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löste, würde nichts helfen: man braucht Geld, um gewisse Experimente zu machen. Sonst würde ich gern die äußere Armut des Denkers, dem Erde und Himmel gehört, auf mich nehmen. Um groß im Elend zu sein, genügt es, sich niemals zu erniedrigen. Der Mensch, der kämpft und leidet, während er auf ein großes Ziel losgeht, bietet sicher ein schönes Schauspiel; aber wer hat hier Kraft, um zu kämpfen? Man erklimmt Felsen, denn man kann nicht immer im Schmutz waten. Hier aber wird jeder Geist, der der Zukunft zustrebt, in seinem graden Flug zu ihr entmutigt. In einer Höhle der Wüste würde ich mich nicht so fürchten, wie ich mich hier fürchte; in der Wüste wäre ich allein mit mir, ohne Ablenkung; hier empfindet der Mensch eine Menge Bedürfnisse, die ihn erniedrigen. Wer hier ausgeht, in Träume und Gedanken vertieft, den ruft die Stimme des Armen, der um einen Almosen bittet, wieder mitten in diese Welt des Hungers und des Durstes zurück. Man braucht schon Geld, um spazieren zu gehen. Der Organismus, unablässig durch Nichtigkeiten ermüdet, ruht sich nie aus. Die nervöse Konstitution des Dichters wird hier unablässig erschüttert, und was sein Ruhm sein sollte, wird seine Qual: seine Phantasie ist seine ärgste Feindin. Der verunglückte Arbeiter, die arme Wöchnerin, die krankgewordene Dirne, das verlassene Kind, der kranke Greis, das Laster, ja selbst das Verbrechen finden hier ein Asyl und Pflege; aber für den Erfinder, für den Menschen, der nachdenkt, ist die Welt mitleidslos. Hier muß alles einen sofortigen, greifbaren Erfolg haben; über anfangs unfruchtbare Versuche, die aber zu den größten Entdeckungen führen können, macht man sich lustig und man achtet das anhaltende und eingehende Studium nicht, das eine lange Konzentration der Kräfte verlangt. Der Staat sollte das Talent besolden, wie er den Soldaten bezahlt, aber er fürchtet, von dem intelligenten Menschen übervorteilt zu werden, als ob das Genie lange zu unterdrücken wäre! Ach, lieber Onkel, wenn man schon die klösterliche Einsamkeit am Fuße der Berge, unter grünen und stillen Schatten, zerstört hat, sollte man da nicht Hospize für leidende Seelen errichten, die mit einem einzigen Gedanken ganze Völker befruchten oder den Fortschritt einer Wissenschaft verbreiten?

