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meines Freundes sehen. Ach, er hatte schon tiefe Runzeln und weiße Haare, in seinen Augen war kein Glanz mehr, sie waren glasig geworden wie die eines Blinden. Alle Züge schienen wie durch einen Krampf nach oben gezogen. Ich versuchte mehrmals, mit ihm zu sprechen, aber er hörte mich nicht. Er war eine irdische Hülle, die man dem Grab entrissen hatte, ein Beutestück, das das Leben dem Tod oder der Tod dem Leben abgerungen hatte. Wohl eine Stunde lang war ich in eine unerklärliche Träumerei versunken, in tausend traurige Gedanken. Ich hörte Fräulein von Villenoix zu, die mir in allen Einzelheiten von diesem wieder zum Kinde gewordenen Manne erzählte. Plötzlich hörte Louis auf, seine Beine aneinander zu reiben, und sagte mit langsamer Stimme: »Die Engel sind weiß«.

      Ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den dieses Wort auf mich machte und der Klang dieser so geliebten Stimme, deren schmerzlich erwarteter Ton mir nun für immer verloren schien. Ohne daß ich es hindern konnte, füllten sich meine Augen mit Tränen. Wie eine Ahnung fuhr es mir blitzschnell durch die Seele und ließ mich daran zweifein, ob Louis den Verstand auch wirklich verloren hätte. Zwar war ich sicher, daß er mich weder sah noch hörte, aber der Wohllaut seiner Stimme, der eine himmlische Glückseligkeit offenbarte, gab diesen Worten eine unwiderstehliche Macht. Sein Wort, eine unvollständige Offenbarung aus einer unbekannten Welt, klang in unsern Seelen wider wie das wunderbare Läuten einer Kirchenglocke in der tiefen Nacht. Es setzte mich nun nicht mehr in Erstaunen, daß Fräulein von Villenoix Louis geistig für völlig klar hielt. Vielleicht hatte das Leben der Seele das Leben des Körpers vernichtet. Vielleicht hatte seine Gefährtin, gleich mir, in jenem Augenblick eine unbestimmte Vorstellung von jener klingenden und blühenden Welt, die wir im weitesten Sinne »Himmel« nennen. Diese Frau, dieser Engel, blieb unentwegt dort vor einem Strickrahmen sitzen, und jedesmal, wenn sie die Nadel zog, blickte sie Lambert traurig und liebevoll zugleich an. Da ich außerstande war, dieses furchtbare Schauspiel noch länger zu ertragen – denn ich vermochte es nicht, wie Fräulein von Villenoix, alle seine Geheimnisse zu erraten – verließ ich den Raum, und wir gingen ein paar Augenblicke auf und ab, um von ihr und Lambert zu sprechen.

      »Natürlich muß Louis irrsinnig erscheinen,« sagte sie zu mir, »aber er ist es nicht, wenn das Wort irrsinnig sich nur auf diejenigen beziehen soll, deren Gehirn aus unbekannten Ursachen gestört ist und deren Handlungen unzusammenhängend erscheinen. Aber bei meinem Gatten ist alles logisch miteinander verknüpft. Wenn er Sie nicht physisch erkannt hat, so glauben Sie nicht, daß er Sie nicht gesehen habe. Ihm ist es gelungen, sich von seinem Körper loszumachen, und er sieht uns in einer anderen Form, ich weiß freilich nicht, in welcher. Wenn er spricht, sagt er wunderbare Dinge. Nur vollendet er oft durch das Wort eine Idee, die in seinem Geist begonnen hat, oder er beginnt einen Satz, den er dann im Geiste vollendet. Den anderen Menschen würde er geistesgestört erscheinen, mir, die ich in seinen Gedanken lebe, sind alle seine Ideen klar. Ich gehe den gleichen Weg, den sein Geist geht; und wenn ich auch nicht alle Umwege kenne, so treffe ich doch am Ziel mit ihm zusammen. Wem ist es nicht schon oft geschehen, daß er an etwas ganz Belangloses dachte und dabei, durch Ideen oder Erinnerungen veranlaßt, zu einem ernsten Gedanken geführt wurde? Ein Denker, der irgend ein nichtssagendes Wort – den unschuldigen Ausgangspunkt schnellen Denkens ausgesprochen hat, vergißt und verschweigt die abstrakten Folgerungen, die ihn zu seinem Schluß geführt haben, und er greift erst wieder nun Wort, um das letzte Glied dieser Kette von Reflexionen zu zeigen. Die gewöhnlichen Sterblichen, denen diese schnelle geistige Vision unbekannt ist, und die von der inneren Arbeit der Seele nichts wissen, lachen über den Träumer und behandeln ihn wie einen Irrsinnigen, wenn diese Art von Vergeßlichkeit oft bei ihm bemerkbar ist. Louis ist nun immer so: er bewegt sich unablässig im Raum des Gedankens und durchquert ihn mit der Schnelligkeit einer Schwalbe; ich kann ihm dabei folgen. Das ist die Geschichte seines Wahnsinns. Vielleicht wird Louis eines Tages in das Leben zurückkehren, in dem wir vegetieren; aber wenn er die Lust des Himmels atmen darf, ehe es uns verstattet ist, warum sollen wir da wünschen, ihn wieder unter uns zu sehen? Ich bin zufrieden, sein Herz klopfen zu hören; und mein ganzes Glück besteht darin, bei ihm zu sein. Ist er nicht ganz mein? In drei Jahren habe ich ihn zweimal für ein paar Tage ganz besessen: in der Schweiz, wohin ich ihn gebracht hatte, und in der Bretagne auf einer Insel, wo er Seebäder nehmen sollte. Ich bin zweimal überglücklich gewesen. Ich kann von Erinnerungen leben.«

      »Und schreiben Sie die Worte auf, die ihm entschlüpfen?« fragte ich sie.

