlitz beträte das Heiligtum, in dem Du mein sein wirst; ich wünschte sogar, daß es nach uns nicht mehr bestünde, daß es zerstört würde. Ja, ich möchte vor der ganzen Natur ein Glück verbergen, das wir allein verstehen, das wir allein empfinden können und das so groß ist, daß ich mich hineinwerfen könnte, um zu sterben: es ist ein Abgrund. Erschrick nicht über die Tränen, die diesen Brief genetzt haben, es sind Freudentränen. Mein einziges Glück, wir werden uns also nie mehr verlassen!«

      Im Jahre 1825 fuhr ich mit der Post von Paris in die Touraine. In Mer nahm der Schaffner einen Fahrgast nach Blois auf. Er ließ ihn in den Teil des Wagens einsteigen, in dem ich mich befand, und sagte scherzend zu ihm: »Hier wird Sie niemand stören, Herr Lefebvre!« Und in der Tat, ich war der einzige Fahrgast. Als ich den Namen hörte und einen Greis mit weißen Haaren erblickte, der mindestens achtzig Jahre alt zu sein schien, mußte ich natürlich an Lamberts Onkel denken. Nach einigen einleitenden Fragen erfuhr ich denn auch, daß ich mich nicht geirrt hatte. Der Alte war zur Weinernte nach Mer gefahren und kehrte nun nach Blois zurück. Sofort fragte ich ihn nach meinem ehemaligen »Gefährten«. Beim ersten Wort wurde das Gesicht des alten Oratorianers, das schon an sich ernst und streng war wie das eines alten Soldaten, der viel gelitten hat, traurig und düster; die Falten auf seiner Stirn zogen sich leicht zusammen; er preßte die Lippen aufeinander, sah mich mit einem fragenden Blick an und sagte dann zu mir: »So haben Sie ihn denn seit der Schule nicht wiedergesehen?«

      »Nein«, antwortete ich ihm. »Aber wir sind alle beide Schuld daran, daß wir uns vergessen haben. Sie wissen, junge Leute führen ein so abenteuerliches und unruhiges Leben, wenn sie von der Schulbank kommen, daß man sich erst wiederfinden muß, um zu wissen, wie sehr man sich noch liebt. Doch manchmal kommen einem die Jugenderinnerungen zurück, man kann einander nicht ganz vergessen, besonders, wenn man so eng miteinander befreundet war wie Lambert und ich. Man nannte uns ›Der Dichter-und-Pythagoras‹.«

      Ich nannte ihm meinen Namen, und als er ihn hörte, verdüsterte sich sein Gesicht noch mehr.

      »So kennen Sie also seine Geschichte nicht?« begann er wieder. »Mein armer Neffe wollte die reichste Erbin von Blois heiraten, aber am Vorabend seiner Hochzeit wurde er irrsinnig!«

      »Lambert irrsinnig!« schrie ich vor Entsetzen aus. »Und wodurch? Er besaß den reichsten Geist, den gescheitesten Kopf, das schärfste Urteil, das mir je begegnete. Ein schöner Genius, der vielleicht nur einen zu großen Hang zur Mystik hatte; aber das beste Herz von der Welt! So ist ihm denn etwas ganz Außergewöhnliches zugestoßen?«

      »Ich sehe, daß Sie ihn gut gekannt haben,« sagte der Greis.