20. September

      Das Studium hat mich, wie du weißt, hierher geführt. Ich habe hier Menschen gefunden, die in der Mehrzahl wirklich und erstaunlich gebildet sind. Aber das Fehlen jeder Einheitlichkeit in den wissenschaftlichen Arbeiten macht fast alle Versuche zunichte. Weder Unterricht noch Wissenschaft haben Führer. Im Museum beweist einem ein Professor, daß der andere in der Rue Saint-Jacques einem die absurdesten Dinge gesagt habe. Der Lehrer an der École de Médecine gibt demjenigen vom Collège de France eine Ohrfeige. Als ich hier ankam, hörte ich einen alten Akademiker, der fünfhundert jungen Leuten beibrachte, daß Corneille ein gewaltiges und erhabenes Genie sei, Racine elegisch und zart. Molière unnachahmlich, Voltaire eminent geistvoll, Bossuet und Pascal unerhört groß. Ein Philosophieprofessor wird dadurch berühmt, daß er erklärt, wie Platon Platon sei. Ein anderer trägt die Entwicklung des Wortes vor, ohne dabei an die Idee zu denken. Dieser erklärt Äschylus, jener beweist erfolgreich, daß die Kommunen nichts anderes sind als eben Kommunen. In diesen neuen und geistvollen Bemerkungen, die einem ein paar Stunden lang vorgetragen werden, besteht der hohe Unterricht, der das Wissen der Menschen mit Riesenschritten vorwärtsbringen soll. Wenn die Regierung eines Gedankens fähig wäre, ich hätte sie im Verdacht, daß sie Angst hat vor den wirklich Überlegenen, die, einmal erwacht, die Gesellschaft unter das Joch einer Geistesmacht stellen würden. Die Völker würden zu bald zu weit vorwärts kommen; daher sind die Professoren beauftragt, Dummköpfe zu erziehen. Wie könnte man sonst einen Lehrerstand erklären, der weder Methode noch eine Idee von der Zukunft hat? Das Institut könnte über die geistige und ethische Welt herrschen; aber erst kürzlich nahm man ihm alle Macht, indem man es durch Statuten in einzelne Akademien zerspaltete. Die menschliche Wissenschaft ist also ohne Führer und ohne System und hängt in der Lust ohne vorgeschriebenen Weg. Dieses Gehenlassen, diese Unsicherheit besteht sowohl in der Politik wie in der Wissenschaft. In der natürlichen Ordnung der Dinge sind die Mittel einfach, ist das Ziel groß und wunderbar; hier in der Wissenschaft wie bei der Regierung sind die Mittel unermeßlich groß, das Ziel dagegen winzig. Diese Kraft, die in der Natur mit gleichmäßigem Schritt vorwärts geht und deren Summe sich dauernd selbst erhöht, dieses A plus A, das alles hervorbringt, wirkt in der Gesellschaft zerstörend. Die gegenwärtige Politik stellt die menschlichen Kräfte einander gegenüber, um sie zu neutralisieren anstatt sie für ein Ziel zu verbinden, damit sie zusammen arbeiten. Wenn ich nur Europa betrachte, so erkenne ich von Cäsar bis Konstantin, vom kleinen Konstantin bis zum großen Attila, von den Hunnen bis zu Karl dem Großen, von Karl dem Großen bis Leo X., von Leo X. bis Philipp II., von Philipp II bis Ludwig XIV., von Venedig bis England, von England bis Napoleon, von Napoleon wieder bis England keine Beständigkeit in der Politik, und ihre dauernde Beweglichkeit hat keine Fortschritte gezeitigt. Die Nationen bezeugen ihre Größe durch Monumente und ihr Glück durch persönliches Wohlbefinden. Sind nun die modernen Denkmäler den alten ebenbürtig? Ich bezweifle es. Die Künste, die unmittelbar am einzelnen Menschen teilhaben, die Erzeugnisse seines Geistes und seiner Hände haben wenig Fortschritte gemacht. Die Genüsse des Lucullus sind ebenso viel wert wie die eines Samuel Bernard, eines Beaujon oder des Königs von Bayern. Die lange Lebensdauer des Menschen hat abgenommen. Wollen wir also ehrlich sein, so hat sich nichts geändert, der Mensch ist immer der gleiche: die Kraft ist immer sein einziges Gesetz, der Erfolg seine einzige Weisheit. Jesus Christus, Mohammed und Luther haben nichts anderes getan, als den Kreis, in dem die jungen Völker sich entwickelt haben, verschieden zu färben. Keine Politik hat die Zivilisation mit all ihren Reichtümern, ihren Sitten, ihrem Vertrag zwischen den Starken gegen die Schwachen, ihren Ideen und Begierden daran gehindert, von Memphis nach Tyrus, von Tyrus nach Baalbeck, von Tadmor nach Karthago, von Karthago nach Rom, von Rom nach Konstantinopel, von Konstantinopel nach Venedig, von Venedig nach Spanien, von Spanien nach England zu gehen, ohne daß heute von Memphis, Tyrus, Karthago, Rom, Venedig oder Madrid auch nur eine Spur übrig geblieben wäre. Der Geist dieser großen Körper ist entflohen. Keines konnte sich vor dem Untergang schützen und keines hat das Wort verstanden: »Wenn die hervorgebrachte Wirkung keine Beziehung mehr zu ihrer Ursache hat, dann entsteht Auflösung.« Das scharfsinnigste Genie kann keine Verbindung zwischen diesen großen sozialen Ereignissen entdecken. Keine politische Theorie war wirklich jemals lebendig. Die Regierungen vergehen wie die Menschen, ohne sich gegenseitig zu belehren; und kein System hat je ein vollkommeneres erzeugt. Was kann man von der Politik sagen, wenn auch die auf Gott gestützte Regierungsform in Indien und Ägypten untergegangen ist, wenn die Regierung von Säbel und Priesterbinde vorüberging, wenn die Regierung eines Einzelnen nicht Bestand hatte, wenn die Regierung Aller nie lebensfähig war; wenn keine Form geistiger Kräfte, auf die materiellen Interessen angewendet, dauern konnte, sodaß alles heute wieder neu zu schaffen ist wie in all den Epochen, in denen der Mensch schrie: »ich leide!« – Der »Code«, den man als das größte Werk Napoleons ansieht, ist das drakonischste Werk, das ich kenne. Die Teilbarkeit des Grundbesitzes muß, wenn sie bis ins Unendliche getrieben wird, und die gleichmäßige Verteilung der Güter zum Prinzip hat, die Zerrüttung der Völker und den Tod der Künste und Wissenschaften zum Gefolge haben. Der Grund und Boden, der zu viel aufgeteilt wird, trägt nur Getreide und Gemüse; Wälder und Wasserläufe verschwinden; es wird weder Ochse noch Pferd aufgezogen. Es fehlen die Mittel zum Angriff wie zur Verteidigung. Kommt ein Überfall, dann wird das Volk vernichtet, es hat seine großen Hilfsquellen, seine Anführer verloren. Dann beginnt die Geschichte der Wüsten. Die Politik ist also eine Wissenschaft ohne feste Grundsätze, ohne mögliche Beständigkeit. Sie ist die Eingebung des Augenblicks, die dauernde Anwendung der Kraft, je nach der Forderung des Tages. Der Mann, der zwei Jahrhunderte weit schauen würde, würde auf dem Marktplatz unter den Verwünschungen des Volkes sterben oder würde – was mir noch schlimmer scheint – von den tausend Ruten der Lächerlichkeit geschlagen werden. Die Völker sind Individuen, die weder klüger noch stärker sind als der einzelne Mensch, und ihre Geschicke sind die gleichen. Wenn man über den einzelnen Menschen nachdenkt, heißt das nicht, sich mit den Völkern beschäftigen? Angesichts dieser Gesellschaft, die unablässig in ihren Grundlagen wie in ihren Auswirkungen, in ihren Beweggründen wie in ihren Handlungen erschüttert wird, für die die Philantropie ein wunderbarer Irrtum und der Fortschritt ein Unsinn ist, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß das Leben in uns ist und nicht außerhalb unser, daß sich über die Menschen erheben, um sie zu befehligen, die gewaltige Rolle eines großen Regenten ist, und daß die Menschen, die stark genug sind, um bis zu dem Punkte zu gehen, von wo aus sie die Welt überschauen

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