      »Warum sollte ich das?« antwortete sie.

      Ich schwieg. Unser menschliches Wissen war so klein vor dieser Frau.

      »In der ersten Zeit,« begann sie von neuem, »wenn er sprach, habe ich seine Sätze wohl festhalten können, aber dann habe ich aufgehört, es zu tun. Ich verstand damals nichts davon.«

      Ich bat sie mit einem Blick, den sie verstand. Hier folgt das, was ich der Vergessenheit habe entreißen können.

I.

      Hienieden ist alles das Produkt einer »ätherischen Substanz«, der gemeinsamen Basis mehrerer Phänomene, die unter den unzulänglichen Namen »Elektrizität«, »Wärme«, »Licht«, »galvanisches und magnetisches Fluidum« bekannt sind. Die Gesamtheit der Wandlungen dieser Substanz schafft das, was man gemeinhin die Materie nennt.

II.

      Das Gehirn ist die Retorte, in die das »Tier« alles das hineinträgt, was, nach dem Vermögen dieses Apparates, jeder seiner Teile von dieser »Substanz« verarbeiten kann und ans dem es als Willen verwandelt wieder herauskommt.

      Der Wille ist ein Fluidum, das jedem Wesen, das mit Bewegung begabt, eigen ist. Daher die unzähligen Formen, nach denen das »Tier« strebt und die die Ergebnisse seiner Verbindung mit der »Substanz« sind. Seine Instinkte sind das Produkt der Notwendigkeit, das das Milieu, in dem es sich entwickelt, ihm auferlegt. Daher seine Verschiedenartigkeiten.

III.

      Im Menschen wird der Wille zu einer Kraft, die ihm eigen ist und die an Intensität diejenige aller Gattungen übertrifft

IV.

      Durch seine dauernde Nahrungsaufnahme ist der Wille mit der »Substanz« verbunden, die er in allen Wandlungen wiederfindet, indem er sie mit dem Gedanken durchdringt, welcher seinerseits ein besonderes Produkt des menschlichen Willens ist, der mit den verschiedenen Formen der Substanz in Verbindung steht.

V.

      Aus der größeren oder geringeren Vollkommenheit des menschlich en Organismus resultieren die unzähligen Formen, nach denen der Gedanke strebt.

VI.

      Der Wille äußert sich durch die Organe, die gewöhnlich die fünf Sinne benannt werden, aber nur ein einziger Sinn sind: die Fähigkeit zu sehen. Gefühl, Geschmack, Gehör und Geruch sind nur ein Sehen, das sich den Wandlungen der Substanz anpaßt, die der Mensch in seinen beiden Stadien aufnehmen kann: verwandelt und nicht verwandelt.

VII.

      Alle Dinge, die durch die Form in das Bereich des einzigen Sinnes, des Sehens, fallen, beschränken sich auf einige elementare Körper, deren Grundstoffe in der Luft und im Licht oder in den Grundstoffen von Luft und Licht enthalten sind. Der Ton ist eine Abwandlung der Luft, alle Farben sind Abwandlungen des Lichtes, jeder Duft ist eine Verbindung von Luft und Licht. So haben die vier Darstellungsarten der Materie, die sich auf den Menschen beziehen: der Ton, die Farbe, der Duft und die Form ein und denselben Ursprung. Denn der Tag wird nicht mehr fern sein, an dem man den Zusammenhang der Grundstoffe des Lichtes mit denen der Luft erkennen wird. Der Gedanke, der sich auf das Licht bezieht, drückt sich in dem Wort aus, das dem Reich des Klanges entlehnt ist. Für ihn rührt also alles von der Substanz her, deren verschiedene Formen sich nur durch die »Zahl« unterscheiden, durch eine gewisse »Dosierung«, deren Zusammenstellung die Individuen oder Dinge aus den sogenannten »Naturreichen« hervorbringen.

VIII.

      Wenn die Substanz in einer hinreichenden »Zahl« absorbiert ist, macht sie aus dem Menschen einen Apparat von gewaltiger Kraft, die mit dem Prinzip der Substanz selbst in Verbindung steht und auf die organisierte Natur in der Weise großer Ströme wirkt, die die kleinen aufnehmen. Das Wollen setzt diese Kraft in Bewegung, die vom Gedanken unabhängig ist und die durch ihre Konzentration einige der Eigenschaften der Substanz erhält, wie die Schnelligkeit des Lichtes und das Eindringen der Elektrizität, wozu man noch das hinzufügen muß, was sie selbst vermag. Es besteht aber im Menschen ein ursprüngliches und herrschendes Phänomen, das keine Analyse duldet. Man mag

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