      Und so sprachen wir denn von Mer bis Blois von meinem armen Kameraden und machten lange Abschweifungen, durch die ich die Einzelheiten erfuhr, die ich zu dieser Erzählung geordnet habe. Ich berichtete seinem Onkel von unsern geheimen Studien, von der Art der Beschäftigung seines Neffen, und der Greis erzählte mir die Ereignisse in Lamberts Leben, seitdem ich ihn verlassen hatte. Nach Herrn Lefebvre hatte Lambert schon vor seiner Heirat Anzeichen von Wahnsinn gehabt; aber da er diese Symptome mit allen jenen teilte, die leidenschaftlich lieben, so erschienen sie mir weniger charakteristisch, als ich von der Heftigkeit seiner Liebe erfuhr und Fräulein von Villenoix kennen lernte. In der Provinz, wo Ideen etwas so seltenes sind, mußte ein Mensch, der wie Louis von neuen Gedanken und von einem System erfüllt war, zum mindesten für einen Sonderling gelten. Seine Art zu sprechen mußte Erstaunen erregen, umso mehr, da er überhaupt wenig sprach. Louis sagte zum Beispiel: »Dieser Mensch ist nicht aus meinem Himmel«, wo andere sagen würden: »Wir werden keinen Scheffel Salz zusammen essen.« Jeder Mensch von Talent hat seine besonderen Eigenheiten. Je größer das Genie ist, desto auffallender sind die Eigentümlichkeiten, die die verschiedenen Grade von Originalität ausmachen. In der Provinz gilt ein Original für halb verrückt. Die ersten Worte von Herrn Lefebvre ließen mich also an dem Irrsinn meines Schulfreundes zweifeln. Während ich dem Greis zuhörte, kritisierte ich im Innern seine Erzählung. Der ernsteste Vorfall hatte sich ein paar Tage vor der Hochzeit der beiden Liebenden ereignet. Louis hatte ein paar charakteristische Anfälle von Starrsucht gehabt. Neunundfünfzig Stunden war er unbeweglich geblieben mit starren Augen, ohne zu sprechen und zu essen; ein rein nervöser Zustand übrigens, in den bestimmte Menschen zu Zeiten heftiger Leidenschaft verfallen können; ein seltenes Phänomen jedoch, dessen äußere Anzeichen den Ärzten aber durchaus bekannt sind. Das Merkwürdige war nur, daß Louis nicht schon früher Anfälle dieser Krankheit gehabt hatte, da sein Hang zur Ekstase und die Art seines Denkens ihn dafür wie geschaffen sein ließen. Aber seine äußere wie innere Konstitution war so stark, daß sie bis dahin dem übergroßen Kräfteverbrauch wohl standgehalten hatte. Die gewaltige Erregung, die ihm die Erwartung der höchsten physischen Lust verursachen mußte, die bei ihm noch durch die Keuschheit des Körpers und die Stärke der Seele gesteigert war, hatte diese Krisis herbeigeführt, deren Wirkungen ebenso wenig bekannt sind wie ihre Ursachen. Die Briefe, die der Zufall aufbewahrt hat, beweisen übrigens deutlich den Übergang von dem reinen Idealismus, in dem er lebte, zur heftigsten Sinnlichkeit. Früher waren uns diese Art Phänomene bewundernswert erschienen, denn Lambert hatte in ihnen die gelegentliche Scheidung unserer beiden Naturen erblickt und die Symptome eines völligen Fehlens jenes »inneren Wesens«, das sonst seine unbekannten Fähigkeiten unter der Herrschaft einer unerforschten Ursache entfaltet. Diese Krankheit nun, die ein ebenso tiefer Abgrund war wie der Schlaf, hing mit den Beweisführungen zusammen, die Lambert in seiner »Abhandlung über den Willen« gebracht hatte. Als mir Herr Lefebvre von dem ersten Anfall Louis' sprach, entsann ich mich plötzlich einer Unterhaltung, die wir nach der Lektüre eines medizinischen Buches über den gleichen Gegenstand gehabt hatten.

      »Ein tiefes Nachdenken, eine schöne Ekstase sind vielleicht«, so hatte er damals abschließend gesagt, »der Anfang von Starrsucht.«

      An dem Tage, da er diesen Gedanken so kurz ausdrückte, hatte er versucht, die Phänomene des Geistes durch eine Kette von Wirkungen miteinander zu verbinden, wobei er Schritt für Schritt alle Auswirkungen der Intelligenz verfolgte und bei den einfachen Bewegungen des rein tierischen Instinktes begann, der so vielen Wesen genügt, vor allem gewissen Menschen, deren Kräfte in einer rein mechanischen Arbeit aufgehen. Dann ging er zur Verbindung der Gedanken über und kam so zum Vergleich, zur Reflexion, zur Meditation und schließlich zur Ekstase und zur Starrsucht. Lambert glaubte mit dem kindlichen Selbstbewußtsein der Jugend, den Plan zu einem schönen Buche entworfen zu haben, wenn er aus diese Weise die verschiedenen Stufen der inneren Kräfte des Menschen staffelförmig aufstellte. Ich besinne mich, daß wir durch einen jener Zufälle, die an Prädestination glauben lassen, das große Martyrologium in die Hände bekamen, in dem die merkwürdigsten Tatsachen über die völlige Abtötung des Körpers stehen, zu der der Mensch in den Paroxysmen seiner inneren Fähigkeiten gelangen kann. Während Lambert über die Wirkungen des Fanatismus nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß die Gesamtheit der Ideen, denen wir den Namen Gefühle geben, sehr gut die materielle Auswirkung irgend eines Fluidums sein könnte, das die Menschen mehr oder minder reichlich hervorbringen, nach Art ihrer Organe, die die zeugenden Substanzen aus dem

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